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Für einen Moment überkam sie trostloser Zorn auf ihre Eltern, die sie getrennt hatten. Es hatte eigentlich nicht für lange sein sollen. Papa hatte sich einen Ausweis besorgt, der ihm erlaubte, in die Vichy-Zone zu fahren, dazu die Papiere und die carte d’identité von einem Mann mit Namen Antoine Saligny, der im Süden geschäftlich zu tun hatte. Auf dem Ausweis war auch eine Tochter eingetragen, aber nur eine. Antoine Saligny war an einem Herzschlag gestorben, kaum dass sein Ausweis genehmigt war, und Papa hatte die Papiere gekauft. Ursprünglich wollte Papa Jacqueline mitnehmen, aber die lehnte ab, weil die Prüfungen für ihr baccalauréat bevorstanden. Dann hatte Papa Naomi gewählt als die Zweitälteste – sie war eine Viertelstunde vor Rivka zur Welt gekommen.
Papa plante, in der Vichy-Zone Arbeit zu finden und dann den Rest der Familie zu holen. Das war dann aber schwieriger, als sie alle gedacht hatten. Es gab keine Telefonverbindungen zwischen den beiden Frankreichs. Die einzige Post, die sie schicken konnten, waren Postkarten, auf denen sie nur vorgedruckte Sätze ankreuzen durften. Um hin- und herzureisen, brauchte man eine Genehmigung. Die Vichy-Franzosen erließen im Eiltempo antijüdische Gesetze, um es den Nazis gleichzutun. Als Papa eine Möglichkeit sah, sie in die Vereinigten Staaten zu schicken, beschloss er, sie in Sicherheit zu bringen.
Also war Papa in Südfrankreich geblieben, während sie ganz allein nach New York flog, wo sie von einer Frau vom Joint, dem American Jewish Joint Distribution Committee, abgeholt und in den Zug nach Detroit gesetzt wurde. Sie war noch nie in ihrem Leben so unglücklich gewesen wie in den fünf Tagen in dem Flugzeug, das von Flughafen zu Flughafen flog, nach Casablanca und dann nach Martinique und dann nach New York, in dem Flugzeug, dessen Dröhnen noch zwei Tage hinterher ihren Kopf füllte. Ihr Englisch war doch nicht so gut, wie sie immer gedacht hatte, und sehr oft begriff sie nicht, was man ihr für Anweisungen gab, was man von ihr wollte.
Manchmal fühlte sie sich von ihrer Familie verstoßen. Warum musste sie es sein, von der sie sich trennten? Seit Beginn des neuen Krieges hatte sie keine Briefe mehr von Rivka und Maman bekommen. Sie hatte nur jene Augenblicke, die sie nicht heraufbeschwören, sondern nur hinnehmen konnte, in denen sie ihre Zwillingsschwester deutlich in sich spürte.
Tante Rose kam herein und gab ihr einen Kuss. »Ist gut, du bekommst von mir also keine Schläge, Ruthie verlangt von mir, dass ich modern und amerikanisch bin. Aber sei du jetzt ein gutes Mädchen.« Rose kniff ihr in die Wangen mit ihren schwieligen, vom Wasser verquollenen Händen, die nach Zwiebeln rochen. »Sei ein gutes Mädchen, uns zuliebe und deiner Mutter zuliebe, meiner lieben Schwester Chava, die immer an dich denkt, das weiß ich.«
Naomi nickte verlegen. Was sollte all das heftige Gewünsche, sie möge ein gutes Mädchen sein? Fing G-tt an zu zählen, wenn du deine erste Regel hattest? Vielleicht nahm G-tt dir ja alles, was du bis dahin getan hattest, nicht übel, aber von da an zählte es, jeder Gedanke und jede Tat und jede ausgeübte oder unterlassene mizwe. Sie empfand Bestürzung angesichts der Aussicht, wirklich gut sein zu müssen. Sie wechselte absichtlich das Thema. »Hat meine Mutter Chava im gleichen Alter angefangen wie ich?«
»Du bist zwölf, richtig? Ja, im gleichen Alter. Chava war da schon hübsch und ein helles Köpfchen. Ich war die Vernünftige, ich musste auf die Kleinen aufpassen. Deine Tante Batya war die Verdrehteste, am meisten hinter den Jungens her. Esther, die war noch ein kleines Kind, als ich fortging. Sie ist die, die sich gut verheiratet hat. Esther und Batya haben beide Balabans geheiratet, auch aus Kozienice, aber Batya hat den hübschen Jungen ohne Verstand geheiratet und Esther den mit der Mühle, und sie führt ihm die Bücher.«
Naomi liebte es, wenn Tante Rose von den Schwestern erzählte. Das machte die Familienbande lebendig, ließ Naomi spüren, dass sie immer noch in der gleichen Familie lebte, so verstreut über Europa und Amerika sie auch war.
Beim Abendessen, als sie sich an den Tisch setzte zu der Suppe aus Zwiebeln und Kartoffeln, zu der es das dunkle Brot gab, nach dem Tante Rose sie zum Bäcker geschickt hatte, schaute Onkel Morris sie mit solch einem Gesicht aus Wehmut und Sorge und verschmitztem Grienen an, dass sie sofort wusste, Tante Rose hatte es ihm gesagt. Am liebsten hätte sie den Löffel hingeworfen und wäre aus dem Zimmer gerannt. Was sie zurückhielt, war die Erinnerung an die vielen blöden Auftritte, die Jacqueline hingelegt hatte, wo sie meistens Maman, aber manchmal auch Papa vorwarf, gefühllos zu sein, sie nicht zu achten, sich über ihre Gedanken lustig zu machen. Rums ging der Löffel und racks ging der Stuhl, und Jacqueline rannte raus und schloss sich in die salle de bains ein. Was sie da drin trieb, blieb ihr Geheimnis. Man hörte nur heftig das Wasser laufen. Wenn sie rauskam, sah sie aus, als hätte sie eine geheime Botschaft empfangen; dann war sie sehr von sich angetan, sehr abweisend und von oben herab. Sie warf allen Blicke aus den Augenwinkeln zu, als wollte sie sagen: Ihr wisst gar nicht, wer ich bin, aber eines Tages, wenn ich Großes vollbracht habe, werdet ihr es erkennen!
Naomi beschloss, nicht so blöd zu werden wie Jacqueline. Ohne sich um die andern zu kümmern, aß sie ihre Suppe. Das Blut war nicht sonderlich beeindruckend. Sie hatte weit stärker aus der Nase geblutet, oder auch Rivka, als sie ihre Namen in eine Kastanie einritzten und das Messer abrutschte. Doch da alle ihr immer wieder verstohlene Blicke zuwarfen, sagte sie schließlich: »Ich möchte gern etwas wissen.«
»Was denn?«, fragte Ruthie im selben Moment, in dem Onkel Morris sagte: »Bist du sicher, dass du nicht bis nach dem Abendbrot warten und deine Tante fragen willst?«
»Warum finden es alle komisch oder falsch, wenn ich mit einem farbigen Mädchen befreundet sein will? Was geht das die andern an?«
Alle in ihrer neuen Familie sahen bestürzt aus, als hätte sie nach etwas noch Peinlicherem als der Regel gefragt. »Dein Onkel Morris wird es dir erklären«, sagte Tante Rose, während Arty und Sharon Gesichter zogen, als schmeckte die Suppe nicht gut. Naomi sah schon, sie würde es nie fertigbringen, wie eine Erwachsene zu sein, auch wenn sie jetzt blutete. Onkel Morris sagte, nach dem Abendbrot würde er mit ihr reden, als hätte sie etwas Unanständiges gefragt. Sie gab auf und aß ihre Suppe. Ihr fiel ein, wenn sie in letzter Zeit Rivka fühlte, dann hatte Rivka immer Hunger.
Daniel 2
Das große purpurne Kreuzworträtsel
Daniel war immer ein begeisterter Rater des Kreuzworträtsels der New York Times gewesen. Während seiner Jahre am City College hatte er genüsslich mit seinem Vetter Seymour gewetteifert, wer es schneller löste. Der, der es zuerst heraushatte, rief den anderen an und brüstete sich. Er hatte sich jedoch nie träumen lassen, dass er sich eines Tages unter enormem Druck und mit einem Gefühl drohenden, furchtbaren Versagens Tag und Nacht mit einem gigantischen Kreuzworträtsel abmühen würde.
Natürlich war die Kryptologie – in seinem Fall die Entschlüsselung japanischer Codes – nicht das Gleiche wie das Lösen eines Kreuzworträtsels, doch manchmal fühlte es sich so an, denn alles an dem Gebäude, das sie errichteten, stand zueinander in Beziehung; wenn sie ein Partikelchen entschlüsselten, änderten sich dadurch andere, schon erratene Bausteine und wurden zu Gewissheiten oder Fehlern.
Im Frühjahr, als einige aus seinem Japanischkurs nach Washington abkommandiert wurden, stellte sich Daniel die Frage, was man wohl mit ihm anfangen würde. Er malte sich aus, auf einem Tropeneiland Kriegsgefangene zu verhören. Ob man ihn direkt nach Übersee schickte? Er gehörte zum zweiten Trupp der Dienstverpflichteten. Am College hatte er befriedigende Noten gehabt und sich selten zu Höchstleistungen angestachelt gefühlt. Hier dagegen hatte er Lehrgangskameraden überflügelt, die seit Jahren Japanisch lernten. Er hatte sich nie für dumm gehalten, aber auch nicht für hochbegabt. Sein Vetter Seymour war der Intellektuelle und sein Bruder Haskel der Einser-Student. Nun begegnete er sich selbst mit neuem Respekt vor seiner Intelligenz.
Dann kam plötzlich aus heiterem Himmel der Marschbefehl zur Sektion 20-G, wo er eiligst und mit wütendem Druck von oben auf die Kryptologie angesetzt wurde. Das erinnerte ihn daran, wie Haskel ihm das Schwimmen beibringen wollte, indem er ihn im YMCA vom Rand des Beckens schubste. Er wurde in tiefes und kabbeliges Wasser geworfen, inmitten eines tosenden Sturms unbegreiflicher Direktiven. Doch irgendwie lernte er. Wochenlang begriff er den Zweck dieser fieberhaften Aktivitäten nicht, doch er versuchte, sich seinen Weg zu bahnen.
Anfangs fühlte sich Daniel bei Sektion 20-G in Washington fehl am Platz. Die Hälfte des Personals bestand aus Marinestabsoffizieren, den Annapolis-Absolventen, die als Teil ihrer Ausbildung einige Zeit in Japan verbracht hatten. Die andere Hälfte bestand aus Zivilisten, Männern und Frauen, deren Herkunft und Werdegang sie mit der japanischen Sprache und Kultur verband. Mehrere von ihnen waren Nisei, in den USA geborene Japaner, andere waren teilweise japanischer Abstammung oder hatten japanische Ehepartner. Daniel brachte ihnen nicht das Misstrauen gegen alles Japano-Amerikanische entgegen, das typisch für die meisten Amerikaner und sogar offizielle Regierungshaltung war. Nach der Verhaftung und Internierung von Japano-Amerikanern hatte die Marine ihre eigenen Nisei von der Westküste nach Colorado verlegen müssen, um sie zu schützen. Ohne sie wäre das Programm lahmgelegt gewesen.
Er zog in das erste Zimmer, das er in der überfüllten Stadt finden konnte, bei einer lautstarken Familie aus Kentucky, die ihm fürchterlich auf die Nerven ging. Schließlich fragte ihn ein Kollege aus seiner Abteilung, ob er sich eine winzige Wohnung draußen unweit Maryland, im dritten Straßenalphabet, mit ihm teilen wollte, weit vom Capitol und von ihrer Arbeitsstätte entfernt, aber eine Wohnung nur für ihn und Rodney. Er sagte zu, ohne sie gesehen zu haben. Das war auch gut so, denn sie war dunkel, eng und heiß, im zweiten Stock direkt unter dem Dach, ohne Fahrstuhl und mit einer Aussicht aufs nächste Dach, die reichliches Anschauungsmaterial zum Paarungsverhalten von Tauben lieferte.
Sie hatten nur zwei Zimmer und eine winzige Küche. Rodney, der die Wohnung aufgetrieben hatte, beanspruchte das Schlafzimmer. Daniel bekam das Schrankbett im Wohnzimmer. Er fühlte sich wie zu Hause, denn sein Bett in der Bronx war genauso eine Zumutung gewesen. Er beschloss, das Bett in seinem Schrank zu lassen und auf einer Matratze auf dem Fußboden zu schlafen. So bestand eine Ecke ihres Wohnzimmers aus seiner Matratze mit einem Haufen zusammengewürfelter Kissen, darunter auch seine Kopfstütze aus geflochtenem Bambus in Form eines Löwen, die er seit Schanghai immer auf seinem Bett gehabt hatte. Darüber hängte er die Schriftrolle, die er mit Hilfe eines Freundes in Soochow erhandelt hatte. »Wie eine Künstlerbude«, grummelte Rodney, aber da er das Schlafzimmer nicht abtreten mochte, blieb es bei diesem Patt. Rodney sprach kaum mit Daniel außer in betrunkenem Zustand, dann schwafelte er endlos über seine Probleme beim Verführen von Frauen.
Washington war kein gigantisches, kosmopolitisches Bienenhaus wie New York und Schanghai, kein Zentrum intellektuellen Lebens wie Boston. Es war eine wuchernde Südstaatenstadt, die sich im halben Tempo von New York bewegte. Viele der jüngeren Männer und Frauen gingen barhäuptig, wohingegen in New York alle Hüte trugen. Es gab in der ganzen Stadt nicht einen Wolkenkratzer. Alles war nach Rassen getrennt und für Farbige und Weiße gekennzeichnet. Ihm kam das nicht nur rüde, sondern töricht vor, dicht an hysterischem Verhalten. Die farbige Bevölkerung von Washington war groß und schien recht heterogen, obwohl nahezu durchgängig in elenden Wohnverhältnissen lebend, viele in sogenannten Hinterhofhäusern, die hinter den eigentlichen Häusern in wimmelnden Pferchen standen und ihn an die zwielichtigen Viertel von Schanghai erinnerten.
Jeden Tag fuhr er mit der Straßenbahn zum Marinegebäude an der Achtzehnten Straße Ecke Constitution Avenue, ging an den Marinewachen vorbei hinauf zum dritten Deck – als Erstes hatte er hier lernen müssen, Stockwerke Decks zu nennen, Wände Schotten und anderen Marineunsinn – und begab sich in die Abteilung für feindliche Funksprüche. Sektion 20-G war kein stiller Winkel intensiven Studiums, keine glückliche Familie, kein Ort, an dem man willkommen geheißen wurde und als fröhliches Rädchen im großen Getriebe seinen Platz angewiesen bekam. Es war ein Irrenhaus. Mitarbeiter, die schon vor dem Krieg dabei gewesen waren, schienen von dem Schuldbewusstsein geplagt, dass Pearl Harbour zum großen Teil eine Marinepanne und somit eine Panne der Marineabwehr gewesen sei. Sie arbeiteten wie besessen. Ihr Chef brüllte, tobte, trieb sie an und wachte ständig darüber, dass jedes Gespräch sich auf die Arbeit bezog und nur auf die Arbeit. In einer Ecke saß der frühere Sektionsleiter, und Pearl Harbour hing ihm am Hals wie der tote Albatros dem Alten Seemann. Niemand würdigte ihn eines Blickes, und er schien wenig zu tun zu haben außer einem endlosen Autopsiebericht.
Daniel hatte keine Ahnung, wie er dazu kam, Verbindungsmann, ein vornehmeres Wort für Botenjunge, zu William Friedman zu werden, aber die vorige Kontaktperson war zum Marinenachrichtendienst in Pearl Harbour versetzt worden, wo es eine weitere Kryptologieabteilung gab. Niemand erklärte ihm das. Und niemand erklärte ihm, woran sie arbeiteten, nämlich an japanischen Geheimcodes. Die Sektion schien nach den gleichen Grundsätzen zu arbeiten, nach denen in Boston Straßenschilder errichtet wurden: als Zeichen für die, die sich schon auskannten, und mit deutlichem Misstrauen Fremden gegenüber, mit der eingefleischten Überzeugung, wer nicht schon wusste, wo er war, hatte dort auch nichts zu suchen.
William Friedman stand dem Sicherheitsamt der Fernmeldetruppe vor, gleich nebenan auf der Mall in einem weiteren Labyrinth namens Zeughaus oben im dritten Stock – wo Stockwerke Stockwerke waren. Daniel ging gern hinüber. Friedman war eine Vaterfigur, nicht nur für ihn, sondern auch für seinen eigenen Stab. Er war kein gemütvoller Vater, sondern ein kühler, unnahbarer, allwissender Vater, der sorgfältig auf die Schulung seines Personals achtete. Sein Schreibtisch und sein Kopf schienen stets aufgeräumt. Daniel fand die Atmosphäre in seinem Amt erfrischend und beruhigend zugleich. Hier wurde genauso hart gearbeitet wie bei der Marine, aber die Atmosphäre war klar, vernünftig und freundlich.
Friedman war ein kleiner, gepflegter, adretter Mann, Träger von Gamaschen, eleganten dreiteiligen Maßanzügen, von Schuhen, die nicht blankpoliert blitzten, denn dafür war das Leder zu weich und zu fein, sondern von innen heraus warm schimmerten wie altes Geld. Doch Friedman war Jude. Er war in Kischinjow, nun Sowjetunion, geboren worden und als Kleinkind ausgewandert. Er sprach ohne Akzent bis auf eine bestimmte O-Färbung, die Daniel mit Pittsburgh verband. Friedman war ein Genie. Das Vokabular, in dem Daniels neuer Beruf sich ausdrückte, war von Friedman persönlich geprägt worden, bis hinunter zu der Bezeichnung, die seine Tätigkeit beschrieb: Kryptologe.
Friedman hatte eine Frau, Elizebeth, die in dem Metier, das diese beiden zu großen Teilen erfunden hatten, fast den gleichen Ruf genoss wie er. Beide waren seit den zwanziger Jahren in Washington und ersannen Codes für die meisten Regierungsinstitutionen, die welche benötigten, von der Armee bis zum Finanzministerium, von der Küstenwache bis zu Oberst Donovans verwegenem Geheimdienstunternehmen. Sie hatten auch Codes entschlüsselt und waren als Sachverständige in zahlreichen Prozessen aufgetreten. Es hieß, Friedman sei seiner Frau innig verbunden, regelrecht verrückt nach ihr. Kein Hauch von Skandal hatte je ihre Beziehung getrübt. Aber Friedman war vor Pearl Harbour aus der Armee entlassen worden und nun Zivilist. Es hieß, die Anstrengung, den diplomatischen Code der Japaner, genannt Purpur, zu knacken, habe bei ihm zu einem Nervenzusammenbruch geführt, und die Armee hätte diesen Augenblick gewählt, um ihn für seine Extravaganz zu bestrafen. Was es auch war, Friedman umwehte ein Hauch von Trauer, dachte Daniel, als hätte er zu viel gesehen – eine philosophische Traurigkeit unter der strengen und nie versiegenden Brillanz des Intellekts.
Friedman hatte ihn bei seinem ersten Botengang scharf gemustert, ein wissender Blick, der, wie Daniel vermutete, damit zu tun hatte, dass die Marine einen der wenigen verfügbaren Juden zu ihm geschickt hatte. Dann schien Friedman im Geiste mehrere Schritte rückwärts gemacht zu haben und Daniel bei den nächsten Begegnungen unvoreingenommen zu betrachten. Schließlich brachte er ihm Interesse entgegen: nicht unbedingt ein freundliches, obwohl schon in dieser Beachtung eine Art Freundlichkeit lag. Friedman war ein Mann, der Förmlichkeit als Waffe benutzte, da er sich in diesem militärischen Milieu oft schützen musste. Judenverhöhnung und Antisemitismus grassierten in Washington. Daniel fragte sich manchmal, ob nur die geringe Zahl der ortsansässigen Juden die Stadt davon abhielt, eine dritte Kategorie von Toiletten und Schulen einzurichten.
Es wurde Ende April, bis er zu verstehen begann, was sie da eigentlich taten, auch wenn ihm schon aufgefallen war, wie Washington sich um ihn herum veränderte, vor Uniformen starrte, das Gewusel auf den Straßen plötzlich um Jahre verjüngt. Niemand setzte ihn ins Bild; es schien zur Politik des Hauses zu gehören, ihn im Dunkeln tappen zu lassen. Er musste sich die Bedeutung seiner Arbeit ganz allein zusammenbuchstabieren, so wie er die Bedeutung der teilweise entzifferten Funksprüche vollständig entschlüsseln und übersetzen musste.
Die Japaner benutzten eine Maschine für ihre Codierung, eine Maschine mit vielen Läufern oder Rotoren. Niemand von ihnen hatte diese Maschine je gesehen. Die Arbeit der Feindnachrichtenabteilung bestand darin, Radiosignale aus dem Äther zu pflücken und niederzuschreiben. Friedmans Gruppe war es gelungen, Ende des Sommers 1940 eine funktionierende Nachbildung der Purpur-Maschine zu konstruieren und den Code teilweise zu entschlüsseln. Purpur war nur einer von vielen Codes. Japans Armee und Marine benutzten eine Vielzahl weiterer Codes, die ebenfalls entschlüsselt werden mussten. Purpur jedoch war der Code aller diplomatischen Vertretungen, eine Fundgrube an Informationen über Japans Ziele und Gedankengänge und Beobachtungen weltweit. Die Marine und die Armee hatten in täglichem Wechsel an der Purpurentzifferung gearbeitet und dann ihre Ergebnisse abgeglichen. Daniel verbrachte seine Arbeitstage damit, Buchstabenklumpen wie diese anzustarren:
XYBLG IRGUB NZZCU IRFLB USKLM
Er bedauerte es, als die Heeresleitung beschloss, der Marine die Entschlüsselung von Purpur zu entziehen und ganz der Armee zu überlassen, denn das hieß, dass er Friedman nicht mehr regelmäßig sah. Er hatte eine Schwäche für den adretten kleinen Mann mit den förmlichen Manieren und der Aura, nicht ganz dazuzugehören. Er war froh, Friedman etwas Gutes bringen zu können, das Neueste von Baron Oshima, dem japanischen Botschafter in Berlin. Oshimas Kabel nach Tokio waren eine ausgezeichnete Informationsquelle über die Deutschen, denn seit der Unterzeichnung des Dreimächtepakts zwischen Deutschland, Italien und Japan hatten die Nazis Oshima in ihre Vorbereitungen und Kriegspläne eingeweiht. Der Baron war der beste Agent, den die Amerikaner in Berlin hatten. Durch Oshima hatten sie im Voraus gewusst, dass Hitler den Angriff auf die Sowjetunion plante, erfuhr Daniel, aber amerikanische Versuche, die Sowjets zu warnen, waren an Stalins strikter Weigerung gescheitert, das zu glauben.
Friedman saß mit geschürzten Lippen an seinem Schreibtisch, und sein Blick verlor sich in innere Fernen, die kleinen, zerbrechlich wirkenden Hände spielten mit einem Bleistift. Als Friedman ihn schließlich bemerkte, schien ihm seine Geistesabwesenheit fast ein wenig peinlich zu sein, doch er hatte Daniel wie auch seinem eigenen Stab beigebracht, ihn nicht zu stören, wenn er ein Problem durchdachte. Daniel hätte eher den ganzen Tag dagestanden, als ihn unterbrochen.
»Wann findet Ihr Umzug statt?«, fragte Friedman und überflog rasch das Bündel Papiere. Die Marine zog in eine frühere Mädchenschule, Mount Vernon, so wie Friedmans Dienst in eine andere zog, Arlington Hall. Offenbar gab es um Washington herum ein Übermaß an ehemaligen Mädchenpensionaten, die höheren Töchtern den letzten Schliff verleihen sollten, sinnierte Daniel. Vielleicht waren ihnen die höheren Töchter ausgegangen.
»Wir hoffen, nächsten Monat umzuziehen, wenn hoffen das richtige Wort ist. Da draußen sind nicht mal Insektengitter an den Fenstern.«
»Dann werden Sie mehr Beschäftigte haben, als Sie bislang zählten, und neunundneunzig Prozent davon werden sechs Beine haben und stechen. Sie sollten sich einen guten Insektenführer besorgen und sich an der Vielfalt freuen.«
Daniel wusste nicht genau, ob Friedman im Scherz sprach, da sein Gesicht sachlich blieb und er immer noch den Abzug überflog. Er machte einige Randnotizen. »Ich dachte gerade«, sagte er, »dass Juden sich vielleicht so rasch Sprachen aneignen, weil sie unabhängig vom Geburtsort schon früh mehrere lernen.«
Daniel brachte das ein wenig aus der Fassung. Er hatte einen Kommentar zu dem Kabel des Barons erwartet, aber Friedmans Gedanken waren bei Daniels Japanisch, eine Sprache, so hatte ihm Friedman erzählt, die er zu seinem Bedauern aus Zeitmangel nicht hatte lernen können. Daniel schaltete um. »Ach, Sie meinen, weil wir Hebräisch lernen. Und Jiddisch oder Ladino oder was immer zu Hause gesprochen wird. Dann die Landessprache. Innerhalb meiner eigenen Familie müssen die vier Brüder meines Vaters und ihre Familien zehn Sprachen sprechen. Vielleicht mehr.« Er begann, sie im Geiste zu zählen.
Friedman beendete die Durchsicht. »Das hier kommt mir eher wie eine Wunschliste Hitlers vor als wie irgendetwas Reales, aber ich nehme an, es ist durch den Dienstweg gegangen?«
»Ja, Sir, selbstverständlich.«
»Sie haben seit Ihrer Ankunft an Purpur gearbeitet. Zu schade, dass wir Sie nicht einfach hierher versetzen können.«
»Das wäre mir sehr lieb«, sagte Daniel offen. »Lieber als alles andere. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Marine sagt: Klar, gehen Sie und arbeiten Sie für die Armee. Wir werden Sie morgen überstellen, denn das ist eine vernünftige Entscheidung.«
»Manchmal benimmt die Marine sich, als wären die anderen Heeresgattungen ihre schlimmsten Feinde.« Friedman seufzte. »Früher waren alle Gattungen arme Verwandte, gingen mit der Mütze in der Hand zum Kongress und baten um Futter für ihre Maulesel und um Farbe für ihre rostenden Kähne. Sie haben in erstaunlicher Weise Gefallen an der Macht gefunden.«
»Führt der Krieg nicht automatisch dazu? Alle Macht dem Militär?«
»Die Briten und die Sowjets haben die Entscheidungsgewalt nicht an das Militär abgetreten, sondern die Politiker haben das Sagen – ob zum Guten oder zum Schlechten. Als Einzige unter den Verbündeten überlassen wir politische Entscheidungen den Generälen.«
Nach beendeter Audienz ging Daniel zurück und war glücklich. Wenigstens würde Friedman ihn nehmen, wenn er die Möglichkeit hätte, und das war das größte Kompliment, das er je erhalten hatte. Später an dem Tag sah er Friedman mit einer Gruppe hoher Tiere der Armee vor dem Zeughaus stehen, mit Drei- und Viersternegenerälen, alles bullige, vierschrötige Männer, mit denen er offensichtlich gerade eine halb-historische Konferenz gehabt hatte. Friedman stand abseits und lächelte leicht gedankenverloren. Er wirkte, als wäre er durch einen unglücklichen Zufall unter die Generäle geraten, eine geschmeidige asiatische Katze, eine Siamkatze, die sich plötzlich in einer Herde schnaubender Bullen wiederfindet, vorsichtig deren Hufe meidet und nicht recht weiß, in welcher Sprache sie anzureden sind. Doch Daniel wusste, wenn Friedman den Militärs einen Lagebericht gab, dann hörten sie zu. Friedman wusste sehr wohl, wie er mit ihnen reden musste, damit sie ihn verstanden, denn er hatte seit Jahren ihre Offiziere ausgebildet. Er hatte ihr gesamtes Ausbildungssystem für Funkverschlüsselung und Geheimcodes aufgebaut.
Purpur loszuwerden verringerte keineswegs den Druck auf Sektion 20-G; die Spannung stieg, bis das Büro davon glühte. Es war, als jaulte eine hohe Stimme aus der Decke ständig: Los, los, los, los, los. Die japanischen Marinecodes mussten vorgestern entschlüsselt sein; die lebenswichtigen Funksprüche mussten entziffert und übersetzt sein. In Pearl Harbour war ein so großer Teil der amerikanischen Flotte vernichtet worden, dass es kein einziges Schlachtschiff mehr gab und nur noch vier Flugzeugträger. Die Admiräle Kind und Nimitz mussten wissen, was die Japaner taten, und zwar, bevor sie es taten, denn nur dann konnten sie ihre paar Figuren über die weite blaue Tafel an die richtige Stelle schieben. Selbst dann waren sie an Feuerkraft noch unterlegen, aber ohne dieses Vorauswissen hatten sie nicht die geringste Chance, weitere japanische Invasionen zu verhindern.