- -
- 100%
- +
Abgesehen von Djika, die immer noch in zerfleischter Treue im Schatten von Stanley Beauperes offenbar solide gebauter Ehe verweilte, entbehrten sie alle die Gesellschaft von Männern. Ihre männlichen Kollegen verschwanden nach und nach vom Campus. An der Columbia verwandelte sich das Gelände zwischen den Gebäuden und unter den Bäumen, das immer gesellschaftlicher Treffpunkt gewesen war, in Exerzierplätze für Marinekadetten, die unter militärischer Disziplin standen und viel zu jung für sie waren. Das normale Muster ihres gesellschaftlichen Lebens sah jetzt so aus, dass sie die meisten Abende, die nicht von Arbeit oder freiwilligen Diensten in Anspruch genommen waren, mit ihren Freundinnen verbrachten. Wenn dann ein früherer Freund oder Bekannter Urlaub bekam, ließen die Frauen alles fallen, blieben bis zum Morgengrauen aus und holten sich ihren Schlaf nach dem hektischen Wochenende.
»Abra, komm mal ein Minütchen her«, bat Karen Sue. »Ich habe etwas, da möchte ich mal sehen, ob es dir passt, Kind.«
Was Karen Sue ihr anpassen wollte, war das Versprechen, Ready nichts davon zu sagen, dass sie schon einmal verheiratet war. »Schließlich war es gar keine richtige Ehe. Ich meine, es ist fast nichts passiert, und eine annullierte Ehe ist eine, die eigentlich gar nicht stattgefunden hat.«
Abra stöhnte. »Aber, Karen Sue, Ready denkt doch nicht, dass du Jungfrau warst, oder?«
»Was er in der Hinsicht denkt, braucht uns im Moment nicht zu beschäftigen, Abra, und so wahr du meine Freundin bist, möchte ich nicht, dass du über Dinge aus meinem vergangenen Leben sprichst, über die du sowieso nicht die ganze Wahrheit weißt, und deswegen schafft solches Gerede nur Verdruss. Ein loser Mund setzt Schiffe auf Grund.«
Abra ging grantig nach Hause. Sie wurde nicht gern vor die Wahl gestellt, Ready eine Wahrheit zu verschweigen, die ihn interessieren mochte oder auch nicht, oder aber Karen Sue zu verärgern, die sie wirklich mochte. Verflixte Karen Sue, hatte sie vielleicht die Absicht, Abras Schwägerin zu werden? Sie konnte sich das Bild nicht recht vorstellen, aber vielleicht konnte es Karen Sue, in einem goldenen Rahmen.
Wenn sie ihren Freundinnen genau erzählt hätte, was sie tat, hätte ihnen das ebenso sehr Rätsel aufgegeben, wie die Kartoffelbroschüre sie langweilte. Im Moment schienen Oscar und sie im Altkleiderhandel tätig zu sein. Nach wie vor sammelten sie mündliche Geschichten von neu angekommenen Emigranten, insbesondere von solchen, deren vormalige Adressen oder Geburtsorte von militärischer oder industrieller Bedeutung waren. Außerdem sammelten sie Armbanduhren, Füllfederhalter, Rasierapparate, Brieftaschen, Koffer, Unterwäsche, Mäntel, Hemden. Sie bezahlten für alles und hatten eine entfernt plausible Erklärung: Sie ermittelten den Zustand der deutschen Wirtschaft, und die Verarbeitung und die Metalle einer Uhr oder die Stoffqualität eines Anzugs konnten nützliche Informationen liefern. Alles wurde in ein Lagerhaus in Washington verfrachtet, wo dieses zusammengeraffte Material Agenten ausstattete, die hinter den feindlichen Linien abgesetzt werden sollten.
Die Informationen, die sie sammelten, die Erinnerungen, gingen ebenfalls nach Washington. Der Agent, der vor ihnen diese Sammlung von Informationen und Flohmarktfutter durchgeführt hatte, war nach London versetzt worden, wo er wahrscheinlich an etwas arbeitete, das mehr nach Oscars Geschmack war. So nahm nun Oscar jede Woche den Zug nach Washington, nicht nur, um die verknautschten Beutestücke der Woche auszuliefern, sondern auch, um sich in die eigentliche Recherche- und Analyse-Arbeit hineinzutricksen und hineinzuintrigieren. Die R & A-Abteilung von OSS in Washington, knurrte Oscar, wimmele von brillanten Köpfen. Sie mussten es schaffen, nach Washington abkommandiert zu werden.
Oscar verzehrte sich vor unterdrücktem Groll. Sie arbeiteten bis spät in die Nacht, versuchten, ihr Bestes zu geben, an sechs, oft sieben Tagen in der Woche, doch Oscar trat auf der Stelle. Er hatte die Columbia nicht verlassen, um alte Kleider zu sammeln, und er gab akademischen Rivalitäten die Schuld an dem, was er als sinnlose Vergeudung seiner Talente sah. Mit wachsender Frustration geschah es, dass er sie bat, ihn Oscar zu nennen, und in der Tat begann er, sich vertraulich bei ihr zu beklagen wie bei einer Ehefrau oder Geliebten. Abra, die die Berichte der Flüchtlinge immer noch faszinierend fand, litt weniger an Ungeduld. New York war ihr Zuhause, genau wie Oscars. Obwohl sie sich mit einem möglichen Umzug nach Washington abgefunden hatte, brannte sie nicht darauf, dorthin zu kommen.
Sie beobachtete amüsiert, wie sich unter dem Druck, den er erzeugte, die Förmlichkeit zwischen ihnen nach und nach abschliff. Sie war Abra, er war Oscar. Mittags aßen sie zusammen im Deli unten auf der Madison Avenue, oder sie ging ein paar Sandwiches holen. An dem Tag, an dem Oscar einen Kommunisten befragte, der bei der Handelsmarine gewesen war und daher voller Einzelheiten über den deutschen Schiffsbestand steckte, so dass ein ganzes Dossier über ihn zu OSS nach Washington gehen konnte, an dem Tag führte er sie in ein spanisches Restaurant in der Vierzehnten Straße zum Essen aus. Dort schien der Kellner ihn zu kennen, und der Geschäftsführer kam und brachte eine Platte mit kleinen Leckereien als Geschenk des Hauses, die sie zu ihrem Amontillado knabberten.
Von dem Essen und dem Wein blühte Oscar auf. Nicht, dass er auch nur im Leisesten beschwipst wurde, er entspannte sich einfach, und Entspannen hieß bei ihm, sie mit Beschlag zu belegen, zu bezaubern, sich für Privates zu öffnen, wie er es in den neun Monaten ihrer Arbeitsbeziehung bisher vermieden hatte.
»Wir waren vier«, sagte er. »Ich bin der Älteste. Als Nächster kam mein Bruder Ben, er ist immer noch in Pittsburgh und hat eine chemische Reinigung. Dann die beiden Mädchen, Bessie, die mit einem Zahnarzt verheiratet ist und so dick wie wir beide zusammen, eine wundervolle, warmherzige Mutter von fünf Kindern. Dann meine jüngste Schwester Gloria.« Er schaute finster auf seinen Teller mit Meeresfrüchten.
»Was macht sie?«
»Wenn ich das wüsste. Sie ist in Paris.«
»Immer noch? Warum ist sie nicht weggegangen, bevor der Krieg ausbrach?«
»Der Krieg hat dort zwei Jahre früher als hier angefangen, müssen Sie bedenken. Sie hat einen Franzosen aus dem niederen Adel geheiratet, und sie ist Modejournalistin. Ihr Metier, das sind die neuesten Kreationen der französischen Couturiers. Ich glaube, sie kam gar nicht auf den Gedanken, dass der Krieg Auswirkungen auf ihr Leben haben könnte. Und ich weiß nicht, ob er es tatsächlich hat.« Er rieb sich die Nase, als müsste er sie blankpolieren, und runzelte leicht die Stirn.
»Hat sie Kinder?«
»Nein, vereinbarungsgemäß nicht. Er ist ein ganzes Stück älter und hat Kinder aus einer früheren Ehe, die erbberechtigt sind.«
»Wenn er reich und adelig ist, muss er doch in der Lage sein, sie zu schützen, meinen Sie nicht?«
»Das hoffe ich. Es ist hart, nichts zu hören. Wir haben immer alle miteinander in Verbindung gestanden. Ich werde im September für die Hohen Feiertage nach Pittsburgh fahren, zu meiner Mutter. Gloria ist immer alle zwei Jahre herübergekommen, und ich habe sie in Paris besucht.« Er neigte den Kopf und schenkte von dem herben Rotwein nach. »Wie ist Ihre Familie? Stehen Sie sich nahe?«
Im Laufe der Mahlzeit bekam sie das Gefühl, dass Oscar schon andere Frauen hierher gebracht hatte und dass ein Teil des persönlicheren Tons dieses Abends nicht Berechnung oder Absicht von seiner Seite war, sondern einfach die Beibehaltung eines bereits bestehenden und angenehmen Musters. Sie musste innerlich schmunzeln. Genau wie sie war er es wahrscheinlich gewohnt, am Tisch irgendwelchen Liebsten gegenüberzusitzen, so dass beide die gewohnte Innigkeit auch an diesen Tisch mitbrachten. Dennoch wurde ihr die Zeit nicht lang wie so oft, wenn Männer über sich selbst redeten, denn ihre Neugier war von den Monaten unpersönlicher, aber tatkräftiger Zusammenarbeit gewetzt worden.
Sie erzählte ihm gerne von Ready, von Roger, von ihrem Hintergrund, der für ihn so exotisch war wie der seine für sie. Er kam aus einer Familie, die offenbar mit wenig Geld hatte auskommen müssen, in der aber seine Ausbildung an erster Stelle gestanden hatte. Vielleicht waren die mittleren Kinder ein wenig geopfert worden, oder vielleicht hatte ihnen einfach seine Begabung oder sein Ehrgeiz gefehlt. Dann, bei Gloria, waren die Zeiten einfacher gewesen und die anderen untergebracht, so dass alles nur Mögliche für sie erübrigt wurde und sie, die Schönheit, sich aufmachte, um die Welt zu erobern.
Doch die Verbindung aller untereinander, Zahnarztfrau, Reinigungsbesitzer, Akademiker und Dame von Welt, schien zu halten, unter lebhafter gegenseitiger Anteilnahme. Sie fing aus dieser Familie den würzigen Duft heftiger Gefühle auf, von verwickelten Hasslieben und Gebrüll und tränenreichen nächtlichen Telefonaten. Dennoch schien sich Oscar seiner Rangstellung ganz sicher zu sein, der Älteste, der Liebste, der ferne Mittelpunkt. Seine Mutter lebte noch und spielte eine Rolle in seinem Leben. Sein Vater war vor drei Jahren an einem Herzanfall gestorben. Seine Mutter, die offenbar die Familienschönheit besaß, erwog, wieder zu heiraten, und alle Geschwister bis auf die abgeschnittene Gloria intrigierten leidenschaftlich, um die Heirat mit einem Witwer zu fördern oder zu verhindern.
Er sprach gerade von seiner geschiedenen Frau, aber anders, als es Männer gewöhnlich taten. »Louise ist sehr stark, sehr intelligent, sehr begabt. Man sollte sie nicht nach diesen abstrusen Geschichten beurteilen, die sie am laufenden Band produziert. Sie hat einen blitzgescheiten Kopf und keinerlei Hemmungen, ihn zu benutzen. Sie ist sehr politisch und denkt sehr progressiv.«
Wenn sie weniger Wein getrunken und sich ihm gegenüber nicht immer noch im Ungleichgewicht gefühlt hätte, wenn sie weniger unter der immer noch wirksamen und daher unbedingt zu bekämpfenden Professor-und-Studentin-, Chef-und-Assistentin-Dynamik gestanden hätte, vielleicht wäre sie dann weniger spitz in ihren Fragen gewesen. »Wenn Sie Ihre geschiedene Frau so bewundern, wie Sie sagen, warum sind Sie dann nicht mehr verheiratet?«
»Schwer zu sagen. Die Scheidung war nicht meine Idee.« Oscar rieb sich wieder die Nase. »Ja, ich habe eine Zeitlang mit einer anderen gelebt, aber das war nichts, um deswegen solch einen Aufstand zu machen.«
Abra lachte. »Ich bezweifle, dass das die Sichtweise Ihrer Frau war.«
»War es auch nicht.« Oscar seufzte. »Ich verstehe nicht, warum Frauen unbedeutende Abenteuer so furchtbar schwer nehmen. Ich hatte die feste Absicht zurückzukehren.«
Abra hätte jetzt gern beteuert, dass sie keine Treue erwartete, doch schließlich war noch gar nichts zwischen ihnen vorgefallen. So behalf sie sich damit zu sagen: »Ich glaube, die Ehe und das Heim sind für viele Frauen wesentlich wichtiger als für mich zum Beispiel. Viele jüngere Frauen haben eine unabhängigere Haltung und weniger starre Erwartungen.«
»Ich hätte erkennen müssen, wie wichtig Louise das war. Sie ist ohne solche Sicherheit aufgewachsen, und als die bedroht war, wollte sie mich einfach abtrennen.« Oscar schüttelte den Kopf. »Ich muss meine Tochter Kay öfter sehen. Ich habe mich völlig von Arbeit zudecken lassen. Falls wir bald nach Washington gehen, besteht umso mehr Grund, mir Zeit für sie zu nehmen.«
Während sie ihren Kuchen aßen und einen spanischen Weinbrand tranken, behielt Abra deutlich das Gefühl, dass sie auf dem Wege waren, persönlicher zu werden. Liebende oder Freunde? Abra vermochte nicht einmal einzuschätzen, ob auf dem wimmelnden Feld seines Lebens Raum für eine Affäre mit ihr war. Sie wäre bequem einzufügen, zumindest das sprach dafür. Sie überlegte, ob sie es war, die den ersten Schritt tun musste.
Immer stärker beschlich sie das Gefühl, sich in ein Geschwader, einen Pulk, einen Schwarm von Beziehungen zu zwängen. Anders als die meisten Männer ihrer Bekanntschaft, bei denen Familien nur als Hintergrund oder als Quelle möglicher Einmischung vorkamen, schien Oscar eine ganze Heerschar von Menschen im Schlepptau zu haben, mit denen er immer noch ständige Beziehungen unterhielt; und sie hatte das beklemmende Gefühl, noch nicht einmal die Hälfte seines Lebens zu überblicken. Ihn zum Liebhaber zu nehmen mutete an, als ließe sie sich nicht auf ihr übliches diskretes zweisames Treiben ein, sondern auf eine ganze Sippe. Seine Arbeit mochte geheim sein, aber seine Beziehungen schienen ganz offen dazuliegen, im vollen Sonnenlicht gegenseitiger Beachtung und allgemeinen Gerangels. Seine Frau, seine Tochter, seine Mutter, seine Schwestern und sein Bruder, seine früheren Geliebten, seine Freunde, alle schienen Abra anzuschauen und auf die nächsten Entwicklungen zu lauern. Vielleicht war sie betrunken, aber sie spürte fast körperlich den heißen Blick vieler dunkler Augen auf dem Gespräch ruhen.
Naomi 3
Der Rachen schließt sich
Leib ging Naomi nicht aus dem Sinn, und sie hatte deswegen ein nicht ganz reines Gewissen. Da sie ihn viel toller fand als Murray, konnte sie sich nicht vorstellen, warum Ruthie Murray vorzog. In ihrer Phantasie kam Trudi ganz plötzlich um, ohne Schmerzen, und Leib ging mit ihr auf und davon. Naomi war nicht an den Jungen in ihrer Klasse interessiert, die manchmal auf ihr herumhackten und sie hänselten und Lieder sangen, dass französische Mädchen Schlüpfer aus Seidenpapier trugen und anderen unanständigen Quatsch. Sie war jetzt das drittgrößte Mädchen in der Klasse, das größte weiße Mädchen.
Den Schulweg ging sie mit Sandy Rosenthal, aber ihre eigentliche, geheime Freundin war Clotilde. Schwarze und weiße Mädchen durften nicht befreundet sein, deshalb verbargen sie ihr Geheimnis vor Lehrern und Kindern gleichermaßen. Beide achteten darauf, Momente zu erwischen, wo sie miteinander Französisch sprechen konnten, wo sie teilen konnten, wie fremdartig sie das Leben hier fanden, die Schule, die Stadt, das Essen, das Wetter. In ihren Augen war Clotilde schön, mit der Haut wie Holz und Asche zugleich, den großen, strahlenden graubraunen Augen, den gleichmäßigen, leuchtend weißen Zähnen, dem krauslockigen Haar, das wie Rot und Schwarz zusammen war. Clotilde war zu sanftmütig für Detroit, für die gleichgültigen Grobheiten der Schule mit den Rüpeleien, den Herausforderungen, den Prügeleien auf dem Schulhof, der Subkultur aus schweinischen Witzen und Bandenkriegen und Horrorcomics. Ihr Vater war in einem U-Boot im Pazifik, was sich für beide ziemlich furchterregend anhörte. Da musste er eine Art Diener abgeben, aber nachts auf dem Turm Wache stehen, weil, erklärte Clotilde verächtlich, die Marine meinte, Neger könnten im Dunkeln besser sehen als Weiße.
Manchmal hatte Naomi das Gefühl, in Detroit in einen heftigen, seit Generationen andauernden Familienkrach zwischen den Farbigen und den Weißen geraten zu sein, nur dass die streitenden Parteien einander nicht einmal deutlich wahrnahmen und dass die Weißen alle Macht hatten, wie die Nazis in Frankreich. Sie hatten die Polizei, die Verwaltung, die Schulen, die Krankenhäuser, einfach alles. Naomi konnte sich ausrechnen, wer den Kürzeren zog, ohne ihre Beobachtungsgabe anzustrengen.
Als die Sommerferien kamen, freute sie sich mehr darauf als je zuvor, denn die Schule war eine Prüfung, die nie aufhörte. Aber dann merkte sie nur allzu rasch, dass ihre Ferien keine waren, denn die Tagesstätte ging sommers weiter wie winters. Außerdem versorgten jetzt Tante Rose und Sharon auf gleichem Raum mehr Kinder als vorher. Naomi wurde einkaufen geschickt, ein schwieriges Unterfangen durch die roten Marken und die blauen Marken und welche Marken diese Woche gültig waren und welche benutzt werden mussten, bevor sie verfielen.
Sharon sagte, was für ein Glück Naomi hatte, so früh alles über Babys zu lernen, denn sie selbst hatte vorn nicht von hinten unterscheiden können, als sie Marilyn bekam. Nun konnte Naomi bald einem Mann eine gute Frau werden, denn sie wusste bereits, wie sie ihre eigenen Babys nähren, baden, halten und anziehen musste. Sharon sagte, das war viel wichtiger als alles, was Naomi auf der Schule lernte, und hier bekam sie die richtige Erziehung.
Naomi widersprach nicht laut, aber sie fühlte sich nicht beglückt. Sie fühlte sich eingeklemmt. An den Spätnachmittagen entfloh sie, um an einer der Ecken Völkerball oder Brennball zu spielen. Jungen und Mädchen spielten bis Einbruch der Dunkelheit. Eines Abends versuchte Brillen-Rosovsky, sie zu küssen, als sie alle auf den Verandastufen des Hauses saßen, in dem Brille wohnte, und sie trat ihn vors Schienbein. Hinterher tat es ihr leid, dass sie mit dem Tritt nicht bis nach dem Kuss gewartet hatte, um herauszufinden, wie das war, aber sehr leid tat es ihr nicht.
Naomis Haar war so kraus wie eh und je. Sie überredete Ruthie, es ihr für den Sommer kurz zu schneiden. Tante Rose bekam einen Anfall, als sie sah, was Ruthie getan hatte, aber Naomi gefiel ihr neuer Haarschnitt. Tante Rose sagte, sie sähe aus wie ein Pudel. Naomi sagte, Pudel seien französisch und das sei sie auch. Tante Rose sagte, sie werde so frech und vorlaut wie amerikanische Mädchen, und wo sei das liebe kleine Mädchen geblieben, das zu ihnen gekommen war?
Naomis Brüste wuchsen. Die Brustwarzen juckten. Sie fühlte sich reizbar, und ihr war langweilig und heiß. Sandy wollte ein taubenblaues Kostüm und ein Taftkleid, wenn der Krieg vorbei war. Sharon wollte einen elektrischen Kühlschrank. Naomi wollte einundzwanzig, mit der Schule fertig und woanders sein. Wenn sie daran dachte, wie lange es noch dauerte, bis sie groß genug war, um irgendwas auf eigene Faust zu tun, fühlte sie sich im Voraus erschöpft. Es dauerte einfach zu lange, groß zu werden, es lohnte kaum das Warten. Am meisten freute sie sich auf die Tage, wenn der Eismann mit seinem Pferdekarren kam und sie sich ein Stück Eis zum Lutschen erbetteln konnte. Es war so heiß, dass Boston Blackie den ganzen Tag nur unter der blauen Hortensie im Hof schlafen wollte.
Vielleicht wurde sie mal Sekretärin wie Ruthie. Ruthie arbeitete nicht mehr in dem Kaufhaus, sondern sie hatte eine Stellung beim Wohnungsamt von Detroit. Für kürzere Arbeitszeit bekam sie mehr Geld. Rose sagte, Sekretärin sei genauso gut wie Sozialarbeiterin, aber Ruthie war nicht der Meinung und fuhr immer noch vier Abende die Woche zur Wayne.
Ruthie erklärte, dass sie nicht als richtige Sekretärin arbeitete, sondern im Schreibsaal für die Stenotypistinnen. Als Jüdin hatte sie Glück, solch eine Stellung zu finden, in einem Büro, aber es war nicht das, was sie wirklich wollte, und sie hatte nicht vor, auf Dauer dabeizubleiben, vertraute sie Naomi an. Ihrer Mutter erzählte sie das nur ein einziges Mal, denn Rose ging an die Decke, wenn sie so was hörte. Rose bekam es mit der Angst, wenn sie meinte, eins ihrer Kinder wollte etwas, was es nicht haben konnte, aber Ruthie sagte, dass Rose sich mit zu wenig zufrieden gab, weil sie nicht begriff, wie die Welt sich veränderte. »Für Leute wie uns kann alles nur noch schlechter werden oder besser.«
In letzter Zeit dachte Naomi viel über Geld nach. Als kleines Mädchen war es für sie selbstverständlich, dass ihre Eltern arbeiteten. Sie waren nicht reich, sie waren Arbeiter wie alle im Viertel, aber sie aßen gutes Essen, das Maman nach der Arbeit kochte, und alle Mädchen halfen, und sonntags fuhren sie aufs Land oder sie gingen ins Kino oder in den Jardin des Plantes oder das Musée de l’Homme. Jedes Jahr machten sie im August richtige Ferien und verließen für vierzehn Tage Paris.
Als Papa in den Krieg musste, war ihre Familie ärmer geworden. Seitdem hier der Krieg angefangen hatte, ging es ihnen besser. Tante Rose und Sharon verdienten Geld, Ruthie hatte eine bessere Stellung, Arty stand am Fließband im Fisher-Karosseriewerk, und Onkel Morris machte viele Überstunden. Das Auto war endlich abbezahlt. Die Miete war zweimal erhöht worden, aber jetzt mit der Mietpreisbindung blieb sie stabil.
Sie sparten und steckten das Geld in Kriegsanleihen. Ruthie gab Naomi jede Woche einen Vierteldollar, damit sie dafür in der Schule Verteidigungsmarken kaufen konnte, aber Naomi tat es oft nicht. Sie wusste, wie das Papiergeld, das die Regierung ausgab, sich über Nacht in simples Papier verwandelte, und sie brachte es nicht fertig, ihre Vierteldollarmünzen auf diese Marken zu verschwenden, mit denen man nicht mal einen Brief frankieren konnte. Ihrem Gefühl nach begriffen die amerikanischen Verwandten einfach nicht, dass man an Münzgeld festhalten musste. Sie hatte ein Versteck unter einer morschen Diele in dem Zimmer, das sie mit Ruthie teilte. Dort versteckte sie ihre Vierteldollars, zumindest bis feststand, ob die Regierung stürzen würde. Regierungen taten das oft.
Wenn sie Leute sagen hörte, wie schlimm Hamsterer waren, lastete ihr Hamsterschatz aus Ruthies Vierteldollars auf ihrem Gewissen. Aber wenn all das Geld, das Tante Rose und Onkel Morris in Papieranleihen verwandelten, futsch war, dann konnte sie alle retten. Silber und Gold waren echt. Tante Batya hatte Polen mit ein wenig im Mantelsaum eingenähtem Gold verlassen, und davon hatten die Balabans nach Frankreich kommen und von vorn anfangen können.
Wenigstens hatte Ruthie jetzt mehr Zeit für sie, denn Ruthie hatte aufgehört, mit Männern auszugehen. Manchmal ging Naomi mit Trudi ins Kino und manchmal mit ihrer ganzen Familie oder mit Sharon (Arty hatte Spätschicht und konnte nicht mit) und manchmal mit Ruthie allein. Kleine Restaurants und Geschäfte machten zu, aber die Kinos waren rund um die Uhr geöffnet und immer voll. Sie sahen Alan Ladd in Die Narbenhand, Greer Garson in Mrs. Miniver und Bob Hope in Geliebte Spionin. Sie saßen Abenteuer in Panama, Saboteure und Der Dollarregen aus, alle paar Tage zwei oder drei Spielfilme hintereinander.
Jeden Abend hörten sie Radio und lasen Zeitung, sogar Naomi, deren Englisch sich so weit verbessert hatte, dass sie die Zeitungen ebenso gut las wie Onkel Morris. Ihr Lieblingsfach war Geografie, was Teil von Gesellschaftskunde war. Sie liebte es, die Namen aus dem Radio und den Zeitungen auf Karten im Atlas zu finden und die Bewegungen der Armeen in Ägypten, Neuguinea und der Sowjetunion nachzuvollziehen, obwohl es stets darauf hinauslief, dass die Achsenmächte vorrückten. Immer mehr musste auf den Karten schwarz schraffiert werden.
Tante Rose hielt sie dazu an, im Haus und auf dem Hof den Sommer über barfuß zu laufen, denn Schuhe waren rationiert. Ihre Fußsohlen wurden so hart, dass sie vor Brille und Sandy prahlte, sie könne über Glasscherben gehen, ohne sich zu schneiden, also zertrümmerten die eine Limoflasche. Naomi wollte eigentlich nicht, aber sie setzte den Fuß auf die Scherben und humpelte darüber, und sie hatte recht, der Fuß blutete nicht. Sie gewann ein Zehncentstück von Sandy und eins von Brille, aber dann musste sie ihnen für die Hälfte des Geldes Eistüten kaufen.
Alvin drehte einen Hydranten auf, und alle rannten durchs Wasser und spritzten im Rinnstein, bis die Polizei kam. Trudi sagte, sie könnten zu ihrem Haus kommen und unterm Gartenschlauch durchlaufen. Trudis Eltern wohnten im Erdgeschoss eines Zweifamilienhauses, und ihr Vater sprengte gern den Rasen. Naomi bekam von Ruthie einen neuen Badeanzug, leuchtend grün mit rückenfreiem Oberteil und einem süßen Röckchen. Sie versuchte sich einig zu werden, ob sie darin sexy aussah. Sandy redete andauernd davon, was sexy war und was nicht. Ihr anderes Wort war ›traumhaft‹. Sandy redete zu viel von Jungens, aber weil sie so nah wohnte, konnte Naomi sogar mit ihr spielen, wenn sie auf die Tagesstättenbälger aufpassen musste.
Sandy hatte honigblondes Haar, ungewöhnlich unter den Juden ihres Viertels. Im Gesicht wirkte sie knochig, die Nase habichtartig, der Kiefer ein wenig vorspringend, aber Sandy bildete sich etwas auf ihr Haar ein und tat, als wäre sie hübsch, und alle andern machten das mit. Sandy musste auf ihren rotznasigen kleinen Bruder Roy aufpassen, noch ein Band zwischen ihnen.
Sandy redete sich ein, der Hof zwischen den beiden Häusern sei was Besonderes. Ihr Paps hatte eine große Kabeltrommel aus Holz mitgebracht, die sie als Tisch benutzten, mit Holzkisten vom Kaufmann als Stühlen. Manchmal hatten Sandy oder sie Geld für eine Limo, aber meistens nicht. Da bei beiden Familien Zucker stets knapp war, behalfen sie sich mit kaltem Wasser und einer Scheibe Zitrone und spielten, das seien Cocktails, während Sandy ihr die Texte von »Chattanooga Choo Choo«, »Praise the Lord and Pass the Ammunition«, »Blues in the Night« und »Jingle Jangle Jingle« beibrachte. Teenager – so nannte Sandy das – Teenager zu sein schien eine Menge Arbeit. Man erwartete von ihr, dass sie über die Red Wings Bescheid wusste, die Hockey spielten, und über die Tigers, die Baseball spielten, und dass sie die Namen der Spieler kannte, sogar derjenigen Spieler, die schon eingezogen worden waren, und das, obwohl sie noch nie ein Baseball- oder ein Hockeyspiel gesehen hatte.