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Das war der Grund, warum sie nur ein Kind hatten. Ihr war kurz nach Kays Geburt klar geworden, dass sie bei seinen Anforderungen an sie nur mit Mühe zurechtkommen würde. Sie musste ständig das, was Kay brauchte, mit dem austarieren, was Oscar verlangte. Sollte sie mit ihm über Kays Widerspenstigkeit reden? Sie mied Oscar dieser Tage. Beinahe mit ihm ins Bett gefallen zu sein hatte sie genügend aufgeschreckt, so dass sie es seitdem eingerichtet hatte, ihn nicht zu sehen, außer für die paar Augenblicke, wenn er Kay abholte oder wieder ablieferte.
Kay erschien kurz vor sieben, zum Abendessen. »Wo warst du?« Louise folgte ihrer Tochter in deren Zimmer. »Warum hast du mich nicht abgeholt? Ich habe in der Pennsylvania Station über eine halbe Stunde auf dich gewartet.«
»Mutter, ich habe gestern Abend bis halb zwölf versucht, dich anzurufen, aber du warst nicht auf deinem Zimmer. Schließlich hat diese schreckliche Frau gesagt, ich soll nicht mehr anrufen. Hat sie dir nichts ausgerichtet?«
Louise hatte unten in der Bar gesessen, bis geschlossen wurde. Sie war mit Claude Martel zusammen gewesen, einem Filmregisseur, den sie im Statistischen Bundesamt kennengelernt hatte. »Die schlief schon, als ich kam – wir hatten eine Konferenz bis spät in die Nacht, um neue Richtlinien auszuarbeiten. Warum warst du nicht am Bahnhof? Du wusstest, dass ich mich auf dich verlassen habe.«
»Ich hatte eine Verabredung, die ich nicht absagen konnte.«
»Du kannst sehr wohl eine Verabredung absagen, wenn deine Mutter dir aufträgt, sie vom Zug abzuholen! Ich hatte tonnenweise Gepäck.«
»Mutter, ich verstehe einfach nicht, warum du so ein Geschrei machst! Du hast es doch geschafft – du bist da. Wenn du in deinem Hotelzimmer gewesen wärst, hättest du gestern Abend meine Nachricht bekommen.«
Louise sah im Geiste Claude Martel an dem Tischchen vor sich. Sie hatte mit einem Dramatiker aus dem Mitarbeiterstab geflirtet, aber das erste ernsthafte Tête-à-Tête mit Martel hatte diese zerbrechliche Konstruktion zertrümmert. Claude war Sohn einer rumänischen Jüdin, die einen französischen Geschäftsmann geheiratet hatte; die späten dreißiger Jahre hatten Claude nach Hollywood gebracht, wo er sich als meisterhafter Tonfilmregisseur erwiesen hatte. Jetzt war er bei Universal. Sie schätzte sein Alter auf fünfundvierzig. Dynamisch, magnetisch, dunkelhaarig, helläugig, war er der erste Mann, der sie seit Oscar anzog. Gegenüber ihrer Tochter hatte sie ein etwas schlechtes Gewissen, so lange mit ihm zusammengesessen zu haben, über den Flirt hinaus in die Erkundung. Er hatte gesagt, er würde Mitte des Sommers in New York sein und sich dann mit ihr treffen. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sie war überzeugt, er begegnete einer Vielzahl von Frauen, die jünger waren und wesentlich aufsehenerregender aussahen als sie. Trotzdem war es beruhigend, ihre Anziehungskraft zu spüren, es nahm ihr die Furcht, grundsätzliche Treue zu Oscar könnte auf ewig ihr Los sein. Dieser Abend gab ihr ein Gefühl von Dichte und Schwere, sinnlicher als die paar Mal im Bett mit Dennis Winterhaven. Obwohl nichts weiter geschah als Reden und Händchenhalten, fühlte sie sich von Claude berührt wie von keinem anderen Mann seit Oscar. Deshalb befürchtete sie, dass ihre Tochter ihr diese Affäre vom Gesicht ablesen konnte, in deutlich geschriebenen Worten.
»Mrs. Shaunessy ruft uns, Mutter. Das Abendessen steht auf dem Tisch.«
»Ich möchte nicht, dass du ungezogen zu ihr bist, Kay. Du wirst dich mit ihr einigen, und du wirst freundlich zu ihr sein.«
»Sie ist nicht meine Mutter. Sie darf mich nicht herumkommandieren.«
»Sie ist mein Ersatz, wenn ich fort bin, und du wirst sie gut behandeln. Kay, du hast Mrs. Shaunessy immer lieb gehabt. Was soll diese verächtliche Haltung?«
»Du meinst die Zeit, als ich ein Kind war. Dabei ist sie nur eine Dienstbotin. Sie hat kein Recht, mit mir zu reden, wie sie es tut.«
»Sie ist eine Respektsperson, der Achtung gebührt, und sie kennt dich, seit du klein warst. Sie hat für dich gesorgt. Wo warst du heute Nachmittag?«
Kay warf sich schmollend auf einen Stuhl im Esszimmer. Oh Jugendzeit, oh Kinderkacke, dachte Louise. Ich hatte nie die Möglichkeit, solche Allüren zu haben und solche Anfälle zu kriegen. Vielleicht ist das ein Geschenk, das ich ihr mache, die Möglichkeit, emotional um sich zu schlagen, ohne dass es etwas kostet. Louise hasste Streit bei Tisch, so verschob sie die Auseinandersetzung, bis sie den Lammbraten genossen hatten, den Mrs. Shaunessy ergattert hatte. Gelbe Schwertlilien in einer blauen Vase. Louise war immer noch erleichtert, daheim zu sein, aber in ihr Glück mischte sich die Verärgerung über ihre Tochter.
Eine Haushälterin zu beschäftigen war eine heikle Angelegenheit für ihr Gewissen, aber sobald die Entscheidung einmal getroffen war, hatte sie sich rasch daran gewöhnt. Ohne Mrs. Shaunessy hätte sie nur halb so viel geschafft. Vor langer Zeit hatten sie ihren Umgang miteinander festgelegt. Sie siezten sich und plauschten nicht. Mrs. Shaunessy klatschte mit ihren Freundinnen, die in anderen Haushalten im gleichen großen Mietshaus arbeiteten. Mrs. Shaunessys Zimmer war für alle Übrigen tabu, und was sie ihnen kochte, aß sie in der Küche – wo auch Louise aß, wenn sie allein war, und wo Kay aß, wenn Louise nicht da war. Mrs. Shaunessy hatte mittwochnachmittags und sonntags frei, wo sie ausnahmslos den Zug in das Fünf-Städte-Gebiet auf Long Island nahm, um die eine oder die andere ihrer verheirateten Töchter zu besuchen.
Dennoch fasste Louise die Widersprüche ihres Lebens in einem Satz zusammen, den sie sich einmal hatte sagen hören: »Sag bitte Mrs. Shaunessy, sie soll den Daily Worker auf den Couchtisch legen.« Sie war eine Sympathisantin, die der Kommunistischen Partei nie beigetreten war, weil es für sie stets einen Teil der momentan gerade gültigen Parteilinie gab, mit dem sie nicht einverstanden war. Stets hatte sie Bedenken, Vorbehalte, Einwände. Es war ein langer Flirt gewesen, doch falls nicht entweder sie oder die Partei sich drastisch änderte, würde sie wohl nie schwören zu lieben, zu ehren und zu gehorchen. Der Hitler-Stalin-Pakt besiegelte und verplombte ihre Entscheidung wie einen endgültig zuplombierten Zahn.
Sie bereitete den Kaffee und trug ihn ins Wohnzimmer, wie sie es immer tat. Sie fand, mit dem Abwasch des Geschirrs vom Abendessen sollte Mrs. Shaunessys Arbeitstag beendet sein. Kay hatte in letzter Zeit begonnen, Kaffee zu trinken. »So, wo warst du heute Nachmittag, Kay?« Sie gab sich Mühe, forsch zu klingen, fest.
»Ich hatte ein Rendezvous.«
»Ein was?« Aber sie hatte Kay deutlich gehört. »Mit wem?«
Kay warf die Haare in den Nacken. Sie reckte das Kinn in die Höhe und hielt die Wimpern auf Halbmast, zweifellos imitierte sie irgendeinen Filmstar. »Er heißt Andy.« Als Louise ihren strengen Blick nicht abwandte, fügte sie hinzu: »Andy Bates.«
»Sprich weiter. Wo hast du ihn kennengelernt und wer ist er und warum hast du nicht vorher mit mir darüber geredet?« Louise hatte den sauren Gedanken, wenn sie ihre Kindheit in einem Roman von Dickens verbracht hatte, so schien die ihrer Tochter in Filmschnulzen zu baden.
»Ich bin sechzehn, Mutter, ich bin jetzt erwachsen, und es wird Zeit, dass du das zur Kenntnis nimmst. Mädchen werden in Kriegszeiten schneller erwachsen.« Kay lauschte mit einiger Zufriedenheit, wie sich das anhörte.
»Seit letzter Woche bist du erwachsen? Erstaunlich. Und wer ist dieser Andy Bates?«
»Er ist bei der Marine.«
»Oh nein! Ein Matrose? Wo zum Teufel lernst du Matrosen kennen?«
»Vor dem Rekrutierungsbüro. Wir sind zu jung, um hineinzugehen, aber wir treffen uns draußen mit ihnen. Deine Haltung ist unpatriotisch, Mutter. Ich schäme mich für dich.«
»Ich schäme mich für dich, du gabelst auf der Straße einen Matrosen auf und willst mir weismachen, das sei Teil der Kriegsanstrengungen. Was hast du mit ihm gemacht?«
»Wirklich, Mutter, du hörst dich an wie eine viktorianische Matrone, die mir gleich die Tür weisen wird. Ich bin zu einer Doppelverabredung mit ihm zum Zoo im Central Park und dann auf dem See rudern gegangen. Mit seiner Freiheit ist es vorbei. Ich habe versprochen, ihm zu schreiben, aber ich werde ihn erst in einigen Monaten wiedersehen, falls er nicht vorher in Stücke gerissen wird.«
»Kay, er mag ein netter junger Mann sein, aber du kannst nicht Männer auf der Straße aufgabeln und erwarten, dass sie sich anständig verhalten. Du hast überhaupt keine Ahnung, in was du da geraten kannst. Manche Männer sind durchaus bereit, Gewalt anzuwenden –«
»Wirklich, Mutter, heutzutage treffen sich alle zwanglos, und wenn du ehrlich glaubst, er wollte mich mitten im Zoo schänden –«
»Du weißt gar nicht, was das Wort bedeutet! Ich wünsche nicht, dass du dich vor dem Rekrutierungsbüro herumtreibst und dich in Schwierigkeiten bringst. Und wenn ich dich jeden Tag von der Schule abholen und nach Hause bringen muss, dann werde ich das tun.«
»Mutter! Willst du, dass ich vor Blamage sterbe? Ich höre mit der Schule auf, wenn du mich so behandelst.«
»Das bezweifle ich. Du würdest dich zu Hause ganz schön langweilen. Hör zu, Kay, wenn du meinst, du bist alt genug für Verabredungen, dann nur an Wochenenden, und ich möchte die jungen Männer kennenlernen.« Sie hörte sich an wie eine Tugendwächterin, und es war ihr egal. In Kays Alter hatte sie einen geschärften Sinn dafür gehabt, welche Männer gefährlich waren und welche nicht, ein Wissen, vor dessen Erwerb sie Kay immer beschützt hatte; auch wünschte sie Kay nicht, die Männer, denen sie begegnete, auf ihr Potenzial zu brutaler Gewalt abschätzen zu müssen.
Sollte sie nicht Oscar zu Rate ziehen? Vielleicht war er in der Lage, Kay wesentlich wirksamer ins Gewissen zu reden, als sie es konnte; womöglich gelang es ihm, sie so zu beschämen, dass sie sich weniger leichtsinnig verhielt. Louise hatte das Gefühl, ihn hineinziehen zu müssen, wollte sich aber nicht in die gefährlichen Ranken von Oscars Aufmerksamkeit verwickeln. Bestimmt konnte sie mit Kay alleine fertig werden, sich für immer von ihm freimachen.
Sie saß bei zugezogenen Verdunkelungsvorhängen in ihrem Bett und las Saint-Exupérys Flug nach Arras. Dennis hatte ihr den Roman an jenem Abend gegeben, als sie ihn nicht davon abhalten konnte, ihr einen Heiratsantrag zu machen und sich dann verletzt zurückzuziehen. Plötzlich klingelte das Telefon.
Sie runzelte die Stirn. Spät für einen Anruf. Es war ein Ferngespräch. Als sie die Stimme mit dem französischen Anklang hörte, verschwand ihre Verärgerung. »Claude! Wo bist du?«
»Ich bin immer noch in Washington. Aber ich habe meinen Terminplan geändert. Morgen nehme ich den Zug nach New York, wo ich auch den Abend verbringe, und wir treffen uns, einverstanden? Kannst du absagen, was du vorhast, und kommen? Denn am nächsten Vormittag muss ich zurück an die Westküste.«
»Morgen? Soll ich dich vom Zug abholen?«
»Nein, der wird überfüllt sein. Ich habe es so arrangiert, dass ich mich in New York mit unserem Geldmogul treffe. Irgendein Lakai wird mich abholen. Ich rufe dich am späten Nachmittag an und sage dir, wann wir essen gehen. Ist das gut?«
»Hört sich sehr gut an.«
»Ich konnte nicht bis zum Sommer warten, Louise, um unser Gespräch fortzusetzen. Ich halte es für dringend. Bist du dafür?«
»Ich bin dafür, dich morgen zu treffen, Claude. Und jetzt gute Nacht.« Sie hatte sich im Verdacht, Claude unweigerlich in die Arme zu fallen, wenn er sie nur heftig genug bedrängte. Offensichtlich hatte sie auf ihn Eindruck gemacht, wie er auch auf sie, aber würde das zweite Treffen neben dem ersten bestehen? Mach dir keine Gedanken, befahl sie sich und knobelte, wie sie in ihren bereits engen Zeitplan einen Friseurtermin einarbeiten konnte und mit welcher Ausrede sie darum herumkam, mit ihren Freunden, den Bauers, Katherine Cornell in Shaws Candida anzuschauen, nachdem es so schwer gewesen war, dafür Karten zu ergattern. Sie musste Kay an ihrer Stelle hinschicken und unerwartete Arbeit für den Ausschuss vorschützen. Die Bauers waren es gewohnt, dass ihre Freunde nach Washington gerufen wurden und bei Bundesdienststellen ehrenamtliche Posten übernahmen. Sie würden ihren Termindruck nicht hinterfragen. Ihr kam die Idee, sich morgen früh von Kay beim Sortieren der Unterlagen aus dem Karton helfen zu lassen, was Kay von der Wahrheit ihrer Geschichte zu überzeugen versprach. Der Weg war frei für Torheiten.
Ich bin Oscar nicht nur in der Ehe treu gewesen, sondern auch noch lange danach, selbst wenn ich mich gelegentlich wie ein Packen frisch gewaschener, unsortierter Wäsche in das Bett eines anderen Mannes fallen lasse. »Ich war dir treu, Cynara, auf meine Weise.« Louise lächelte bei dem Gedanken an dieses schwer atmende Gedicht ihrer Jugend, das unter den literarisch interessierteren und emanzipierteren Koedukationsschülerinnen herumgereicht wurde, weil sie es erotisierend fanden, bis sie Joyce und Hemingway entdeckten. Claude hatte Oscars Kaliber, und selbst ein kurzer Galopp mit ihm tat ihrem Sinn für sich selbst und ihre Möglichkeiten bestimmt gut. Louise seufzte und fragte sich, ob sie sich nicht lieber auf schwüle Romane hätte werfen sollen statt auf stromlinienförmige Kurzprosa, denn in keiner ihrer Geschichten durften ihre Heldinnen den Hochofen sexueller Lust durchleben, der da im Zentrum toste und mit seiner Energie ihr Leben speiste.
Louise war zu aufgeregt, um schlafen zu können, wollte aber anderntags blendend aussehen. Schließlich kramte sie in einer Schublade nach einer Schlaftablette. Sie hatte seit den Monaten nach Oscars Auszug keine mehr genommen. Sie konnte sich an ihren unglücklichen Zustand erinnern, aber heute Abend hatte sie eine Vogelperspektive auf diese Hölle, säuberlich wie Flickenteppichfelder weit unter ihr. Wenn sie heute Abend eine Einschlafhilfe brauchte, dann nicht, weil ihr Leben ihr entleert vorkam, sondern übervoll.
Als sie erwachte, erinnerte sie sich an zwei sexuelle Träume. Darin hatte sie nicht mit Oscar geschlafen, der ihr Traumleben immer noch zu dominieren schien, auch nicht mit gesichtsloser Jugend, jung Tausendlieb, der manchmal Oscar ersetzte. Sie hatte geträumt, Körper an Körper nackt mit Claude zu liegen, einmal und dann noch einmal, und als sie nun aufstand, um sich ihrem Tag zu stellen, ertappte sie sich dabei, dass sie an ihn bereits als ihren Liebhaber dachte, als einen Mann, der ihr schon zweimal Genuss bereitet hatte.
Naomi 2
Ab heute bist du eine Frau
Es passierte in der Schule, als Naomi in der Turnstunde draußen Baseball spielte. Sie war ans entfernteste Laufmal gestellt worden, weit weg vom Schläger, wo ihre einzige Angst war, der Ball könnte plötzlich auf sie zufliegen. Baseball war für sie ein fremdes Spiel. Sie holte nach dem Ball aus, wenn sie mit Schlagen dran war, und wenn sie ihn manchmal traf, so war das reine Glückssache. Sie hatte gelernt, dann ganz schnell zu rennen, und sie wusste, wo sie zuerst hinrennen musste und wohin dann.
Wenn dem Ball jedoch einfiel, direkt auf sie zuzukommen, dann wusste sie sich keinen Rat, was sie tun sollte. Dann stand sie mit hochgestreckten Armen da, und manchmal drehte der Ball unversehens ab und sprang an ihr vorbei, oder er schwebte über ihrem Kopf und plumpste auf sie herunter, oder er traf ihre ausgestreckten Arme, prallte gemein ab und hopste weg. Draußen im Gras des Außenfeldes betete sie, dass der Ball sich heute nicht sie als Zielscheibe suchte.
Den ganzen Frühling über hatte es geregnet, aber heute schien die Sonne und der Himmel war blau, verschmiert vom gelbbraunen Dunst aus den Fabriken. Löwenzahn blühte auf dem Außenfeld. Auf Französisch hieß er pissenlit, piss ins Bett, aber es war die gleiche Blume. In früheren, besseren Frühlingen hatten sie die Blätter gegessen. Die Mädchen rieben sich gegenseitig die Blüten unters Kinn und sagten, das sei Butter.
Am Laufmal rechts von ihr stand Clotilde. Für Naomis Ohren war das ein ganz normaler Name gewesen, bis sie gehört hatte, wie die anderen Kinder Clotilde hänselten, ein Pummelchen mit hellbrauner, fast grauer Haut und Haaren, so kraus wie Naomis, nur noch ein bisschen dunkler. Clotilde sprach nicht wie die anderen farbigen Mädchen. Ihre Mutter zog ihr Kinderschürzen an, und sie trug ein kleines goldenes Kreuz an einer Halskette. Sie war katholisch, ging aber nicht auf die Konfessionsschule, hatte sie Naomi erklärt, weil da Polen waren, und das verstand Naomi sofort, denn die polnischen Kinder verprügelten die farbigen Kinder ebenso oft wie die jüdischen Kinder, und weder Juden noch Farbige waren in Hamtramck willkommen, der polnischen Stadt innerhalb von Detroit mit eigener Verwaltung.
Jetzt fiel Naomi auf, dass Clotilde zu ihr herübergetrieben war, wie sacht vom Wind angeweht. Clotilde schaute nicht zu ihr, sondern unglücklich zum Schlagmal, und hoffte bestimmt so inständig wie Naomi, dass nichts von dort auf sie zukam. Clotilde wurde immer als letzte der farbigen Mädchen aufgestellt, denn sie hatte keine sportlichen Neigungen oder Fähigkeiten.
»Tu es de Paris, vraiment?«, fragte Clotilde aus dem Mundwinkel.
Einen Augenblick war Naomi nicht sicher, dass Clotilde Französisch sprach, denn es war ein Singsangfranzösisch, einige Silben verschluckt, andere Silben so ausgesprochen, wie Naomi es nur in der Provence gehört hatte. Dann begann Naomi, auf sie einzureden, ein heftiger Sturzbach. »Wie kommt es, dass du Französisch sprichst? Sprecht ihr das in deiner Familie? Wo bist du her?«
»Doucement, doucement«, warnte Clotilde. »Du weißt doch, wir dürfen hier nur Englisch sprechen. Wir müssen leise sein. Aber ich bin auf Martinique geboren, wo ich auch viel Familie habe, und es ist sehr schön da, ohne Winter, und die Weißen da sind nicht so gemein wie hier. Ich weiß, wie sich alle über einen lustig machen, wenn man zu Hause nicht Englisch spricht.«
»Es ist so schön, Französisch zu sprechen, Französisch zu hören, ich könnte weinen!«
Dummerweise warf die Innenfeldfängerin die nächste Schlägerin hinaus und beendete ihr Gespräch. Naomi hockte im Löwenzahn, suchte nach einem, der schon eine Pusteblume hatte, und schaute, wann sie mit Schlagen dran war, da merkte sie, dass sie zwischen den Beinen nass war.
Hatte sie sich in die Hose gemacht? Sie wartete, bis sie am Ende der Turnstunde vom Platz hereinkam und die Hose auszog, die sie für die Schule hatte kaufen müssen, eine lange Turnhose in hässlichem Marineblau. Ein großer roter Fleck, Blut, groß wie ein Halbdollarstück. Ihr fiel eine Geschichte im Radio ein von einem kleinen Mädchen, das an Blutarmut starb und das Blut in den Ohren rauschen hörte. Dann fiel ihr ein, wie Jacqueline einmal eine Binde im Badezimmer gelassen hatte. Maman hatte Jacqueline geohrfeigt und einen Schmutzfink geschimpft, aber dann erklärte Maman Rivka und ihr, wie kleine Mädchen zu Frauen wurden.
Dann fragten sie Jacqueline allein. Sie lag auf dem Bett ihrer Eltern und las Sturmhöhe, einen englischen Roman. Maman und Papa waren bei der Arbeit. Jacqueline tat sehr wichtig. Es war nichts, sagte sie, obwohl einige Mädchen ein Riesengeschrei darum machten und den ganzen Tag lang mit Wärmflaschen rumlagen und viele Aspirin schluckten. Sie selbst fand es nur lästig. Aber es bedeutete, dass du eine Frau geworden warst. Es war wie eine private bar mizwa und echter, denn es geschah, wann G-tt wollte. Dann merktest du, wie du mit dem Mond zu- und abnahmst und wie deine Zeit an einem bestimmten Punkt im Mondzyklus kam.
Naomi wusste, dass die Mädchen andauernd über Regeln redeten und über die Mollen und das Monatliche, aber sie nahm sich vor, kein Wort zu sagen. Sonst machten sie sich wieder über sie lustig, oder die gemeine Joyce erzählte es den Jungens, und dann schämte sie sich zu Tode. Sie stopfte sich Toilettenpapier in ihr Höschen und ging sehr vorsichtig zu ihrer nächsten Stunde.
Zu Hause schrie Tante Rose gerade Sharon an, dass die Babys sofort gewindelt werden mussten. Naomi trat von einem Fuß auf den andern und wartete, bis sie mit Tante Rose reden konnte, aber als Tante Rose von ihr Notiz nahm, war es nur, um sie loszuschicken, in der Bäckerei Pumpernickel und im Milchladen vier Liter Vollmilch zu holen.
Schließlich kam Ruthie für ein hastiges Abendbrot nach Hause und wechselte die weiße Bluse und den dunklen Rock, die sie zur Arbeit tragen musste, gegen andere Kleider. Ruthie hatte drei solche Blusen und zwei solche Röcke, die sie ständig wusch und bügelte. Sie bewahrte sie im Kleiderschrank, den sie sich teilten, ganz rechts auf, denn sie wurden nie zu anderer Gelegenheit getragen. Naomi ging achtsam damit um und passte auf, sie nicht zu verknittern, wenn sie etwas im Kleiderschrank suchte. Ruthie hatte eine knappe Stunde, bevor sie zum Abendkurs losmusste.
Naomi fing Ruthie in ihrem gemeinsamen Zimmer ab, sobald es ging. »Ruthie. Mir ist heute was passiert.«
»Was Gutes oder was Schlechtes?«
»Ich weiß nicht.« Naomi zuckte verlegen die Achseln. Die Frage verstörte sie. War das Blut eine Bestrafung oder ein Passierschein in die Freiheit der Erwachsenen?
»Wenn du es nicht weißt, wer dann?« Ruthie grub in den Tiefen des Kleiderschranks. »Es wird Zeit, wieder Baumwollsachen zu tragen. An so einem Tag muss ich nun in der Stube hocken!«
»In meinem Höschen ist Blut.« Naomi hockte unglücklich auf der äußersten Kante von Ruthies Bett. »Wie heißt das auf Englisch? Meine Regeln.«
»Deine Regel. Tatsächlich? Hat dir Mame eine Binde gegeben?«
»Ich hab’s ihr noch nicht gesagt.«
»Du brauchst einen Bindengürtel und eine Binde.« Ruthie kramte in ihrer Kommode. »Nimm erst mal meinen Gürtel. Morgen kaufe ich dir in der Stadt einen.« Ruthie strich ihr übers Haar und fragte besorgt: »Verstehst du, was das bedeutet?«
»Jetzt kann ich Babys kriegen.«
Ruthie lachte. »Nicht von allein. Nur, wenn du mit einem Jungen ins Bett gehst, und an so was sollst du noch hundert Jahre lang nicht denken.« Damit sie die Binde anlegen konnte, ließ Ruthie sie allein, hüpfte in die Küche und summte vor sich hin.
Naomi sah nicht ein, wieso das Blut in ihrem Höschen Ruthie so beschwingte. Vielleicht, weil Ruthie Babys haben wollte, nicht bald, aber sie wollte welche. Naomi selber eigentlich nicht. Das hätte sie gern Rivka erzählt, denn früher hatte Naomi Babys so süß gefunden, dass sie stehen blieb und schwärmte, sobald sie eine Mutter einen Kinderwagen schieben sah. Rivka fand das eklig und kitschig. Aber seit sie jeden Nachmittag, sobald sie aus der Schule kam, von Babys umgeben war, bis ihre Mütter sie abholten, war sie entzaubert. Pipi und A-a, brüllen und aus Stühlen fallen und Essen auf den Boden schmeißen, so sah das aus.
Naomi liebte den Klang des Wortes entzaubert. Sie stellte sich einen Schleier vor, der weggerissen wurde. »Ich bin entzaubert«, sagte sie laut vor sich hin. Innerlich war sie jetzt eine Frau. Sie nahm sich vor, nie wieder in der Nase zu bohren und die Popel unter den Stuhl zu kleben. Zu lernen, ordentlich mit der Gabel in der rechten Hand zu essen, wie es die Amerikaner taten. Aufzuhören, heimlich Murrays Briefe aus der Schublade mit Ruthies Unterwäsche zu holen und zu lesen. Jetzt, wo sie eine Frau war, durfte sie sich nicht mehr wie ein Kind benehmen. Alles, was sie tat, zählte jetzt, und sie musste anfangen, sich richtig und tapfer zu benehmen und bien rangée zu sein.
Sie saß auf Ruthies Bettkante und übte, wie eine reife Frau sitzt. Die Binde drückte zwischen den Beinen. Sie fragte sich, wie sie damit rennen sollte, ohne sich wundzuscheuern. Sie betrachtete ihr Gesicht in dem kleinen Spiegel über der Kommode, die sie mit Ruthie teilte. Sie versuchte sich an Schlafzimmerblicken, wie die Frauen in den Filmen sie den Männern zuwarfen. Es fiel ihr immer noch schwer, alles mitzubekommen, was sie sagten. Dann kniff sie das rechte Auge zu, machte ihr linkes groß und rund und fletschte die Zähne, aber nur auf einer Seite. Das war ihr bestes Hexengesicht. Rivka sagte manchmal, vielleicht wurden sie Hexen, wenn sie groß waren. Das hörte sich toll an.
Hatte Rivka schon ihre Regel? Sie schloss die Augen und versuchte, ihre Zwillingsschwester zu fühlen, aber es gelang ihr nicht. Sechs Uhr. Dann war es Mitternacht in Paris, und Rivka schlief schon. Es wäre so schön, wenn sie mit Rivka reden könnte: Dann wüsste sie, ob sie glücklich war oder unzufrieden. Wenn du eine Zwillingsschwester hast, bist du nie einsam, außer, ihr seid getrennt, und dann kann niemand je verstehen, was dir fehlt, nur du selbst.