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Manchmal fühle ich mich zur Lehrerin berufen, weil ich die Begabung dafür habe, und ich halte das für eine ebensolche Begabung wie die zur Schauspielerei, die ich gleichfalls zu besitzen glaube. Maman sagt mir, dass alle jungen Mädchen Schauspielerinnen werden wollen, weil sie sich vorstellen, das brächte Glanz und Ruhm. Ich weiß, dass es harte Arbeit ist, eine andere Persönlichkeit anzunehmen. Maman hält mich für naiver, als ich bin. Beide Begabungen erfordern, andere zu verstehen, und beide erfordern eine besondere Art der Demut. Maman meint, es ist Egoismus, der mir den Wunsch eingibt, Schauspielerin zu werden, aber ich sehe es als eine Art Selbstverleugnung, worin meine eigene Persönlichkeit sich dem Charakter einer anderen unterordnet, einer Berenice, einer Phädra, einer Julia.
Literatur zu unterrichten heißt gewissermaßen, sie darzustellen. Beide Gaben beeinflussen und ergänzen einander, aber ich fürchte, beide Begabungen zu haben ist so schlimm, wie keine zu haben. Maman hat etwas Grausames zu mir gesagt, als ich ihr gegenüber meine Zweifel erwähnte, meiner Berufung zu folgen. Sie sagte, ich nähme mein hübsches Aussehen viel zu ernst. Seitdem habe ich mich einer Selbstdisziplin unterworfen, die wenigstens mir beweisen soll, wie sehr sie sich in ihrer Einschätzung meiner Ernsthaftigkeit irrt. Ich habe mir die ganze Woche lang verboten, in den Spiegel zu schauen. Wenn ich mir die Haare kämme, tue ich es nur mit dem Tastsinn. Niemand in der Familie hat meine neue Disziplin bemerkt, aber das ist mir recht, denn wenn ich sie erklärte, würde ich bestimmt für meine Anstrengungen verspottet werden.
Ich verstehe nie, was die Leute meinen, wenn sie mich hübsch nennen, denn wenn ich in meine Augen schaue, sehe ich Verzweiflung, Entzücken, Freude, Trauer, eine gründlich forschende Neugier, Mitgefühl, einen distanzierten, fragenden Geist; Chaos und Kampf. Marie Charlotte ist hübsch. Sie hat ein gelassenes, reines Gemüt, in dem unumstößliche Ideen zur Ruhe kommen, und sie ist mit ihnen zufrieden, so wie ich mit den Möbeln in meiner Mansardenkammer zufrieden bin. Aber ich glaube, mein Gesicht ist so wandelbar wie meine Seele. Vielleicht kann ich nur als Schauspielerin diese Tiefen und Höhen enthüllen, diese Stürme, die unsichtbar toben und mich zutiefst durchrütteln. Wenn andere mich hübsch nennen, meinen sie mir zu schmeicheln, aber ich fühle mich geschmälert, unsichtbar hinter der Maske, die sie erschaffen, nicht ich.
21 février 1940
Papa hat seinen Gestellungsbefehl, und wir sind alle erschüttert. Er ist sehr fröhlich und sagt, wir sollen uns keine Sorgen machen, es sei nicht anders, als ginge er in ein Ferienlager. Es ist wahr, der Kriegszustand ist bisher friedlich gewesen, und ich denke, die sensationslüsterne Berichterstattung der ersten Wochen ist verklungen angesichts der Wirklichkeit des modernen Krieges, der hauptsächlich eine Angelegenheit des Disputierens und des Sitzens zu sein scheint. Das entsetzlich eisige Wetter geht weiter, der härteste Winter, an den ich mich erinnern kann, als beklagte die Natur unsere Torheit in dieser langen, lächerlichen drôle de guerre.
Ich habe mich Papa in letzter Zeit entfremdet gefühlt, aber jetzt wünsche ich mir, wir könnten uns einander besser mitteilen. Unsere Meinungsverschiedenheiten beruhen in Wahrheit darauf, dass Papa es vorzieht, sich kulturell einzugrenzen, während ich versuche, meinen Horizont zu erweitern. Ich glaube, wir haben einander den Streit über das Farband-Picknick letzten Sommer nie verziehen. Ich weiß, dass ich recht hatte, aber vielleicht habe ich den Sachverhalt zu unverblümt dargestellt. Schließlich habe ich nichts mit einem Haufen bäurischer Jünger des einfachen Lebens zu tun, nur weil sie jüdisch sind. Jüdisch zu sein ist auch eine Sache des Zufalls. Ich bin jüdisch geboren worden, aber was bedeutet das? Als Religion finde ich es absurd. Als Speisegesetz archaisch! Mir wird gesagt, diese polnischen Flüchtlinge, die Balabans aus Kozienice, sind meine Tante, mein Onkel, meine Kusinen, aber ich kann mich mit ihnen nicht einmal über die simpelsten Dinge unterhalten, über Tische und Stühle, geschweige denn über meine Gedanken, meine Gefühle oder meine Ambitionen.
Ich verstehe Papas Engagement in der Poale-Zion nicht. Die Vorstellung, dass wir uns alle aufmachen und in den Orient gehen, um Dattelbauern zu werden, ist ein Hirngespinst, das ich keine fünf Minuten ernst nehmen kann. Papa ist immer Sozialist gewesen, aber seit zwei Jahren hat er sich für den törichten Zionismus engagiert. Ich könnte mir vorstellen, dass er von der Armee ohne dieses Gepäck heimkommen wird. Er braucht mehr Kontakt mit intelligenten Franzosen, die sich mit modernen Ideen auseinandersetzen. Seine Intelligenz ist größer, als für seine Fabrikarbeit benötigt wird, deshalb tendiert sein Denken zu Disziplinlosigkeit.
Papa hat große Kraft, was manchmal wundervoll ist und manchmal peinlich. Ich weiß immer noch nicht, ob ich ihn für den Vorfall im letzten Herbst bewundern soll oder nicht. Wir warteten in einer Menschenmenge darauf, dass die mairie ihre Pforten öffnete, und als es zwanzig Minuten lang nicht geschah, warteten alle weiter und murrten. Und Papa ist einfach zur Spitze der Schlange vorgegangen und hat die Tür aufgestoßen. Sie war die ganze Zeit unverschlossen!
Trotzdem traf mich sein Gerede, ich solle mich mit Jungens »meiner eigenen Art« treffen, als ordinär und geschmacklos und obendrein völlig unempfänglich für die Person, die ich wirklich bin. Ich verstehe nicht, was mir ein künftiger Traktorfahrer zu sagen haben könnte oder was ich Papas Ansicht nach mit ihm gemein haben soll. Das ist eine von diesen monomanischen Zwangsvorstellungen. Wenn Papa und sein copain Georges zusammensitzen, können sie manchmal nur darüber reden, wer alles Jude ist und wer nicht. Das erinnert mich an dieses Luder Suzanne, nachdem sie mit ihrem ebenso ordinären Freund geschlafen hatte. Da ging sie die Straße entlang und rätselte, welche noch Jungfrau war und welche nicht.
Maman hat furchtbare Angst und wird viel Beruhigung und Trost brauchen, das sehe ich schon. Die Zwillinge heulen und klammern. Ich komme mir wie die Einzige mit einem kühlen Kopf vor!
16 juin 1940
Tatsächlich, die Deutschen sind hier, und es ist kein Massaker oder Blutbad, obwohl sie uns gezwungen haben, die Uhren eine Stunde vorzustellen, damit wir deutsche Zeit haben. Es ging ruhig und geordnet zu, kaum ein Schuss ist gefallen, und alle sind ein wenig betäubt. Ich sah einige gutgekleidete Menschen den vorbeimarschierenden deutschen Truppen zujubeln. Die schienen im Großen und Ganzen sauber und manierlich. Ich denke, unsere Angst ist von den Zeitungen aufgeblasen worden, die nichts anderes zu tun haben, als Sensationsgier zu erzeugen. Ich bin überzeugt, Maman schämt sich, die Zwillinge mit ihrem Chef M. Cariot in den Süden nach Orléans geschickt zu haben.
Ich habe mich der Suche nach dem Allgemeinen, dem Inbild des Allgemeingültigen verschrieben, denn nur so können wir uns rigoros aus dem Morast des zufälligen Besonderen erheben. Meiner Ansicht nach ist Patriotismus nicht nur eine Zufluchtsstätte für Schufte, sondern auch für Idioten und solche, die ihr ganzes Denken jeden Morgen vorgefertigt aus den geistlosen Zeitungen kaufen. Alle paar Jahrzehnte zetteln Regierungen Kriege an und versetzen die Menschen in Raserei, nur damit wir nicht die Unzulänglichkeiten unserer eigenen Seite erkennen, die Grundlagen unserer Gesellschaft in Frage stellen und vernünftige Institutionen und Gesetze fordern. Ich bin überzeugt, dass die Deutschen – abgesehen davon, dass sie eine andere Sprache sprechen – sich von uns hauptsächlich insoweit unterscheiden werden, wie wir uns als Individuen voneinander unterscheiden. Wir sind zwei benachbarte Länder, die anscheinend nichts Besseres zu tun haben, als alle paar Jahre übereinander herzufallen, eine große Anzahl junger Männer hinzumetzeln und dabei die Landschaft zu verwüsten. Ich nehme an, wenn wir den Mut hätten, die Wirklichkeit in Augenschein zu nehmen, statt alte Klischees zu wiederholen, dann würden wir feststellen, dass die Deutschen ein Volk sind wie wir, gut, schlecht und gleichgültig im selben Maße, wie wir es sind.
Wenn wir nur wüssten, wo Papa ist, wären wir wahrscheinlich ganz ruhig. Ich überquerte heute Nachmittag die Rue de Rivoli und habe dabei im Gedränge einen deutschen Soldaten angerempelt, einen Leutnant, glaube ich. Er hob die Hand an seine Mütze, lächelte und ging aus dem Weg – überhaupt nicht die Ungeheuer, die Säuglingen die Schädel zertrümmern, wie uns weisgemacht worden ist. So viel zur Unmenschlichkeit der Feinde. Ich habe von keinerlei Vergewaltigungen oder Plünderungen gehört. Die gendarmes sind wieder auf den Straßen und die Geschäfte wieder geöffnet.
29 juillet 1940
Papa ist wieder da! Erst die Zwillinge und dann er. Er ist aus einem Kriegsgefangenenlager entflohen. Er sagte, dass sie anfingen, die Juden von den anderen abzusondern, obwohl ich glaube, das ist nur ihr Sauberkeits- und Ordnungsfimmel. Sie sortieren gern alle in Schubfächer ein. Er arbeitete beim Müllkommando, als er aus dem Lager entfloh, und hat seine Uniform weggeworfen. Ich hoffe, er bekommt wegen seines übereilten Handelns keine Schwierigkeiten. Er wollte unbedingt nach Hause, aber es wird gesagt, dass die Deutschen sowieso bald alle Kriegsgefangenen entlassen.
Es ist, als habe seit seiner Rückkehr ein Erdbeben sein Epizentrum direkt unter unserer kleinen Wohnung. Er rennt herum und trifft sich mit all seinen copains von den alten radikalen Zeitungen und von der Poale-Zion. Sie haben sogar eine Delegation geschickt, um mit den jüdischen Kommunisten zu reden, von denen berichtet wird, dass sie dem Hitler-Stalin-Pakt nicht zustimmen wie der Rest der Partei. Früher weigerte sich Papa, mit Kommunisten überhaupt zu reden, aber jetzt hastet er in ganz Paris herum und bespricht sich mit jedem Brauskopf. Er hat eine Art jüdische Widerstandsbroschüre weiterverteilt, die sich Que faire nennt und von Hand abgeschrieben wird und die von Horrorgeschichten und Parolen strotzt wie partout présent: seid überall, und faire face: erhebt euch gegen sie. Ich bin erleichtert, dass Papa in Sicherheit ist – wie lange er es allerdings bleibt, wenn er so weitermacht, ist eine andere Frage. Doch ich muss sagen, bis uns die Zwillinge zurückgebracht wurden, dünner und verdreckt und voller Geschichten von brennenden Fahrzeugen und alleingelassenen Babys und im Tiefflug angreifenden Flugzeugen, war es hier außerordentlich friedlich, nur Maman und ich. Sie war krank vor Sorge, aber ich habe sie getröstet, und ich glaube, sie achtet mich jetzt mehr.
14 septembre 1940
Ich persönlich glaube, dass man eine innere Gelassenheit erreichen muss. Ich gebe zu, es ist beunruhigend, durch die Straßen zu gehen und Plakate angeschlagen zu sehen, welche die Juden en bloc anprangern, und all die pöbelhaften neuen Zeitungen zu sehen, die nichts tun, als allen Juden den Tod zu wünschen, Au Pilori zum Beispiel. Aber ich übe mich in Selbstdisziplin, während ich umhergehe, und sage mir, ich weiß, ich bin nicht schmutzig, ich bin nicht gemein, ich bin so französisch wie alle anderen und ebenso von französischer Kultur durchdrungen wie jeder meiner Lehrer, also bin nicht ich es, gegen die sich diese Gemeinheit richtet, und ich werde sie einfach nicht an mich heranlassen. Wütend werden bedeutet, denen Macht zu geben, die angreifen. Einen derartigen Angriff nicht beachten bedeutet, die Angreifer zu entmachten, nicht sich selbst. Wir geben diesen Schreihälsen ihre Macht, indem wir uns beleidigen lassen.
Papa und Maman sind sehr bestürzt, weil die Staatsbürgerschaft der Balabans widerrufen worden ist. Sie sind erst seit 1935 in Frankreich, und ihnen ist ihre französische Staatsbürgerschaft aberkannt worden. Sie tun mir leid, aber ich kann es nicht allzu befremdlich finden. Sie scheinen sich keinerlei Mühe gegeben zu haben, sich in die französische Gesellschaft einzufinden. Sie sprechen mit ihren Freunden nur Jiddisch oder Polnisch und sind unübersehbar Ausländer, sogar auf der Straße. Wenn man in einem anderen Lande lebt und sich so auffällig verhält, ist das für mein Gefühl nahezu arrogant. Trotzdem tun mir die Balabans unendlich leid.
2 octobre 1940
Jetzt ist Anordnung ergangen, dass wir alle zum zuständigen Polizeirevier gehen müssen, wo wir registriert werden wie Prostituierte oder Verbrecher und ein großes, hässliches JUIF auf unsere Ausweise gestempelt bekommen. Ich habe am Frühstückstisch angekündigt, dass ich einfach nicht hingehen werde. Ich dachte, Papa und Maman würden entsetzt sein, doch nein, Papa sagte, er wolle darüber nachdenken, was passieren könnte, wenn wir nicht gehorchen. Er findet es keine schlechte Idee, die Registrierung zu verweigern, wenn uns nur etwas einfällt, wie wir sie umgehen können. Ich weiß, es hat keinerlei Bedeutung, aber derart ausgesondert und gekennzeichnet zu werden finde ich einfach demütigend.
Marie Charlotte war in letzter Zeit äußerst merkwürdig zu mir. Die letzten beiden Male, die wir verabredet waren, ist sie einfach nicht gekommen. Sie hat mich schlicht sitzen lassen. Schließlich habe ich mich gestern mit ihr ausgesprochen. Sie sagte, sie habe mich immer noch sehr lieb, habe aber gehört, dass andere sie für eine Jüdin halten, weil sie immer mit mir zusammen ist, und dass sie Angst habe. Sie wolle kein solches Kennzeichen tragen, zumal sie als gute französische Katholikin geboren sei und ihre Mutter meine, es sei ihre eigene Schuld, weil sie sich mehr mit mir abgebe als mit ihresgleichen.
9 octobre 1940
Wir sind alle vorschriftsmäßig registriert, eine der demütigendsten Erfahrungen in meinem Leben. Seit Marie Charlotte abtrünnig geworden ist, habe ich mich mit einigen jüngeren Leuten angefreundet, die ich vor einem Jahr noch für Rowdys gehalten hätte. Sie sind gewiss keine achtbaren bürgerlichen Elemente, aber sie sind nicht unintelligent, und sie scheinen keinerlei Vorurteile zu haben, anders als viele Leute, von denen man dachte, sie stünden über solchen Dingen. Sie hören viel Jazz, besonders amerikanischen Jazz, und kleiden sich wie Bohémiens.
Es fasziniert mich, dass sie keine strenge Alterstrennung kennen. Einige von dieser neuen Clique sind auf der Universität, einige wie ich im letzten Jahr vom lycée und einige nicht mehr in der Schule, aber auch noch nicht im Beruf. Es ist nicht die Besonderheit ihres Stils, die es mir angetan hat, sondern ihre Toleranz. Sie scheinen nicht von der Angst besessen, die deutschen Erlasse zu befolgen, und es kümmert sie nicht, was ich bin, nur, wer ich bin. Dafür achte ich sie. Sie denken, ich bin zu ernsthaft, aber sie würden mir schon den Kopf zurechtsetzen. Das bezweifle ich, aber es tut gut, ins Café Le Jazz Hot zu gehen, wo sie meistens sind, und mich zu Freunden zu setzen und willkommen zu fühlen. In diesen Tagen ist es selten geworden, sich willkommen zu fühlen, und hinter ihrer Lässigkeit verbirgt sich eine Höflichkeit, die ich schätze.
Jeden Tag wächst in mir die Ungewissheit, was aus uns werden soll, aus uns allen, und ob ich je eine Chance bekomme, irgendetwas zu werden, geschweige denn die Wahl habe, ob Lehrerin oder Schauspielerin, denn Türen scheinen schneller zuzuschlagen, als ich auf sie zugehen kann. Ich fühle mich, wie sich eine Kreatur der Tropen gefühlt haben muss, als die Eiszeit kam und die Gletscher niederwalzten, was einmal üppige und blühende Bananenwälder waren. Ich fühle mich, als gehörte ich eigentlich nicht mehr zu meiner Familie, aber ohne einen eigenen Platz oder eine eigene Rolle zu haben, ohne eigenen Ort, an dem ich wahrhaft zu Hause bin. So ist es kein Wunder, wenn ich jetzt mehr und mehr Zeit mit meinen neuen unbürgerlichen Freunden im Café Le Jazz Hot zubringe.
Abra 1
Abra macht sich auf
Seit zweihundert Jahren fuhren die Männer in Abras Familie aus Bath, Maine, zur See. Abra fuhr nach New York.
Mit dreiundzwanzig meinte Abra, ihr richtiges Leben habe damals im September 1938 begonnen. Da hatte sie, mit neunzehn, vom Smith College ans Barnard gewechselt und endlich den Sprung nach Manhattan geschafft, dem glitzernden Land Oz ihrer Kindheit, wo sie ihrer Überzeugung nach immer hingehört hatte. Letztes Jahr war sie als Doktorandin zur Graduate School der Columbia in der Fachrichtung Politische Wissenschaften zugelassen worden. Abra hielt sich nicht für die geborene Gelehrte und konnte sich nicht recht vorstellen, selber zu unterrichten, doch zum einen genügte ihr die Graduate School an und für sich – Politik war schließlich das aufregendste Thema der Welt –, zum anderen waren die Studierenden in ihrer Fachschaft zu neunzig Prozent Männer, die Lehrenden zu hundert Prozent. Abra, die mit Brüdern aufgewachsen war, fand die Situation, die einzige Frau im Raum zu sein, völlig normal. Unter Männern lebte sie auf.
Sie hatte sich ihrer Jungfernschaft während ihres neunzehnten Sommers entledigt, draußen auf Popham Point, wo ihre Familie alljährlich den Sommer verbrachte, mit einem goldigen Jungen aus dem Ort, der inzwischen Hummerfischer war. Er hatte sie heiraten wollen, und sie hatte erkannt, dass sie, um gute Miene zum bösen Spiel zu machen, zum Schein einwilligen und vorgeben musste, die Heirat in Erwägung zu ziehen – oh, natürlich in ferner Zukunft, nach ihrem Examen. Abra war im gleichen Herbst ans Barnard gewechselt, und sie hatte nicht die Absicht, nach Bath zurückzukehren, außer natürlich in den Ferien, in denen John für zwei weitere Jahre ihre erfrischende Sommerromanze blieb. Zu einer Romanze gehörte für Abra guter, gesunder, akrobatischer Sex.
Nun war sie hier, dreiundzwanzig, mit quirligem Freundeskreis und eigener Wohnung im Village in der Bank Street, gemütlich, wenn auch ohne Fahrstuhl, einem guten Verhältnis zu ihrem Doktorvater Professor Blumenthal und einer stimulierenden Assistenzstelle bei seinem Freund Oscar Kahan im Fachbereich Soziologie. Ihre Familie war entsetzt, dass sie ihren Doktor machte; in ihren Augen war das unweiblich und würde zwangsläufig dazu führen, dass aus ihr eine verschmähte und bemitleidenswerte alte Jungfer wurde. Man verglich sie mit einer Abigail schrecklichen Angedenkens, die ein Blaustrumpf und eine leidenschaftliche Gegnerin der Sklaverei gewesen war und die tatsächlich einmal eine öffentliche Rede gehalten und mit dieser Schamlosigkeit Schande über die Familie gebracht hatte, woraufhin ihr Vater sie fünf Jahre lang eingeschlossen hatte. Abra, die gerade im Begriff war, ihren sechsten Heiratsantrag abzublocken, bezweifelte, dass sie auf einen einsamen Lebensabend zusteuerte. Der neueste Antrag kam von einem jungen Mann, den sie beim Tennis kennengelernt hatte und mit dem sie sich seit zwei Monaten traf.
»Was soll das, Hank? Willst du mich zu einer ehrbaren Frau machen oder irgend so ein Unsinn?«
Er saß auf dem kleinen Windsor-Stuhl vor ihrem weiß getünchten Backsteinkamin, in dem ein paar Birkenscheite von zu Hause lustig flackerten. Der Stuhl war zu klein für ihn und gab ihm ein grashüpferartiges Aussehen. »Ich glaube, du wirst mir eine gute Frau sein, Scotty. Deine Wildheit ist Jugend und Ausgelassenheit, ein Fohlen, das herumtollt. Du wirst zur Ruhe kommen.«
Ein Fohlen, das noch nicht zugeritten worden ist, meint er, dachte Abra und lächelte süß. »Meinst du, es ist die passende Zeit, um sich zur Ruhe zu setzen? Überall um uns herum geht die Welt zu Bruch.«
»Umso mehr Grund, ein Heim zu gründen. Ich glaube zwar, dass nicht einmal dieser Wahnsinnige, dieser Roosevelt, vorhat, uns in den Krieg zu führen, um Englands Kastanien aus dem Feuer zu holen, aber trotzdem kann ich jeden Moment einberufen werden.«
Stoßt ins Horn, dachte Abra. Ich soll mich deinen Familienvorstellungen opfern, weil du vielleicht als Offizier einberufen wirst? »Ich gäbe eine miserable Frau ab. Ich bin mit meiner eigenen Arbeit beschäftigt und habe nicht vor, sie zu vernachlässigen.«
»Bist du nicht schon lange genug zur Schule gegangen? Du bist eine richtige Frau, Scotty, und es wird Zeit für dich, wie eine zu leben.«
»Mir liegt sehr viel an dem, was ich tue.« Sie hörte sich anders mit ihm reden, alte Melodien, alte Texte. »Ich finde meinen Doktorvater Professor Blumenthal faszinierend, und mein Thema interessiert mich.« Ihr war sehr wohl bewusst, dass ihre Doktorarbeit über die Gewerkschaft der Damenbekleidungsindustrie Hank nicht interessierte. »Ich habe eine Stellung bei Professor Kahan –«
Abscheu huschte über Hanks blonde, adlernasige Züge, und er spannte erst den rechten, dann den linken Arm, eine nervöse Geste, die automatisch schien. »Krauts und obendrein Juden, Scotty. Also wirklich!«
»Professor Blumenthal ist ein in Deutschland geborener Jude. Wie zum Beispiel Marx.«
»Eben. Ich begreife nicht, wieso deine Familie das duldet.«
Abra betrachtete ihn und überlegte, welchen Grad an Frechheit sie sich gestatten würde. Sie hatte sich das selber eingebrockt, indem sie sich mit jemandem aus ihren eigenen Kreisen eingelassen hatte. Das hatte sie bisher noch nie getan, und sie beschloss, es in Zukunft zu vermeiden. Der einzige Vorteil, den sie entdecken konnte, war, dass sie den weiteren Verlauf des Gesprächs kannte, bevor dessen öde Vorhersehbarkeit von ihnen durchgespielt worden war. Sie stand auf, ging zur Wohnungstür, öffnete sie und stellte sich daneben.
Hank schaute sie verdutzt an. »Jemand draußen?«
»Du gleich, hoffe ich. Dein Mantel hängt am Haken. Hilf dir bitte selbst hinein.«
»Was soll das, Scotty? Das ist doch albern. Du kannst mir keinen Korb geben. Und nicht so.«
»Irrtum. Ich bin an Heirat nicht besonders interessiert. Und du wärst der Letzte, der in Betracht kommt.«
»Scotty, du weißt doch, dass wir uns lieben.«
In ihr blitzte Zorn über sich selber auf, sich in diese Bredouille gebracht zu haben. Sie musste das Tennisspielen aufgeben. Sie traf auf den Plätzen die falsche Sorte Männer. Die Männer, die sie auf Kundgebungen kennenlernte, waren eher ihr Fall. »Ich glaube, wir haben beide einen kleinen Fehler gemacht, der leicht zu beheben ist. Vergiss nicht deinen Hut.«
Langsam ging er rückwärts hinaus, Hut und Mantel immer noch in der Hand, und starrte sie fassungslos an. Dann rannte er die Treppen hinunter, und wenn die Haustür zuknallbar gewesen wäre, hätte er sie zugeknallt. Sie schloss sich jedoch in ihrem eigenen gemächlichen Tempo, mit einem pneumatischen Seufzer.
Abra dachte über die Ruine ihres Sonntags nach. Sie prüfte die Wasser ihrer Seele und fand sie nur lauwarm. Ein guter Tag, um zu Hause zu bleiben und etwas mehr an ihrer Doktorarbeit zu tun, als sie nur in der Öffentlichkeit zu erwähnen. Ihre Seminare würden bald abgeschlossen sein, aber sie hatte sich noch nicht ernsthaft ans Schreiben begeben. Sie sah sich um in ihrer kleinen, leicht künstlerisch angehauchten Bude mit der Hopi-Vase und der Mola aus Guatemala und der geschnitzten afrikanischen Gazelle, dunkler als die Nacht, inmitten leuchtend bunter Chintzkissen und zweihundert Jahre alter Möbelstücke aus der Familienrumpelkammer. Hank gehörte hier nicht her. Sie ja.
Die Ehe war für Abra etwas, das ihr in einem bestimmten Alter mit Sicherheit zufallen würde, so wie sie mit einundzwanzig ihr kleines Legat von ihrem Großvater Scott geerbt hatte und wie sie eines Tages von ihrer Großmutter Woolrich die Stühle mit den Leitersprossenlehnen erben würde, die sie dann irgendwo hinstellen musste, nebst einem weiteren Legat von dieser Familienseite mit sechsundzwanzig. Sie war der Überzeugung, dass die meisten ihrer Freundinnen aus dem College geheiratet hatten, um sich einen Platz zu erobern, eine Identität, doch dass sie sich ihren eigenen Platz schaffen konnte.
Sie verspürte kein Verlangen danach, reich zu sein; ihr Zweig der Familie hatte – zumindest seit dem Untergang ihrer Reederei – keinen Wert auf Geld um des Geldes willen gelegt, anders als ihr Onkel Frederick Woolrich, den sie immer gemocht hatte mit seiner Energie und seinem donnernden Gehabe, als gelte es, einen Sturm zu übertönen. Sie hatte Onkel Frederick im Verdacht, im Bett eine große Nummer zu sein, aber Inzest gehörte nicht zu ihren Lastern. Ganz im Gegenteil. Sie hätte Hank höflich sagen sollen, sie habe eine exogame Persönlichkeitsstruktur. Sie flog selten auf andere Blonde, und mit Hank war das Feuer einfach nicht angegangen. Ein Monat mit ihm war länger als ein Jahr mit Slim, dem schwarzen Saxophonspieler, obwohl sie sich in Wahrheit nur acht Monate lang hin und wieder mit ihm getroffen hatte. Slim lebte mit einer Frau zusammen, die das mit Abra irgendwann spitzbekommen hatte. Schade. Vor New York waren die einzigen Nichtweißen, die sie je zu Gesicht bekommen hatte, zwei ortsansässige indianische Fischer gewesen, doch Abra fand, dass sie dem liberalen Erbe der skandalösen Urgroßtante Abigail gerecht werden musste.