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Am Abend saßen sie, nachdem es zum Spielen zu dunkel geworden war, auf den Verandastufen des Eckhauses, und Alvin ließ eine Zigarette rumgehen. Er mopste immer Chesterfields aus der Handtasche seiner Mutter. Naomi konnte schon daran ziehen, ohne zu husten. Ihr wurde schwindlig, aber das ließ sie sich nicht anmerken. Der Sommer war auch deshalb besser als der Winter, weil nach der Schule die Kinder sie eher in ihren Kreis aufnahmen, den Kreis der jüdischen Kinder ihres Alters aus den umliegenden vier Blocks. Es war, als zählte im Sommer alles nicht so stark, und alles wurde leichter genommen. Außerdem lernte sie auch. Wenn sie ihr eine Fluppe reichten oder schweinische Witze erzählten, dann reagierte sie nicht mehr mit Empörung, dann sagte sie nicht mehr, dass Tante Rose ihr so was verboten hatte. Sie machte einfach mit und hielt den Mund.
»Das wird unser Abschlussjahr«, sagte Sandy im gleichen Ton, in dem sie sonst sagte, Jungs seien traumhaft.
»Na und?«, sagte Naomi.
»Dann machen wir eine Abschlussfahrt nach Bob Lo. Es gibt ein Fest, und wir schreiben uns gegenseitig in unsere Autogrammbücher. Es gibt auch Tanz.«
Brille lachte. »Und die Mädchen müssen sich ihre eigenen Festkleider nähen, ha-ha, mein lieber Mann, wirst du blöd aussehen.«
»Bäh«, sagte Naomi. »Wenn ihr eure Anzüge nähen müsstet, was würdet ihr erst mal doof aussehen! Wisst ihr was, ich ziehe eine Einkaufstüte an. Die male ich rot an.«
»Frenchy, in einer Einkaufstüte siehst du bestimmt schnafte aus«, sagte Alvin.
»Die Laffen hier schmeißen neuerdings mit Sprüchen um sich«, sagte Sandy mit saurer Grimasse. »Die meinen, die sind richtige Casanovas.«
Aber schon fünf Minuten später jagten sie einander mit geschlossenen Augen um die große Ulme und spielten Blindekuh. Es machte Spaß, im Dunkeln herumzustolpern, aber Brille kniff sie hart in den Po. Als sie aufschrie, tat er, als wüsste er nicht, was war. »Ich hatte die Augen zu«, sagte er grinsend. »Woher soll ich wissen, was ich da gemacht habe?« Ihre Pobacke tat immer noch weh, und sie fand es unanständig, dass er sie da berührt hatte.
Am nächsten Tag gingen Alvin und Brille mit fünf anderen Jungen auf dem Weg zum Ballspielen vorbei und sagten nicht mal hallo. Sie taten, als sähen sie Sandy und Naomi nicht. Ich weiß nicht genau, ob es wirklich einen G-tt gibt, dachte Naomi, und obwohl es Sünde ist, das zu denken, und obwohl jetzt, wo ich eine Frau bin, alles zählt, denke ich trotzdem, das Leben könnte besser eingerichtet sein, ganz zu schweigen von Kriegen und Nazis. Wenn ich zu bestimmen hätte, dann müssten Kinder nicht dieses ganze Großwerden durchmachen. Bei mir würden alle Menschen groß geboren werden und das alles überspringen, dieses Warten und diese ganzen Umstände und dass man immer das Falsche tut und sagt.
Sie überlegte, ob es auch so schwer wäre, wenn sie zu Hause bei ihrer Familie wäre. Hier war sie in der Fremde und ohne ihre Zwillingsschwester. Sie würde nicht so schmollen und bocken und nach Sachen treten, wenn sie Rivka immer bei sich hätte, die wusste, was sie wusste, und sah, was sie sah, und sie ergänzte. Sie wäre nicht so unglücklich, wenn sie mit Rivka zusammen wäre, wie es eigentlich sein sollte.
Die Nacht war heiß und stickig. Detroit war wie ein weiter, niedriger, schlecht belüfteter Schrank voller Maschinen. Sie hatte eine Prüsche auf dem Po. Wie konnte er so was Gemeines machen, und warum? Jungs waren rätselhaft und doof, aber Mädchen gaben sich nun mal mit ihnen ab, also musste sie es auch.
Immer, wenn sie Ruthie was über Jungs fragte, redete die von Liebe, Liebe, Liebe. Sie liebte Ruthie, sie liebte Rivka und Maman und Papa. Sie liebte sogar Jacqueline. Aber die Vorstellung, Brille oder Alvin zu lieben, war ein unkomischer Witz, wie sich in einen Lastwagen zu verknallen. Mädchen redeten davon, in Tyrone Power verliebt zu sein oder in Alan Ladd. Sandy konnte sich nicht zwischen Harry James und Frank Sinatra entscheiden. So geschwärmt hatte Jacqueline wenigstens nicht. Vielleicht hatte sie ihre ältere Schwester nicht genug zu schätzen gewusst. Auf die unmittelbar vor ihr liegenden Jahre, wenn sie, wie Sandy immer sagte, in die Highschool kamen und richtig mit Jungs gingen, blickte sie angesichts solcher Aussichten mit argwöhnischem Abscheu.
Schließlich schlief sie ein, in ihrem von der Hitze und vom Schweiß verkrunkelten Bett. Obwohl die Wachen das Gebäude Vélodrome d’Hiver nannten, war es nicht Winter, sondern Sommer und heiß. Sie verbrannte vor Durst. Ihre Kehle war ausgetrocknet, ihre Zunge voller Blasen. Sie wunderte sich, wie die schreienden Babys das aushielten. Heute Morgen war eins gestorben, das kleine Mädchen mit den großen grauen Augen. Die junge Mutter hielt das Baby immer noch, wie eine schmutzige, schlaffe Lumpenpuppe, der Kopf baumelte.
Rivka spürte immer wieder Brechreiz, weil alle so stanken. Sogar die Erwachsenen rochen wie Babys, die sich vollgemacht hatten. Zu tausenden und abertausenden waren sie zusammengepfercht, in der Arena, auf den Tribünen oder auf der Rennbahn unter der blauen Glasdecke wie eine Verhöhnung des Himmels, die die Hitze und den Gestank hinunterdrückte. Die Wachen, Franzosen wie sie, aber plötzlich tückisch, brüllten sie andauernd an. Es war wie in einer Schule, wo grausame Schulmeister sie bestraften, aber die Erwachsenen wurden genauso bestraft wie die Kinder.
Sie hatten Hunger und Durst und lagen in ihrem eigenen Schmutz, so zusammengezwängt, dass alle aneinanderlehnten. Es war so laut und so überfüllt, dass sie es wie einen einzigen, in allen gemeinsam bohrenden Kopfschmerz empfand. Ein kleiner Junge, dessen Mutter vor zwei Nächten gestorben war, schloss sich an sie und Maman an. Er weinte jetzt nicht mehr viel. Er fühlte sich unter ihren Fingerspitzen feuerheiß an. Seine Wimpern hatten seine Augen zugeklebt, und er lag auf ihren Füßen mit dem Kopf in Mamans Schoß. Sein Name war Jules. Seinen Zunamen wusste er nicht. Er wusste auch nicht, wie alt er war, aber Maman hatte, als sie noch sprechen konnte, gesagt, er war wohl zwischen drei und vier. Sie selbst war Naomi-Rivka, beide zugleich, auch ihre Kehle brannte zu sehr vor Durst, um zu sprechen, zu weinen oder Maman zu fragen, wann es aufhören würde. Die Luft selbst war nur noch Schmutz, und sie spürte ihren Körper zerfallen wie verschimmelnden Käse …
Sie erwachte in ihrem dunklen, heißen Zimmer und hörte Ruthie im Bett unter ihr im Schlaf seufzen. Boston Blackie lag auf ihren Füßen und schnarchte leise. Sie fühlte sich von Angst zerschunden. Sie fühlte sich, als blutete sie Angst ins Bettzeug. Es war nur ein Albtraum. Aber das glaubte sie nicht. Das glaubte sie ganz und gar nicht.
Louise 3
Nachmittagssonne
Der Sand versengte Louise die Fußsohlen, als sie mit Claude zwischen Zwergblaubeeren und Hartgras über eine niedrige Düne zum Strand ging, wo Badende sich schon einen Pfad durch den Stacheldraht gebahnt hatten. Die Wellen bäumten sich auf, um schneidig anzurollen, obwohl der Wind nur noch eine sanfte Brise war. Ein Sturm war unlängst aufs Meer hinausgezogen, hinter den fernen Horizont wie der Krieg, hatte Seetang angespült, vereinzelte verbogene Metallstücke, Geschosshülsen und in der Nacht zuvor eine Leiche, so hatte Louise im Dorf gehört, als sie zum Einkaufen hingeradelt waren. Louise hatte seit Jahren auf keinem Fahrrad mehr gesessen, aber nach einer schlimmen Nacht mit schmerzenden Waden, über die sie sich nicht beklagte, hatten ihre spannkräftigen Muskeln sich erinnert und wieder darauf eingestellt.
Claudes drahtiger Körper in gestreiften Badehosen war für sie eine Neuheit, immer noch ein wenig erschreckend. Er war dünner als Oscar, leichter gebaut, und bewegte sich mit einer nervösen Behändigkeit und Schnelligkeit. Sie ertappte sich dabei, wie sie ihn wieder einmal mit Oscar verglich, und verzog angewidert das Gesicht. Hörte sie denn nie damit auf? Seit sie mit ihm in diese Ferienwoche gefahren war, überfiel sie immer wieder das Befremdende an dieser Nähe zu einem Mann, der nicht ihr geschiedener Mann war. Hundert kleine Gewohnheiten und Gebräuche waren ihr neu und überraschend, dass er einen Schlafanzug trug, dass er in Französisch sang, wenn er etwas Handwerkliches tat wie den Blaufisch ausnehmen. Sie hatten ihn von einem Fischer bekommen, mit dem sie beim Betrachten der Boote im Hafen ins Gespräch gekommen waren.
Als sie nach dem Baden Seite an Seite lagen und das Salzwasser auf der Haut trocknen ließen, schwiegen beide. Sie lag auf dem Bauch und hatte sich gegen die Sonne den Strohhut in den Nacken geschoben. Sie war dankbar, eine Woche außerhalb von New York zuzubringen. Kay war fort und arbeitete als Betreuerin in einem fortschrittlichen Ferienlager. Normalerweise wäre Kay ein Jahr zu jung dafür gewesen, aber dem Lager fehlten Betreuer, da die Jungen an die Wehrpflicht verloren waren. Louise empfand mehr Erleichterung als Schmerz, zwei Monate von Kay getrennt zu sein. Sie hatten sich ziemlich oft gestritten. Kay gabelte nach wie vor Soldaten auf und behauptete, alle ihre Freundinnen täten das. Louise hatte ihr das Taschengeld gestrichen, ihr Szenen gemacht, ihr gut zugeredet, Familienfreunde eingeschaltet, darauf bestanden, sie von der Schule abzuholen, sie eine ganze Woche lang nicht aus dem Haus gelassen, aber Kay war genauso dickköpfig wie sie. Louise hatte Kay den Einsatz als Betreuerin besorgt, um sie vor Schwierigkeiten zu bewahren.
Sie sog den salzigen, fast rauchigen Moschusduft ihres Arms ein. Er roch wie eine essbare Köstlichkeit. Sie musste an Kays Haar denken, wenn sie in der Sonne gespielt hatte, als sie schließlich genug Geld hatten, um gelegentlich Urlaub zu machen. Sie erinnerte sich an Ferien in Montauk Point, wo es billige Fischerhütten gab. Der Salzgeschmack des Ozeans war etwas, das als Erster Oscar ihr geschenkt hatte. Sie trödelten immer zu dritt den Strand entlang und suchten nach Strandgut, hoben Muscheln und Steine auf, zerknallten die prallen Kapseln von Blasentang. Sie hatte es genossen, Brooklyn zu entkommen. In einem klümpigen Doppelbett zu liegen und die Wellen hereinrauschen zu hören war erotisch und anheimelnd zugleich gewesen.
Claude regte sich und seufzte. Er lag auf dem Rücken und schirmte mit einer Hand seine blassblauen Aquamarinaugen ab. Plötzlich drehte er sich um. »Ich weiß nicht, warum, aber ich dachte gerade an St. Malo. C’est en Bretagne. Warst du je dort?«
»Ich bin leider noch nie in der Bretagne gewesen.«
»Ich verbrachte oft den August in einem kleinen Steinhaus am Strand. Da gibt es Sand und Marschland wie hier, aber auch Granit. Die Knochen des Landes.«
Obwohl er ich sagte, spürte sie deutlich, dass seine Gedanken auch bei seiner Familie in Frankreich waren, bei der Frau und den zwei Kindern. Mehr wusste sie darüber nicht, nur, dass seine Frau nicht bei ihm war und dass er sich selbst als alleinstehend beschrieb.
Er setzte sich auf. Er schien entschlossen, an der Gegenwart festzuhalten, und fuhr ihr mit der Hand zärtlich über den Rücken. »Du sagtest aber doch, du warst in Frankreich? In Paris, ja?«
»Viermal. Die Schwester meines geschiedenen Mannes lebt dort. Vielleicht kennst du sie?«
»Paris ist eine große Stadt, kein Dorf, Lulu.«
Warum gaben Männer ihr immer Kosenamen? Sie hatte Oscar nie Schatzi oder Scheißerle oder Ossie genannt. Sie redete Claude mit Claude an. Aber jeder Mann, mit dem sie sich je eingelassen hatte, erfand einen Namen für sie, als brächte sie das in seinen Besitz. »Eure Wege hätten sich ja zufällig kreuzen können.«
»Wie heißt sie?«, fragte er ohne Interesse und schlug nach einem Sandfloh.
»Sie schreibt unter dem Namen Gloria Ivoire, aber das ist nur ihr Pseudonym für Modeartikel. Sie berichtet für Harper’s Bazaar und McCall’s über die Pariser Modeschöpfer. Sie lebt unter dem Namen ihres Mannes als die Baronne de Montseurrat, Gloria Barthoise.«
Er lachte, ein scharfes Geräusch überraschter Freude. »Ich habe sogar mit ihr diniert. Weitaus schöner als die Mannequins, über die sie schreibt, aber verheiratet mit einem Mann von lähmender Langeweile. Er hält sich Rennpferde – und sieht ihnen ähnlich.« Claude lächelte, wach, ganz anders fasziniert, als er sich sonst zeigte, obgleich er wie Oscar ein Mann war, den – zumindest kurz – fast alles interessieren konnte. »Ich staune, dass du Gloria kennst. Ich kannte sie schon ein halbes Jahr, als ich erfuhr, dass sie Amerikanerin ist. Sie spricht fast akzentfrei. Eine Frau von beneidenswertem Stil und vielleicht noch beneidenswerterem Verstand. Aber du sagtest, dein geschiedener Mann kommt aus Pittsburgh?«
»Gloria auch«, sagte Louise und setzte sich auf.
»Gloria Neige Noire, so nannten wir sie. Also so etwas.« Er lächelte wieder, aalte sich im Sand und im Klatsch der Hautevolee. Es war, als häutete er sich aus seinen amerikanischen Jahren und als ermöglichte sie ihm, über die Menschen zu reden, die ihm im wirklichen Leben etwas bedeutet hatten. »Sie hatte einen leicht skandalösen Ruf, der ihr bis zu ihrer Heirat anhaftete. Eine Abenteurerin mit entsprechenden Liebhabern. Aber dann – nichts mehr. Die Rechtschaffenheit in Person. Die Langeweile der Treue. Eine plötzliche Kälte.«
Louise lächelte höflich, dachte aber auch über die Formulierung nach, die Langeweile der Treue. Sie hatte Treue nie langweilig gefunden. Sie hatte sie Oscar uneingeschränkt entgegengebracht und vergeblich zurückerwartet. Wenn Oscar die Formulierung gebraucht hätte, hätte sie sofort Streit begonnen, aber hier kam das für sie offenbar nicht in Frage. Sie musste noch viel über Claude lernen.
»Wie hast du sie überhaupt kennengelernt?«
»Wir begegneten uns im Haus eines Produzenten, als ich Geldgeber für La Tête du Bonhomme suchte. Außerdem gehe ich gern zu den Rennen in Longchamp. Die Menschenmengen beobachte ich noch lieber als die Pferde. Kleine Wetten machen und leidenschaftlich Anteil nehmen, wenn ein Klepper gewinnt oder verliert, Champagner trinken und die schönsten und elegantesten Frauen von Paris beobachten. Hier gibt es nichts Vergleichbares. Gar nichts.« Er sah müde aus.
Sie hatte für einen Augenblick das Gefühl, sie seien ein seltsam ungleiches Paar. Louise konnte sich nicht für die Rennen in Longchamp erwärmen, und was fing jemand, der die schönsten und elegantesten Frauen von Paris verehrte, mit ihr an?
Er sah stirnrunzelnd auf. »Aber Gloria Ivoire ist doch bestimmt nicht jüdisch?«
»Aber ja. Ihr Mann natürlich nicht. Sie steht in engem Kontakt mit ihrer Familie. Beziehungsweise tat sie es bis Dezember einundvierzig. Seither haben wir nichts mehr von ihr gehört. Ich weiß, Oscar macht sich große Sorgen.«
»Ich denke, sie ist einigermaßen sicher. Die Nazis und die französische Rechte sind zwar hinter den Juden her, aber sie ist gut geschützt, verheiratet mit diesem Nichts aus untadeliger Familie. Wir konnten ihm übrigens nie Geld entlocken.«
»Ich vermute auch, sie ist sicher, aber es wäre beruhigend, es zu wissen. Ich habe keine Ahnung, wie Gloria darauf reagiert, in einem besetzten Land zu leben. Sie hat einen eisernen Willen und verabscheut es, irgendetwas auf Befehl zu tun.«
»Ich könnte es für dich herausfinden«, sagte er beiläufig. »Wenn du es wirklich wissen möchtest.«
»Doch, ja.« Sie nahm das Angebot nicht ernst. Er gab sicher an, ging davon aus, dass sie es vergessen würde.
Am Abend fand er einen Grill in dem Schuppen neben dem Haus und beschloss, den geschenkten Blaufisch zu grillen. Das war seine Vorstellung vom einfachen Leben: im wohlausgestatteten Haus eines Freundes mit Haushaltshilfen im Hintergrund zu Gast sein und einen Fisch über offenem Feuer grillen. Eine frische Brise peitschte herüber vom marschigen Meeresarm am Fuße des Hügels, auf dem das Haus stand, ein graues, verwittertes Doppelhaus im Cape-Cod-Stil mit vielen kleinen Zimmern im Obergeschoss, die alle ineinander übergingen. Rund um den Rasen aus Fingergras, auf dem Claude seine Feuerstelle errichtet hatte, blühten in Rosa und Kirschrot Rosa rugosa, die wilden Strandrosen mit den übergroßen Hagebutten.
Das Haus gehörte einem Schauspieler, der es nur im August benutzte, ein Mann, der für gewöhnlich barsche Landärzte spielte oder verrückte alte Wissenschaftler und abgeklärte alte Anwälte. Das Haus war schön gelegen und solide gebaut, mit breitdieligen Fußböden aus dem achtzehnten Jahrhundert und einem Rundkamin, aber die Zimmer waren klein, und es gab keinen verbindenden Korridor. Badezimmer waren nachträglich eingeflickt worden, unter anderem in einer alten Gebärkammer. Um eins davon aufzusuchen, musste sie durch andere Schlafzimmer gehen, erträglich, solange sie nur zu zweit waren, aber unvorstellbar für sie, wenn das Haus mit Kindern und Erwachsenen voll belegt war.
Zum Haus gehörte ein ortsansässiger Schreiner, der das Wasser und den Strom anstellte, wann immer ein entsprechendes Telegramm kam, der Feuerholz stapelte und Kaputtgegangenes reparierte, ferner eine Witwe, die kochte. Heute war ihr freier Abend. Für Louise war das eine neue Lebensweise, aber eine, an die sie sich leicht gewöhnen konnte. Claude, der noch nie da gewesen war, steckte voller Anekdoten über das Haus, das Städtchen und jetzt den Fisch, den er bereitete.
»Blaufische sind Tiger«, verkündete er. »Sie geraten in einen Fresstaumel, wo sie ihre Beute bis an Land treiben. Sie beißen sogar einem Schwimmer einen gehörigen Happen aus.«
Ich lerne etwas über mich und über ihn, dachte Louise. Sie entdeckte Ähnlichkeiten zwischen Oscar und Claude, ebenso wie Unterschiede. Sie schien heftig von Männern angezogen, die sich bemüßigt fühlten, alle, die ihnen über den Weg liefen, mit ihrem Charme zu bestricken, wohingegen sie eine Person war, die eher zurückhaltend auftrat. Weder im Bus noch auf dem Postamt fing sie Gespräche an. Doch Oscar tat das. Und Claude ebenfalls. Beide gabelten Wildfremde auf und krempelten sie um wie Taschen voll seltsamem Krimskrams. Wenn sie ins Restaurant gingen, war es beiden ein Anliegen, dass der Kellner oder die Kellnerin sie mochte. Louise war es ein Anliegen, dass ihr Kellner oder ihre Kellnerin anständig bezahlt wurde, gut bediente und außerhalb des Restaurants ein glückliches und erfülltes Leben führte, aber es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich zu fragen, ob dieser Mensch sie mochte oder nicht, oder ihn gewogen zu stimmen.
In vieler Hinsicht waren die beiden verschieden, ermahnte sie sich rasch, denn gelegentlich überkam sie die Angst, dass sie versuchte, etwas zu wiederholen, was unwiederholbar war. Oscar war ein Intellektueller. Er träumte in Ideen. Für einen Intellektuellen war er ein ungewöhnlich körperlicher und sinnlicher Mann, aber er liebte es zu argumentieren, zu erkunden, seine Ideen an Fakten und anderen Theorien zu messen, um festzustellen, wie sie unter Herausforderung klangen.
Claude nahm das Licht auf dem verwitterten Holz wahr, die Schräge der Deckenbalken über den breiten Fußbodenbrettern, die Art, wie der Schreiner, der sich um das Haus kümmerte, vornehmlich sein rechtes Bein belastete, wenn er bergauf oder bergab ging. Claude liebte Klatsch und Histörchen und Spekulationen, warum jemand etwas getan oder nicht getan hatte. Wenn ihm etwas fremd war oder er sich ein Verhalten nicht erklären konnte, wie zum Beispiel das der Schwalben, die auf sie zuschossen, wenn sie hinten um den alten Schuppen gingen, und die durch die dämmerige Abendluft flitzten, dann erfand er Geschichten darüber. Die Schwalben, sagte er, waren die Geister von Menschen, die zu beschäftigt gewesen waren, um das Leben zu genießen, die sich inmitten tausender zu erledigender Dinge nie eine Woche freigenommen hatten und mit einer oder einem schönen Geliebten durchgebrannt waren, und so hatte Venus sie im nächsten Leben damit bestraft, ziellos und immer in schrecklicher Eile hin und her fliegen zu müssen. Oscar dagegen hätte ein Buch über Schwalben gelesen und dann ihr Verhalten genau studiert.
»Eigentlich fangen sie, glaube ich, Insekten.« Louise saß auf der Bank und verfolgte seine Bemühungen. Sie tranken Weißwein, den er mitgebracht hatte. Mitten im Krieg hatte Claude immer Wein.
»Genau. Kann es eine größere Strafe geben, als das nächste Leben damit zuzubringen, Moskitos, Fliegen und Mücken zu essen? Würde dir das gefallen? Nein? Dann musst du immer bereit sein, dein Leben zu unterbrechen, wenn Venus dich ruft. Sonst rächt sie sich.«
Louise hatte starke Zweifel, dass Claude der erfolgreiche Regisseur geworden war, weil er andauernd seine Projekte hingeworfen hatte und mit einer Geliebten durchgebrannt war, aber sie hatte auch Zweifel, dass er für solche Unterbrechungen je weiter gehen musste als in ein günstig gelegenes, ja benachbartes Schlafzimmer. Die Hitzewelle verlangsamte alles in New York, er hatte ein wenig Zeit, und er hatte die letzte Woche in New York verbracht und musste die nächste in Washington verbringen. Sie bezweifelte nicht, dass er sie sehen wollte, aber sie erkannte auch, dass der Zeitpunkt nicht von Leidenschaft diktiert war, sondern von günstiger Gelegenheit. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Nicht mehr wollen, als er von sich aus anbot, genießen, was möglich war, und sich im selben Moment abwenden, wenn er es tat, oder, im günstigsten Fall, kurz vor ihm loslassen.
Mit jeder Begegnung fand sie ihn attraktiver, seine Augen aus Aquamarin wie die Ohrringe, die sie einmal geschenkt bekommen hatte, weil Aquamarin ihr Monatsstein war, seinen agilen, drahtigen Körper, den Tennis und sein eigener Energiepegel in Form hielten trotz der Mengen von gutem Essen und Wein. Eine weitere Ähnlichkeit, warnte sie sich: beide gute Esser, voll Appetit und Abenteuerlust, knurrig, wenn sie nicht genügend und prompt gefüttert wurden. Wenn er die Gefahr sah, eine Mahlzeit zu versäumen, konnte Oscar einen Koller bekommen, den andere Männer sich für Untreue aufhoben.
Claudes Brauen verliefen völlig gerade ohne jede Wölbung, nicht buschig auf den Brauenwülsten, sondern dünne braune Striche wie mit einem eiligen Bleistift gezogen. Sein Mund war voll, die Oberlippe beherrschte die untere. Er rasierte sich täglich, doch sein Körper war wenig behaart, ein paar feine Kupferdrähte unter den Armen und kraus um den Ansatz seines kurzen, stämmigen Penis. Seine Haut bräunte zu einem dunklen Goldton. In der Sonne funkelten Messingglanzlichter in seinem dunkelbraunen Haar. Sie hatte begonnen, jenes Schmelzen zwischen den Hüftknochen zu spüren, wenn sie ihn ansah. Ihr Körper hatte Lust, ihm schweifwedelnd hinterherzutrotten und ihm die feuchte Nase in die Hand zu legen. Ihr Körper war wohlig zufrieden und ließ es an Würde vermissen.
Er schlief gern morgens mit ihr und dann wieder, wenn sie vom Strand zurückkamen. Er redete dabei, bis zu dem Punkt, wenn er in sie eindrang, was einiger Gewöhnung bedurfte. Er pries ihre Brüste und Hüften, gab ihr Kosenamen, sagte ihr, was er gleich mit ihr tun würde, sagte ihr, was sie gleich mit ihm tun würde. Er sprach Französisch und Englisch und gelegentlich eine Sprache, nach der sie ihn schließlich fragte, Rumänisch. Er redete nicht mit ihr, sondern mit sich selbst, entschied sie, er erregte sich damit, bewies sich, was er tat, machte es mit seinem fortlaufenden Kommentar intensiver.
»Voici, le petit bouton rose, comme il se gonfle. Jetzt wirst du mich gleich um meinen Mann anflehen, und er wird hart zwischen deine kleinen Lippen stoßen.«
Sie schlief gerne mit ihm, blendete meistens einfach aus, was er sagte, als sei es eine Geräuschkulisse oder musikalische Untermalung. Sie konnte sich nicht plötzlich in eine Frau verwandeln, die über den Beischlaf redete, während sie ihn vollzog. Ihre paar Versuche, es ihm gleichzutun, hatten sie nur in Verlegenheit gebracht. Sie sah keinen Grund, warum sie nicht schweigen und ihm überlassen sollte, sie beide in einen Tümpel sexueller und halbsexueller Worte zu tauchen. Er mochte es nicht, wenn sie ihn bestieg, sondern zog die Missionarsstellung vor oder das Eindringen von hinten. Er knurrte, er stöhnte, er biss in ihre Schultern. Er hatte mehrere verschiedene Rhythmen. Ihr Körper öffnete sich weit für ihn und nahm ihn tief in sich auf, verflüssigte sich, wurde sorglos und glühend reif.
Im Bett redete Oscar nicht viel, also hatte vielleicht er ihre Schweigsamkeit verursacht, oder vielleicht war sie ihr angeboren. Nie hatte Oscar ihr im Bett den Namen einer anderen Frau gegeben. Doch eine der Frühwarnungen, dass er etwas mit einer anderen hatte, war, wenn er anfing, kleine neue Dinge zu tun. Plötzlich fuhr er ihr mit der Zunge in den Mundwinkel, rieb ihr mit kreisenden Bewegungen den Bauch. Diese neuen Finessen waren durchaus genussreich, aber sie jagten ihr auch kalte Schauder über den Rücken, denn sie lernte sich zu fragen: Wo hat er sich das abgeguckt? Es war großzügig von ihm, jeden Genuss, der ihm widerfuhr, zu ihr heimzutragen, aber ihr wäre lieber gewesen, er hätte stattdessen ein Handbuch über sexuelle Praktiken oder einen Pornoschmöker gelesen.