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»Schläfst du mit ihm?«, wiederholte sie.
»Jawohl«, sagte ich.
Sie ohrfeigte mich und nannte mich eine Hure! Sie sagte, sie wolle solches Essen nicht, und ging so weit, Kartoffeln auf den Fußboden zu werfen. Sie sagte mir, ich hätte ab sofort Hausarrest und dürfe Henri und keinen dieser zwielichtigen Freunde je wiedersehen. Ich sagte, das sei völliger Unsinn und ich hätte eine Verabredung mit ihm, die ich auch einzuhalten gedächte. Er sei mein Freund, der wegen seiner Solidarität zu mir zusammengeschlagen worden sei, und wir könnten alle Freunde brauchen, die wir nur hätten. Ich sagte ihr nicht, dass Céleste und Henri und ich heute Exemplare einer neuen Untergrundzeitung abholen wollen, als Beitrag zu den ungesetzlichen Feiern zum Tag der Bastille.
Sie ohrfeigte mich wieder, mehrmals, und verlor, glaube ich, völlig die Beherrschung. Wir begannen beide, uns anzukreischen wie die Straßenhuren. Schließlich habe ich mich eine halbe Stunde lang ins Badezimmer eingeschlossen, bis ich meine Beherrschung wiedergefunden hatte, und die ganze Zeit über hämmerte sie an die Tür, so dass alle Nachbarn es gehört haben müssen. Dann habe ich ein paar Sachen in meinen alten Rucksack gepackt und bin in die Rue Royer Collard gekommen, wo ich ab jetzt bleibe.
Ich bin wütend auf sie. Sie hat überhaupt keinen Versuch unternommen, meinen Standpunkt zu verstehen, und so einen völligen Mangel an Achtung vor meinem Urteilsvermögen und meinem Charakter gezeigt. Ihre Schimpfkanonade war hässlich und gefühllos. Die simple Wahrheit ist, wenn ich nicht die Sorge um Rivka und Maman am Hals gehabt hätte, hätte ich mich wahrscheinlich nie mit Henri eingelassen. Dabei fällt mir ein, ich muss verhindern, dass Henri dieses Tagebuch liest, da ich ihn in solchen Dingen nicht für so gewissenhaft halte, wie ich es von Maman immer angenommen habe. Jetzt bin ich mir offen gestanden nicht mehr so sicher.
Ab morgen haben sich diese Ungeheuer übrigens etwas Neues ausgedacht, wie sie uns peinigen können. Es ist uns verboten, in Restaurants, Cafés, Bibliotheken und Museen zu gehen oder öffentliche Fernsprecher zu benutzen, und wir dürfen nur im letzten Wagen der Metro fahren. Viele Läden sind uns gänzlich untersagt, und wir dürfen nur zwischen vier und fünf einkaufen, wenn sowieso alles ausverkauft ist, und nur an bestimmten Tagen. Solange ich bei Henri bleibe, habe ich meinen gelben Stern abgelegt, da unser Zusammenleben natürlich verboten ist, und ich werde nicht eher nach Hause zurückkehren, als bis Maman sich für die rohen Schimpfwörter entschuldigt hat und dafür, wie sie mich geohrfeigt hat (mehrmals). Darin bleibe ich fest. Ich habe nichts Schändliches getan, und ich schäme mich nicht – außer dafür, wie sie mich behandelt!
Eine gute Lösung ist das nicht, denn wenn ich bei Henri bleibe, muss ich den gelben Stern entfernen, aber mein Ausweis – den wir zwanzigmal am Tag vorzeigen müssen – trägt in großen roten Buchstaben den Stempel JUIVE.
Ich habe mich etwas mehr daran gewöhnt, mit Henri zu schlafen. Er fragt mich immer, ob ich gekommen bin, und ich sage wahrheitsgemäß, dass ich das bezweifle, aber dass ich gar nicht weiß, was das für ein Gefühl ist. Ich fange jedoch an, das Vorspiel zu genießen. Küssen und Streicheln müssen nicht notwendig als sentimentaler Zeitvertreib angesehen werden, sondern haben aufgrund ihres sinnlichen Gehalts durchaus ihre Berechtigung, finde ich.
Mit Henri zusammenzuleben ist jedoch nicht sonderlich gemütlich. Mit Maman und Rivka habe ich meine gewohnten Regeln. Es ist einfacher, zu Hause für mein Studium zu lernen, und ich habe nur mitgenommen, was ich auf dem Rücken tragen konnte. Ich vermisse meine Bücher, meinen Sessel, meine café au lait-Tasse mit den Möwen drauf, die Papas copain Georges aus Dänemark mitgebracht hat. Henri hat keinerlei hausfrauliche Talente, und das WC auf dem Flur ist widerwärtig. Das Haus besteht aus winzigen Ein- und Zweizimmerwohnungen, wovon mehrere an Prostituierte vermietet sind, deren Kunden die ganze Nacht lang die Treppe hinunterpoltern. Ich werde Maman ein oder zwei Tage geben, um sich abzuregen, und dann werde ich erscheinen, wieder ganz die Alte, und sehen, ob wir Frieden schließen können.
Die Szene verfolgt mich mit ihrer Eruption von Unvernunft, der in uns beiden entfesselten Gewalt – wie sie mich schlägt und die Kartoffeln hinwirft – und der Heftigkeit unserer Gefühle. Ich weiß nicht, warum ich nicht so ruhig bleiben konnte, wie ich es mir vorgenommen hatte, aber je mehr sie außer sich geriet, desto mehr wiederum geriet ich außer mich vor Zorn, ein böser Kreislauf. Jedes Mal, wenn ich an diese hässliche Szene denke, bin ich entsetzt, wie wir uns benommen haben, wie wir unsere Würde verloren haben und wie wir aneinander vorbeigeredet haben. Ich bin entschlossen, wieder in Frieden mit ihr zu leben, aber zu vernünftigen Bedingungen.
16 juillet 1942
Ich kann fast nicht schreiben. Ich habe so lange geweint, dass meine Augen geschwollen sind und brennen und meine Nebenhöhlen völlig verstopft sind.
Maman und Rivka sind von der Polizei in einem Bus abgeholt worden – nicht allein, sondern mit abertausend anderen. Die Polizei hat gestern fünf Arrondissements abgeriegelt und macht heute weiter, die französische Polizei – annähernd tausend Polizisten, soweit ich erfahren konnte – hat zahllose Juden verhaftet, Männer, Frauen, Kinder, alte Leute, kleine Babys, schwangere Frauen, einfach alle. Die Polizei zwang die Menschen mitzukommen, nur mit dem, was sie gerade tragen konnten, und verlud sie in alte grüne Busse. Eine Zeitung schreibt, zehntausend Juden wurden verhaftet, eine andere Zeitung schreibt achtzehntausend, wieder eine andere schreibt achtundzwanzigtausend. Aber alle Zeitungen finden es eine wunderbare Idee und sind voll des Lobes, dass das Neue Europa von solchen Läusen wie uns befreit wird.
Mir ist übel, und ich fühle mich zu elend, um noch etwas zu schreiben.
18 juillet 1942
Ich habe all meine Kraft darauf verwandt herauszufinden, wo Maman und Rivka festgehalten werden und was mit ihnen geschehen wird. Mir will nicht in den Kopf, wie sie Rivka etwas anhaben können, schließlich ist sie hier geboren, eine französische Jüdin von Geburt an. Und Maman ist vor zwanzig Jahren naturalisiert worden. Es erweist sich als sehr gefährlich, nach Maman und Rivka zu forschen, denn natürlich steht auch mein Name auf der Liste, die sie benutzen, um Leute abzuholen, und ich bin nur durch den Streit entkommen. Wäre ich doch bloß bei ihnen, dann könnte ich meinen kühlen Kopf einsetzen und mir die beste Strategie überlegen.
Es ist unglaublich heiß diese Woche, la canicule. Paris ist nicht geschaffen für derartige Sommerhitze. Henris Zimmer ist einfach zu heiß, um darin zu schlafen. Wir sind sehr früh aufgestanden und hinausgegangen, hinunter an den Fluss, wo es ein bisschen kühler ist. Es ist nicht ungefährlich, auf der Straße zu sein, wenn so wenige unterwegs sind. Henri hat begonnen, seine Schwarzmarktbeziehungen anzuzapfen, um mir einen neuen Ausweis zu besorgen – einen arischen, wie es jetzt heißt.
Aber neue Ausweise kosten sehr viel, und ich habe überhaupt kein Geld. Ich entdecke, dass ich äußerst ungern von Henri abhängig bin, und Henri ist ebenfalls überrascht davon, wie schnell sich die Situation zugespitzt hat. Ich habe das Gefühl, er möchte nicht, dass ich bei ihm wohne, obwohl er nichts gesagt hat. Anfangs fand er es toll, aber jetzt beginnen ihm die Folgen der Situation aufzugehen. Nun hat er mich am Hals, eine Jüdin, die sich verstecken muss, keinerlei Einkünfte hat, von der Universität geflogen ist und ständig weint.
19 juillet 1942
Ich habe herausbekommen, wo Maman und Rivka eingesperrt sind. Sie haben alle mit Kindern ins Vel d’Hiv gebracht, eine glasüberdachte Rennbahn mit großen Tribünen, wo im Winter Fahrradrennen stattfinden. Ich habe erfahren, dass tausende dort festgehalten werden. Vielleicht überprüfen sie ja bei allen die Ausweise. Rivka ist hier geboren, und Maman wurde mit achtzehn naturalisiert und hat obendrein einen hier geborenen französischen Juden geheiratet. Ich rechne damit, dass sie auf freien Fuß gesetzt werden, aber bisher scheint noch niemand entlassen worden zu sein. Ich kann nicht in Erfahrung bringen, weswegen sie festgehalten werden.
20 juillet 1942
Ich bin zufällig Daniela begegnet, sie ist auch entkommen. Sie sagte, sie sei durch das Netz gewarnt worden, unmittelbar bevor es passierte, so dass sie und ihre Eltern um drei Uhr früh mit nichts aus der Wohnung flohen. Sie sind gerade noch durchgeschlüpft, bevor der Polizeikordon sich geschlossen hat. Sie sagt, mit guten Papieren könnte ich durchkommen und sie wüsste, wo welche zu kriegen sind. Aber dafür brauche ich unbedingt Geld. Sobald ich nicht-jüdische Ausweispapiere habe, kann sie mir Arbeit in einem Krankenhaus besorgen, schlecht bezahlt, aber genug für den Lebensunterhalt. Ich muss mir das Geld für die Papiere besorgen, und zwar schnell.
Ich ging nach Hause und bat Henri, seinem Vater zu sagen, er habe ein junges Mädchen geschwängert und brauche Geld für eine Abtreibung. Denn ich denke, sein Vater wird es ihm geben, zusammen mit einer Moralpredigt, von der beide kein Wort glauben werden. Henri bekam es mit der Angst, war aber einverstanden. Das wächst ihm alles über den Kopf. Er wollte nicht einmal mit mir schlafen. Nach meiner Einschätzung ist das keine stabile Situation.
Daniela ist meiner Meinung, dass wir herausbekommen müssen, was mit unserem Volk im Vel d’Hiv geschieht. Wir haben unsere Privatuni in aller Form aufgelöst. Wir glauben beide, sichtbare jüdische Organisationen ins Leben zu rufen bedeutet nur, sich in Reih und Glied zum Abschuss aufzustellen. Daniela sagt, dass wir Widerstand leisten müssen, aber bis jetzt hat sie noch nicht gesagt, wie. In meinen Augen ist das nichts als heiße Luft, als sagte ein machtloses, zorniges Kind zu jemandem, der ihm wehgetan hat: Dich kriege ich. Dir werd ich’s zeigen.
21 juillet 1942
Das wenige, was ich in Erfahrung bringen konnte, ist erschreckend. Man erzählt sich, dass mindestens einhundertdreißig Tote dort hinausgetragen worden sind, darunter zwei schwangere Frauen, die offenbar in den Wehen gestorben sind. Wir hören, dass dort mindestens fünfzehntausend Menschen, darunter fünftausend Kinder, ohne Wasser oder Nahrung eingesperrt sind. Ich kann das nicht glauben, ich kann nicht glauben, dass die französische Polizei meiner Mutter und meiner Schwester das antut, und doch muss ich es glauben. Ich kann nicht essen oder schlafen. Ich halte Nachtwache.
Henri wird heute mit seinem Vater reden. In diesem Moment ist es mir gleichgültig, ob ich lebe oder sterbe. Hätte ich doch nur nicht Henri nachgegeben, hätte ich mich doch nur nicht mit Maman gestritten und wäre jetzt bei ihr! Ich fühle mich so schuldig wie die Nazis, ich fühle mich, als hätte irgendwie ich Maman das angetan. Ich habe nur noch den Wunsch, ein großer Lastwagen würde mich auf der Straße überfahren.
Maman hat recht. Ich bin nichts als eine Hure, die für ein paar Kartoffeln und Eier fickt, und für ein paar freundliche Worte inmitten einer Stadt, die vor Hass überkocht. Von all den Menschen, die auf den Straßen waren und sahen, wie ganze Familien von der Polizei weggeschleppt wurden, versuchte niemand zu helfen, versuchte niemand, die Polizei aufzuhalten. Ich habe gehört, dass einige Nachbarn die Polizisten angefeuert haben, darunter auch die Laroques, deren Hund wir immer gefüttert haben, wenn sie verreist waren.
Sechs Tage ohne Wasser und ohne einen Bissen zu essen, wie können sie das überleben? Maman ist stark, aber sie ist neununddreißig und auch nur aus Fleisch und Blut. Rivka ist zäh, aber noch ein Kind und jetzt schon unterernährt.
Wenn ich ihnen mein Blut zu trinken geben könnte, ich würde es ohne ein Wort tun.
Abra 3
Welch geräumige Kammer
Wollen wir einen Spaziergang machen?«, sagte Oscar Kahan, als wäre das ein ganz normaler Vorschlag. »Es ist so ein schöner Tag. Sozusagen«, setzte er lächelnd hinzu, denn es war heiß und feucht, die Sorte Tag, die Abra voll Heimweh an die Sommer in Maine denken ließ. In der Hitze von New York zu bleiben mutete manchmal wie Masochismus an.
Sie folgte ihm und sah sich selbst als Figur in einem Comicstrip, eine Daisy Mae mit einem riesigen Fragezeichen, das in einer Blase über ihrem Kopf schwebte. Noch nie hatte Oscar Kahan sie zu einem Spaziergang aufgefordert. Sie hatte sich in letzter Zeit bei erotischen Träumereien über ihn ertappt und mit dem Gedanken gespielt, von ihrem Grundsatz abzugehen, sich niemals mit jemandem von der Arbeit sexuell einzulassen. Schließlich beruhte dieser Grundsatz nur auf Vorsicht und nicht auf Moral. Aber was hatte es für einen Sinn, ihren eigenen Kodex umzuwerfen, wenn Oscar Kahan sie lediglich mit der gleichen unerschöpflichen, ja nahezu allumfassenden Wärme behandelte, mit der er alle seine Studenten bedachte? Sie merkte, dass sie sich neuerdings angewöhnt hatte, Posen einzunehmen, die die Rundung ihrer Waden betonen sollten, ihr Profil, ihren Busen, aber wenn Oscar Kahan es wahrnahm, so ließ er seinen Beobachtungen keine Taten folgen. Bis jetzt.
Sie verließen sein Büro und wandten sich nach Westen, zum Fluss. Während sie dahinschlenderten, erkundigte er sich nach den letzten Befragungen und gab Kommentare zu anderen ab. Wieder einmal beeindruckte sie, wie er beides erfasste, die großen Muster und die kleinen Einzelheiten. Vielleicht wollte er einfach an die frische Luft, obwohl sie bezweifelte, dass näher als Connecticut welche zu haben war. Vielleicht machte ihn das warme Wetter ruhelos. Vielleicht hatte seine Kindheit in Pittsburgh ihn an den Smog gewöhnt, und er fand die stinkende Luft von Manhattan im Sommer tatsächlich erfrischend.
Im Riverside Park nahm er eine Bank, die etwas abseits stand, mit Blick auf den Fluss und ein Paar, das sich im Gras umarmte. Er schaute sich um und nahm die Szenerie in sich auf, dann musterte er sie mit durchdringendem, prüfendem Blick. »Ich werde im Herbst nicht unterrichten.«
Und meine Stelle ist futsch, dachte sie. »Wo gehen Sie hin, wenn ich fragen darf?«
»Haben Sie je in Betracht gezogen, sich stärker an den Kriegsanstrengungen zu beteiligen?«
Ich wette, er hat es geschafft, einberufen zu werden. »Ich dachte an die WAVES, an die Reservemarinehelferinnen – die Marine ist die Militärgattung meiner Familie –, aber ich sehe mich nicht salutierend herummarschieren. Ich bin zu verwöhnt für militärische Disziplin.«
»Dennoch führen Sie Befehle aus.«
»Das ist nicht das Gleiche, das wissen Sie.«
Er starrte gebannt auf einen Schlepper, der ein ungefüges graues Frachtschiff flussaufwärts bugsierte. »Ich habe vor, Sie anzuwerben. Aber nicht für die WAVES.«
Sie sah ihn scharf an. Er lächelte. »Sehen Sie nicht so schockiert drein. Das steht Ihnen nicht. Sie wissen sehr gut, dass Sie mit Geheimdienstarbeit befasst sind. Das haben Sie sich längst zusammengereimt. Jetzt trete ich offiziell OSS bei – dem Amt für Strategische Dienste. Und ich würde Sie gern mitnehmen.«
Endlich war es auf dem Tisch. »Was ist OSS?«
»Ein bisschen von allem. Propaganda, Geheimdienst, Spionage. Ich kenne hauptsächlich Leute von der Abteilung Recherche & Analyse.«
»Wo würden wir hingehen?«
»Für den Augenblick nirgendwohin außer in ein anderes Büro. Später, wer weiß? Ich möchte nicht über Einzelheiten sprechen, bevor Sie sich nicht entschieden haben. Ich werde ein kleines Projekt leiten, und ich habe carte blanche, so viele von meinen Mitarbeitern mitzubringen, wie ich will.«
»Aber klar!«, sagte Abra. »Klar mache ich es.«
»Sie wissen doch gar nicht, worauf Sie sich einlassen.«
»Ach, es wird sicher interessant. Ich habe Vertrauen zu Ihnen.«
»Sind Sie nun eigentlich mit Ihrer Doktorprüfung fertig?«
»Nicht ganz. Ich habe alle Seminare abgeschlossen und meine mündliche Prüfung bestanden, aber meine Dissertation schreibe ich immer noch gemäß Professor Blumenthals kritischen Einwänden um.«
»Sie werden das auf Kriegsdauer zurückstellen müssen.«
»Ich bin sowieso nicht begeistert, sie zum vierten Mal umzuschreiben. Spielt es eine Rolle, dass ich meinen Doktortitel nicht habe?«
»Das bezweifle ich.« Er stand auf. »Das Missliche ist, dass ich Ihnen so wenig sagen kann, bevor ich Sie dort vorstelle, und doch müssen Sie sich zuvor entscheiden. Ich hoffe, Sie machen sich keine romantischen Vorstellungen.«
Hatte er sie im Verdacht, für ihn zu schwärmen? Vielleicht war ihre Beinschau doch ein wenig zu durchsichtig gewesen. »In welcher Hinsicht?«
»Das ist keine Angelegenheit von Mantel-und-Degen-Intrigen, feschen Spionen und schneidigen Helden, sondern nichts als akademische Analyse. Wir werden versuchen, Sinn in die ungeheuren Informationsmengen zu bringen, und die Arbeit wird oft eher statistisch als stimulierend sein.«
»Ich verlasse mich auf Ihr Urteil, dass sie wichtig ist. Ich denke, Sie haben Ihre politischen Prioritäten klar gesetzt, und ich hoffe, ich auch.«
»Wir müssen einen kleinen Ausflug zu einem Büro im Rockefeller Plaza machen, der Sie ansonsten nicht weiter zu kümmern braucht. Ihre Dienstverpflichtung, die Prozedur in Gang bringen.« Er bot ihr mit seltener Ritterlichkeit den Arm, um ihr von der Bank aufzuhelfen. »Es wurde Zeit, dass man mich stärker einbindet. Die langwierigen Eintrittsformalitäten haben mich verrückt gemacht«, sagte er mit einem Aufblitzen unterdrückten Zorns. »Jetzt legen wir los.«
Im Juli erschien Ready nach monatelanger Abwesenheit. Er war gerade zum Korvettenkapitän befördert worden und erwartete, einem Flugzeugträger zugeteilt zu werden. Am nächsten Morgen sollte er mit dem Zug nach Hause fahren.
Ihr Lieblingsbruder sah älter aus, dachte sie, seine Haut ledrig und zerfurcht, Netze neuer Falten um die dunkelblauen Augen, sein Haar noch blonder als das ihre. Er war guter, übermütiger Stimmung. Als sie verschiedene Freundinnen vorschlug, wollte er sie alle. Nach italienischem Essen, auf das Ready immer versessen war, in einem nahe gelegenen Lokal im Village, das Abra bevorzugte, weil dort auch vor dem Krieg nie Bilder von Mussolini gehangen hatten, trafen sie sich mit Djika, Karen Sue und Karen Sues neuer Mitbewohnerin Eveline, einer Kusine zweiten Grades mütterlicherseits aus Beaufort, North Carolina, die mit einem auf einem Begleitzerstörer stationierten Fähnrich zur See verheiratet war. Karen Sue betrachtete das Teilen ihrer Wohnung als ihr äußerstes Opfer für die Kriegsanstrengungen.
Nachdem sie sich durch ein paar Bars im Village getrunken hatten, fuhren sie hinauf zum Onyx Club und dann zum Famous Door, lauschten dem Swing und tanzten bis zwei Uhr morgens. »Sweet Georgia Brown«, sang Abra und tanzte Lindy mit ihrem Bruder. Als sie Karen Sue und Ready in dem rauchigen, schummrigen Raum auf dem überfüllten Tanzboden zu »That Old Black Magic« Wange an Wange tanzen sah, stellte sie sich plötzlich vor, wie es sich anfühlte, in jemanden verliebt zu sein und ihn in den Krieg zu verabschieden. Sich zu verlieben war etwas, das anderen Frauen passierte, niemals ihr selbst, und während sie ihre Fähigkeit, Männer zu genießen, bisher darauf zurückgeführt hatte, dass sie nicht von ihnen individuell besessen war, fragte sie sich nun, ob sie unfähig dazu war und stets vermeiden würde, was andere so leidenschaftlich zu suchen schienen.
Eveline tanzte mit einem Leutnant, den Ready an ihren Tisch gebeten hatte. Karen Sue und Ready legten einen geschmeidigen, koketten Lindy hin. »In the Mood« war laut, die Blechbläser waren aufgestanden, um ihre Hymne zu schmettern, doch Djikas leise, schneidende Stimme neben ihr drang deutlich an ihr Ohr.
»Wenn man dich mit diesem Bruder sieht, versteht man allmählich, worauf sich deine Abneigung gegen Männer deines Aussehens und deiner Herkunft gründet.«
»Aber Ready ist mein Lieblingsbruder. Wir haben uns immer nahe gestanden.«
»Eben.« Djika nickte, als hätte sie gesagt: matt in zwei Zügen. »Ihr seht euch sogar ungewöhnlich ähnlich. Als Jugendliche fandest du ihn natürlich attraktiv, deshalb suchst du dir aus Furcht vor dem lauernden Inzest Männer aus, die auf gar keinen Fall zu deiner Familie gehören könnten.«
»Ah, die zweifelhaften Freuden von Freud«, witzelte Abra. »Beweise, dass du mit vier in deinen Vater verliebt warst, und was bringt dir das? Immer noch das gleiche Bündel gegenwärtiger Probleme. Ich hoffe sehr, dass ich den guten Geschmack hatte, Ready zu begehren und nicht meinen schauderhaft langweiligen Bruder Roger oder Vater.«
Djika belehrte sie zum dreißigsten Mal, Freud zu missachten sei naiv, doch Abra war überzeugt, dass ihr Männergeschmack sich weit mehr aus Neugier speiste, aus Leidenschaft, aus Lebenslust, aus Erfahrungshunger denn aus dem Inzesttabu, das Djika postulierte. Zurzeit waren derlei Überlegungen ohnehin reine Theorie, da sie für mehr als eine gelegentliche Nacht mit einem alten Verehrer zu viel zu tun hatte und ihre Neugier auf Oscar Kahan nach wie vor ungesättigt blieb.
Bei diesem Tanz war ein Funke übergesprungen, denn als Ready zum Tisch zurückkam, murmelte er Abra zu, dass er den Rest der Nacht mit Karen Sue verbringen würde. Am nächsten Tag erzählte er ihr, Karen Sue habe darauf bestanden, dass er so tat, als schliefe er auf dem Sofa, bis Eveline ins Bett gegangen war. Er hielt das für die Südstaatenart, erklärte Karen Sue ansonsten aber zu einem Rasseweib. Dann setzte Abra ihn in den Zug nach Maine.
An jenem Mittwoch saßen Djika, Karen Sue, Eveline und Abra zusammen und teilten sich ein von Karen Sues Haushälterin zubereitetes Hühnerfrikassee, eine Bowle und eine Honigmelone. Sie hatten die Schuhe ausgezogen, die Fenster ganz hochgeschoben und zwei Ventilatoren angestellt. Stanley Beaupere war mit Frau und Kindern an den Strand von Jersey in Urlaub gefahren und ließ Djika in der Stadt schmoren.
Die Sonne ging über New Jersey unter, und die grauen Schiffe versammelten sich auf dem Fluss. »Jeden Abend kommen sie hier zusammen«, sagte Karen Sue träumerisch. »Am Morgen sind sie alle fort. Das ist doch bestimmt irgendein Sinnbild, Schiffe, die in der Nacht verschwinden.«
»Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie verheerend es draußen auf Kap Hatteras aussieht«, sagte Eveline und schüttelte ihre Locken. »Der Strand ist übersät mit Wrackteilen und ölverschmierten Leichen.«
»Ich habe gehört, Blumenthal hat dir ab Herbst eine Assistentenstelle angeboten, und du hast sie abgelehnt, Abra.« Djika maß sie mit strengem Blick. »Was ist denn mit dir los? Wenn wir nicht Krieg hätten, müsstest du vierzig Jahre auf solch eine Chance warten.«
»Ich habe eine Ganztagsstellung bei einem Informationsdienst der Regierung.«
»Was machst du da?«
»Ach, Nachforschungen anstellen und Broschüren schreiben.«
»Was für Broschüren?«, fragte Djika.
Abra holte aus ihrer Schultertasche eine Broschüre mit dem Titel Kartoffeln fürs Vaterland. Sie reichte sie Djika und wusste nur zu gut, was ihre Freundin lesen würde:
Durch den Verzehr von Kartoffeln anstelle von Weizen können die Bürger der Vereinigten Staaten den Krieg gewinnen helfen. Wir haben nicht genug Weizen für unsere Verbündeten und uns selbst. Kartoffeln dagegen haben wir in Hülle und Fülle. Weizenmehl ist ein konzentriertes Nahrungsmittel und daher zur Verschiffung geeignet; Kartoffeln sind sperrig und demgemäß ungeeignet für die begrenzten Frachtkapazitäten …
Der Einleitung folgten seitenweise einfache Rezepte. Nach gekochten, gedämpften, geschnetzelten, gestampften, gebackenen, gefüllten Kartoffeln, Kartoffeln in Puffern oder Knödeln oder Aufläufen oder Salaten oder Kabeljauklößchen kamen die verzweifelteren Angebote: Kartoffelbrot mit gemahlenen Erdnüssen und eingeweckten Tomaten. Quetschkartoffeln als Ersatz für aufgeweichte Semmeln in falschem Hasen aus Kochfisch oder Hackfleisch. Fischkartoffelbraten. Fischhaschee mit kaltem Kartoffelpüree. Kartoffelnudeln. Kartoffeln im Schlafrock. Kartoffelwecken. Kartoffelplätzchen. Kartoffelkrapfen. Und dann das Finale: Kartoffeltorte.
Abras Erfahrung war, dass keine Neugier auf ihre neue Stellung überlebte, wenn sie der Kartoffelbroschüre ausgesetzt wurde. Schmunzelnd hatte Oscar einen Vermerk über ihre Pfiffigkeit weitergeleitet. Alle Frauen prüften nacheinander die Broschüre und sahen sie dann mit einer Mischung aus Mitleid und Bestürzung an. Das Thema wurde augenblicklich gewechselt.