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Abra war in Bath aufgewachsen, in einer Familie, die dort beste Beziehungen unterhielt und wohlbekannt war, wenn auch längst nicht mehr so wohlhabend wie noch vor ein paar Generationen. Es gab eine kleine Bucht, die nach der Familie ihres Vaters hieß (wo sich die eingegangene Reederei befunden hatte), und eine Insel, die nach der Familie ihrer Mutter hieß. Sie war mit ihren beiden Brüdern in einem adretten weißen neoklassischen Haus mit Kuppel in der Washington Street aufgewachsen. Die Porträts an den Wänden zeigten nicht die Ahnen, sondern ihre Schiffe: Steife, förmliche Ölgemälde der Ebeneezer Scott, der General Abraham Woolrich unter unglaubwürdig vollen Segeln auf statischen Wellen wechselten sich ab mit naiven Darstellungen berühmter Schiffbrüche, die Mary Frances sinkt mit Mann und Maus vor Woolrich Island. Ahnenporträts schienen entbehrlich, denn ihr war immer gesagt worden, sie habe Großmutter Abra Scotts Nase und Großvater Timothys Augen. Sie hatte sich in die Familienerwartungen weniger hineingestellt als eingebettet empfunden, das Leben vor ihr ein regelmäßiges, vieljähriges Beet, das nur gelegentlich gegossen werden musste, bepflanzt mit Everetts und Timothys und Toms und Mary Franceses und Abras.
Die Sommer waren die freien und herrlichen Zeiten gewesen, immer auf dem Wasser – im Segelboot durch das Labyrinth der Wasserläufe und Nebenarme und Buchten des Kennebec gleiten oder im Motorboot hindurchtuckern oder sich auf den (für Maine) ungewöhnlichen Sandstränden ihrer Halbinsel aalen. Sie hatten für ihre Spiele sogar ein Fort aus dem Bürgerkrieg gehabt, mit Wendeltreppen und Verliesen und Wehrgängen. Sie kletterten über die Felsen, sie suchten Venusmuscheln, sie segelten mit ihren Vettern in Catbooten um die Wette. Die Lücke von zwei Jahren zwischen Everett, genannt Ready, und Abra, die in Bath während des Schuljahres weit klaffte, schloss sich im Sommerhaus.
Jeden Sommer kamen die New Yorker auf die Halbinsel, mit ihrem anderen Tonfall, anderen Werten, anderer Kleidung und anderen Haltungen; mit ihnen kam die Freiheit, die ihr zur Sucht wurde. In Bath stand sie immer unter jemandes erwartungsvoller oder ermahnender Beobachtung, aber draußen in dem einfacheren, schlichten Haus auf dem Hügel in Popham konnte sie der Überwachung jederzeit entfliehen. Einfach, indem sie zu einer anderen Insel oder außer Sichtweite segelte. Die Woolrichs hatten ihren Familiensitz auf einer Insel, die von der breiten Veranda ihrer Familie aus zu sehen war, und sie konnte immer sagen, sie segelte zu ihrem Onkel. Wenn das Wetter das Segeln verbot, dann gab es die Wälder voll Birken, Eichen und Tannen, die Marschen, die feuchtkalten Sümpfe, wo sie sich verlieren konnte. Abgeschiedenheit war nur einen Hügel weit fort. Die gesellschaftlichen Regeln, die die Tiefe und Häufigkeit aller Kontakte in Bath festschrieben, zerfaserten in der Sommerwelt aus Tanne und Fels, aus Nebel, der zauberisch und kühl hereintrieb, der blendenden Sonne, dem Wind, der anschwoll, bis sie sich selbst als eine reale Person empfinden konnte, mit einem Willen und einer Zukunft, möglicherweise ebenso stürmisch und wechselhaft wie die kalte See, die sie belebte. Sie konnte nicht zur See fahren, wie Ready es tun würde, also wählte sie anstelle der See eine Insel, die ihr ebenso frei und reich vorkam: Manhattan.
Sie aß in einem Nedick’s, das auf ihrem Weg zu der Wohltätigkeitsveranstaltung für den tschechischen Widerstand lag. An der Tür des gemieteten Saales traf sie zwei Freundinnen, Djika und Karen Sue. Djika war die einzige andere Doktorandin in ihrem Fachbereich. Karen Sue hatte in Memphis die gelangweilte Südstaatenschöne abgegeben, bevor sie eine unwürdige Ehe einging, die ihr Vater annullieren ließ; eine Erbschaft hielt sie in New York, wo sie das Leben lebendiger fand. Sie hatte eine große Wohnung auf dem Riverside Drive, wo sie oft Partys mit den Politikern aus ihrer Bekanntschaft veranstaltete.
Es war ein zusammengewürfelter Abend. Die Kommunisten durften zu ihren Veranstaltungen aufrufen, dann kamen Folksänger, Theaterleute, eine Menge tschechische Volkschöre und -sänger, viele zündende Reden über die tapferen Partisanen. Abra betrachtete den behaarten Jack Covington oben auf dem Podium, der sie einmal besprungen und sich in aller Eile befriedigt hatte und danach heruntergerollt war, dann am nächsten Morgen bedient werden wollte und sie nach einer Flasche Orangensaft, einem Paket Wheaties und Kaffeesahne losschickte. Diese eine Nacht hatte sie mit ihm verbracht, nachdem Hitlers Angriff auf die Sowjetunion die Volksfront wiederhergestellt hatte und sie und ihre interventionistischen Freunde wieder mit den Kommunisten redeten. Seitdem war sie bestrebt, eine Wiederholung zu vermeiden, auch wenn er bei ihrem Anblick jedes Mal das weite, zahnige Grinsen des Kühlergrills eines fabrikneuen Lastwagens aufsetzte und geradewegs auf sie zuging. Sie fand es enttäuschend, dass sich ein so männlich aussehender ehemaliger Hafenarbeiter im Bett als so dürftig erwies. Schmunzelnd konstatierte sie, dass sie seine Reden nun weniger mitreißend fand als zuvor. Nur gut, dass die allermeisten Leute wenig über die sexuellen Gepflogenheiten ihrer Politiker wussten.
»Ach, Jack schon wieder. Der Junge ist doch ein hohlköpfiger Langweiler«, nölte Karen Sue in ihrem zerdehnten Südstaatendialekt. Abra spekulierte, ob diese Ernüchterung auf ähnlicher Erfahrung beruhte, doch sie hatte nicht die Absicht, ihr Geschlechtsleben mit Karen Sue zu besprechen. Abra hielt sehr darauf, sich gentlemanlike zu geben.
»Na, hast du schon angefangen, für den großen Mann zu arbeiten?«, fragte Djika und beugte sich vor Karen Sue.
»Morgen ist der Erste des Monats, und da wird Professor Kahan mit mir zu arbeiten anfangen.«
»Ist doch absurd«, sagte Djika säuerlich, vielleicht auf die Anstellung eifersüchtig. »Du fängst am ersten Dezember an, und dann brichst du ab wegen der Ferien. Warum nicht bis zum ersten Januar warten?«
»Vielleicht macht ihr Professor die Ferien nicht mit«, sagte Karen Sue. »Schindet seine Assistenten zweiundfünfzig Wochen im Jahr zu Tode.«
»Ich möchte lieber so bald wie möglich die Arbeit kennenlernen«, sagte Abra. »Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen.« Sie war Oscar Kahan auf einer Tagung über den Faschismus vorgestellt worden, wo er einen – wie sie fand – redegewandten Vortrag gehalten hatte über die Spannungen zwischen der kleinbürgerlichen Basis des deutschen Faschismus und der wachsenden Freundschaft der Nazipartei mit der deutschen Industrieelite. Ihr eigener Doktorvater, Professor Blumenthal, war deutscher Flüchtling und kam aus der Frankfurter Schule. Kahan war einer der wenigen in Amerika geborenen Redner auf der Tagung, der Anspruchsvolleres zu bieten hatte. Und so hatte sie sich sehr gefreut, als Blumenthal sie Kahan empfahl.
»Ist er verheiratet, mein süßes Kind?«, fragte Karen Sue. Das war immer ihre erste Frage.
»Ich lasse mich nie mit jemandem aus meinem Fachgebiet ein. Ich habe eine exogame Persönlichkeitsstruktur.« Sie war ihren Satz doch noch losgeworden.
»Worüber redet ihr dann?«, fragte Djika verächtlich. Sie hatte seit zwei Jahren eine unglückliche, aber erfüllende Affäre mit einem verheirateten Professor, Stanley Beaupere. Wo Abra mit Einzelheiten geizte, drängte Djika beiden die genauen Worte von Stanley Beaupere auf und erheischte intensive intellektuelle Betrachtung und Analyse. Während der Verschleiß seiner Ehe fortschritt, wurde sie an den fadenscheinigsten Stellen Stich um Stich für Djikas zweiköpfiges Publikum aufgetrennt.
Djika war Flüchtling aus Danzig, obwohl es schwerfiel, sie so zu sehen. Djika lebte ihrer Überzeugung nach zwar nahezu im Elend, war aber besser situiert als Abra, wenn auch nicht ganz so wohlsituiert wie Karen Sue. Djika vereinte inbrünstigen Katholizismus mit inbrünstigem Sozialismus, Ersterer wurde von ihrer Familie geteilt, Letzterer nicht.
Djika war gescheit, und Abra schätzte sie um der harten, europäisch geschulten Intelligenz willen, die zugleich zugespitzter und breiter fundiert schien, als Abra es von ihren Kollegen gewohnt war; außerdem fand sie es recht praktisch, mit der einzigen anderen Frau in ihrem Fachbereich auf freundschaftlichem Fuße zu stehen. Wenigstens brauchte sie nicht immer allein auf die Damentoilette zu verschwinden. Karen Sue hatte sie auf politischen Partys kennengelernt und erst nach einer Weile als die Gastgeberin erkannt. Karen Sue schien nicht nur sehr viel von Kleidern, Modeschöpfern, Schnitten und Stoffen zu verstehen, sie war auch die einzige Abra bekannte Frau, die jeden Morgen The Wall Street Journal las, in Aktien und Obligationen spekulierte und zu verstehen schien, was sie da tat. Der Kontrast zwischen Karen Sues oberflächlichem Gehabe der Südstaatenschönen und ihrem Geschäftssinn reizte Abra, die Sachverstand als solchen bewunderte. Sie hatte sogar John gerne zugehört, wenn er über Hummerfischerei sprach, bis ihr schließlich die interessanteren Fragen wichtiger wurden.
Sie dachte mehrere Male daran, Karen Sue und Djika von ihrem Heiratsantrag zu erzählen, hielt aber jedes Mal den Mund. Warum? Sie mochte das Thema von Hanks Antisemitismus nicht zur Sprache bringen. Sie musste unbedingt mit Djika auskommen, und sie hatte einen gewissen Verdacht, was deren Einstellungen betraf. Sie fand es auch nicht besonders geschmackvoll, sich über Hank lustig zu machen, der ihr schließlich, egal, wie sie seinen Heiratsantrag empfand, eine Ehre hatte erweisen wollen. Nach reiflicher Überlegung kam sie zu dem Schluss, dass es sich schickte, ihren Sonntag für sich zu behalten.
Abras erster Eindruck von Oscar Kahan war, dass er kleiner war, als sie von der Tagung erinnerte, und dass er durch seine Energie mehr Raum einzunehmen schien, als er wirklich tat. Als er nun aufstand, um ihr die Hand zu schütteln, war sein Händedruck fest und warm, die Haut rosig gesund, der Handrücken behaart.
»Wir führen eine Reihe von Umfragen unter Flüchtlingen durch, die in den Gewerkschaften oder sonst in Europa politisch aktiv waren. Ihr Deutsch ist ausreichend?«
»Ausreichend ist das richtige Wort.«
»Wir werden es ausprobieren. Ich brauche jemanden, um die Frauen zu befragen. Einige der Fragen, die ich gerne beantwortet hätte, sind recht persönlicher Natur, und ich vermute, wir kommen weiter, wenn eine Frau sie stellt.«
»Darf ich fragen, warum Sie nicht einen Flüchtling dazu anstellen? Ich meine, es freut mich sehr, dass Sie mir eine Chance geben wollen …«
Viel stärker als ihr eigener Professor Blumenthal mit der hochaufgeschossenen Regenschirmgestalt machte er den Eindruck, einen Körper zu haben. Oscar Kahan war breitschultrig, mittelgroß mit leichtem Bauch. Sein Haar war dicht, kräftig und lockig, recht lang getragen. Er lächelte ihr zu, verschmitzt, wie sie fand. »Eine gute Frage. Aber jeder Flüchtling, der kundig fragen könnte, hat gleichzeitig einen eigenen Standpunkt. Es handelt sich um eine knifflige politische Situation, und ich möchte niemanden die Fragen stellen lassen, der meint, die Antworten zu kennen. Ich brauche eine naive Fragestellerin – relativ naiv, meine ich. Unberührt ist vielleicht das bessere Wort – unberührt von eigenen Aktivitäten und Ansichten im Gewirr der deutschen Parteien vor und nach Beginn des Dritten Reiches.«
Er trug eine rote Krawatte, die so schief saß, als hätte ihn eben jemand damit erwürgen wollen. Sein Jackett war aus hochwertigem irischem Tweed, sah aber aus, als schleppte er eine halbe Bibliothek und seine Pausenbrote in den Taschen. Sie beschloss, Djika nach Klatsch und Tratsch über ihren neuen Dienstherrn auszufragen. Sie spürte in sich ungehemmte Neugier, wenn sie ihm in die glitzernden dunklen Augen sah, dunkler noch als sein Haar. »Wann soll ich anfangen?«
»Jetzt. Heute. Ich möchte, dass Sie sich diese Anleitung zum Vorgehen bei der Befragung durchlesen und dann mit Ihren Fragen zu mir zurückkommen.« Er wies auf sein Vorzimmer. »Lesen Sie da draußen und klopfen Sie an, wenn Sie fertig sind.«
Zwei Studenten saßen dort, eifrige junge Männer, die sie mit dem tragischen Blick jener bedachten, die auf das Objekt ihres Verlangens hatten warten müssen. Durch die Tür seines Zimmers hörte sie den lebhaften Tonfall seiner Stimme, tief, klar, ein wenig gehetzt, als er mit dem Ersten sprach. Zu dem verbliebenen Studenten gesellte sich ein weiterer. Von Zeit zu Zeit wurde sie eifersüchtig beäugt, denn sie schien hierher zu gehören. Die Tür ging auf, und der erste Student wurde hinauskomplimentiert, mit feuereifrigem Ernst noch über die Schulter redend.
Während sie die Anleitung las, die er ihr gegeben hatte, wohlgeordnet und noch als Richtlinie spannend, kamen und gingen die Studenten, männliche und weibliche, groß und klein, gut und ärmlich gekleidet, aber alle leidenschaftlich auf die Zeit ihres Helden erpicht. Auf jede und jeden richtete er für einen Moment den Strahl seiner Aufmerksamkeit, gab ihnen das Gefühl, klug und einmalig zu sein. Dies war seine Sprechstunde. Er widmete sich ihnen und stieß sie dann hinaus in die kalte, eintönige Welt. Sie stolperten davon, immer noch in das Gespräch vertieft, das in ihren Köpfen weiterging und in dem sie seine Aufmerksamkeit nicht für fünf Minuten fesselten, nicht für zehn, nein, auf Dauer. Abra verstand das. Sie war selbst fasziniert. Es versprach, viel aufregender zu werden, als sie gedacht hatte.
Naomi 1
Naomi/Nadine ist nur die eine Hälfte
Die Stiefel knallten im Gleichschritt aufs Pflaster. Maman drängte Rivka im Hauseingang an die Wand, damit sie nichts sah. Als sie protestieren wollte, brachte Maman sie unsanft zum Schweigen und drückte sie fest gegen die kalten Steine. Durch ein Gitterfenster starrte eine Concierge sie aus feindseligen Knopfaugen an, eine Kröte in ihrem Käfig, die darauf wartete, mit Fliegen gefüttert zu werden. »Macht, dass ihr wegkommt, ihr gehört hier nicht her«, schnauzte die Concierge sie an. »Solche wie euch wollen wir hier drin nicht.«
Maman beachtete die Concierge nicht und hielt Rivka immer noch fest an die kalte Wand gepresst. Immer noch hämmerten die Stiefel vorbei, dass das Pflaster davon dröhnte wie eine Kesselpauke.
Als Naomi wach wurde, hörte sie, wie Ruthie im Etagenbett unter ihr sich im Schlaf bewegte und leise stöhnte. Boston Blackie schlief, alle viere von sich gestreckt, auf ihren Füßen, denn sie hatte ihn in den letzten Monaten aus Ruthies Bett hochgelockt. Unten im Keller hörte sie den Heizkessel rumoren, Onkel Morris Kohlen schaufeln und die heiße Luft mit mächtigem Zischen aufsteigen, sobald die Wärme einsetzte. Dann konnte sie hinunterklettern, um sich an die Heißluftklappe zu stellen, wo sie gestern ihre eiskalten Sachen ausgelegt hatte. Sie konnte ihre Unterwäsche anwärmen, ihren Schottenrock und die Kniestrümpfe und die weiße Bluse und die rote Strickjacke, ihre Halbschuhe: alles neue Sachen, die Tante Rose mit ihr in der Innenstadt in Sam’s Billigkaufhaus erstanden hatte, wo Ruthie arbeitete.
Wenn sie zu schnell aufwachte – wenn es draußen laut krachte, ein Lastwagen eine Fehlzündung hatte, die Müllmänner mit den Tonnen polterten –, dann packte sie im Dunkeln panischer Schrecken, und sie wusste nicht, wo sie war, und schrie mitunter in Französisch: »Maman, qui est là? Maman, tu es ici? Rivka!« Aber sie spürte, dass Rivka nicht da war. Zu Hause hatten sie ihr ganzes Leben lang in einem Dreiviertelbett geschlafen, in dem Alkoven der salle à manger, in einem Bett, das sich zu einem Diwan zusammenklappen ließ. Rivka lag immer an sie geschmiegt. Wurde eine von ihnen nachts wach und tappte über den Flur zum WC, so schlich die andere hinterher. Jetzt drückte sie den Kater an sich, wenn sie aufwachte.
In den ersten Nächten hier im Haus ihrer Tante und ihres Onkels in Detroit im vergangenen Juni war sie aus dem oberen Bett gefallen, weil sie auf der Suche nach ihrem Zwilling im Dunkeln herumgerollt war. Alle, die ihr hier begegneten, sahen nur sie, aber sie wusste es besser. Sie war nur eine Hälfte. In der Nacht spürte sie manchmal ihre andere Hälfte. Sie wusste inzwischen, dass sie darüber nicht sprechen durfte, mit niemandem, nicht mal mit ihrer lieben Kusine Ruthie, zu der sie aus Respekt und Zuneigung Tante sagte, die sie trösten, sie hätscheln, aber die sie nicht verstehen würde. Sie war auch so schon zu fremd. Sie arbeitete hart daran, sich anzupassen.
Sie gewöhnte sich langsam an die Nachtgeräusche hier. Es war eine lärmige, unruhige Nacht, eine Haut, die sich nie ganz bilden konnte. In Paris war es vielleicht auch einmal so gewesen, aber sie erinnerte sich vor allem an die stille, gefährliche Zeit, als jeglicher Verkehr aus der Stadt verschwunden war und auch nie mehr richtig wiederkam. Alle, die reich genug waren, ein eigenes Auto zu besitzen, sprangen hinein und fuhren vor den deutschen Soldaten davon. Überall in ihrem Viertel konnte man Hunde und Tauben hören. Dann waren Rivka und sie vor den Deutschen weggeschickt worden. Mit Mamans Chef, dem Kürschner, waren sie nach Süden gefahren, hinein in den dichten Stau aus Wagen und Fuhrwerken, auf den die Flugzeuge schossen.
Jetzt sprach Naomi nie mehr Französisch, nur noch mit Boston Blackie, wenn sie mit ihm allein war. Dann schnurrte er. Sie fühlte sich, als schwebten losgelöst in ihr alle möglichen Lumpen, die einmal gute Kleider gewesen waren, Papierfetzen, die einmal kostbare Bücher gewesen waren, Geschirrscherben, die einmal die Teller mit den gelben und blauen Blümchen gewesen waren, von denen sie täglich gegessen hatten. In der Schule hielt man sie für lernschwach. Sie schaute das Ding an, das sie an ihrem Fuß zuschnürte, und als Erstes kam ihr das französische Wort dafür in den Sinn, chaussure, und dann kam das jiddische schich, und dann drehte sich Leere in ihrem Kopf, und wenn sie Glück hatte, kam schließlich das englische Wort für Schuh, für Halbschuh.
Anfangs lachten die Kinder sie aus, weil ihr Englisch die falsche Sorte Englisch war. Sie sprach die Wörter so aus wie die Engländer, einmal, zweimal, aber nicht dreimal. Sie ahmte nach. Sie gab sich große Mühe, und oft ging es daneben, aber sie war dankbar. Die Siegals hatten sie aufgenommen, was ihnen weniger bedeutete als ihr. Eines Tages würde Papa kommen und sie holen und zu Maman und Rivka und ihrer älteren Schwester Jacqueline zurückbringen. Papa hatte ein Motorrad, und so sah sie ihn kommen, auf dem Motorrad knatterte er durch die Straßen von Detroit.
Sie hatte jetzt drei Vornamen. Zwei Vornamen hatte sie schon immer gehabt, Naomi zu Hause, ihren hebräischen Namen, und Nadine in der Schule und in ihren Papieren. Die Art, wie ihre neue Familie Naomi aussprach, machte daraus einen neuen Namen: Näi-ou-mih, aber dafür trug sie hier überall ihren hebräischen Namen. Jetzt musste sie sagen, dass ihr Familienname Siegal war und nicht mehr Lévy-Monot, denn die Siegals hatten sie angeblich adoptiert, aber Papa hatte gesagt, das war nur eine Formalität, um die Einwanderungsbehörden an der Nase herumzuführen, und sie blieb immer seine Tochter. Siegal stand jetzt in ihren Papieren, genau wie bei Ruthie Siegal, Onkel Morris Siegal, Tante Rose Siegal und ihren Vettern Duvey und Arty. Alle Papiere waren jetzt Lügen. Nur so kamst du über die Grenze. Als Jude durftest du nie deinen richtigen Namen verraten, höchstens einem anderen Juden, aber oft nicht mal dann. Naomi wusste, sie musste sich jeden Tag große Mühe im Nachahmen geben, damit niemand merkte, dass sie ein Flüchtling war.
Papa war im Süden – nicht, was hier gemeint war, wenn Onkel Morris sagte, reiche Juden fuhren den Winter über in den Süden. Damit war hier Florida gemeint. Sie glaubte nicht, dass es reiche Juden gab. Sie hatte davon gehört, war aber nie welchen begegnet. Alle Juden aus ihrer Pariser Umgebung arbeiteten in kleinen Fabriken, kleinen Werkstätten. Sie arbeiteten für Kürschner oder in Damenmodegeschäften oder als Schneider oder als Buchbinder; sie verkauften Lederreste oder Stoffreste oder Fisch. Am ehesten kam noch Papas älterer Bruder Onkel Hercule in Frage, der im Elsass ein Restaurant hatte, bis die Deutschen kamen und es ihm wegnahmen. Die Deutschen waren eingefallen, und das starke französische Heer, von dem sie in der Schule gehört hatte, la grande Ligne Maginot, war verschwunden wie ein ausradierter Bleistiftstrich, und Papa war in Gefangenschaft geraten.
Der Süden, damit meinte Naomi das Licht, die Gerüche, die Hitze der Provence. Jedes Jahr im August fuhren sie nach Fréjus am Mittelmeer, in die kleine Pension mit der Bougainvillea, die über die Terrasse wuchs, auf der sie immer frühstückten, Maman, Papa, Rivka, die in der Welt Renée genannt wurde, und sie. Yakova, die sogar zu Hause darauf bestand, Jacqueline genannt zu werden, schlief dann noch. Über Jacqueline sagten alle als Erstes, sie sei hübsch, und als Zweites, sie sei sensibel, aber Rivka und Naomi fanden, sie war meistens eine Pest. Naomi und Rivka liebten es, wie die Bienen in den Blumen herumkrabbelten, aber gegen Ende des Frühstücks wurden sie beide ungeduldig. Maman und Papa trödelten immer in den Ferien, les grandes vacances. Rivka sagte, die Bienen summten, weil die Blumen für sie wie Eiscreme schmeckten. Die Eiscreme im Süden war besser als die in Paris, und in den Ferien bekamen sie immer Eiscreme. Sogar Jacqueline mochte Eiscreme. Sie sagte, die Liebe sollte wie Eiscreme sein, war es aber wahrscheinlich nicht.
Ruthie unter ihr rührte sich. Ihre schlanken Beine streckten sich heraus und tasteten nach den fusselnden, ausgetretenen Pantoffeln, die sie Puschen nannte. Sie hängte sich ihren eine Nummer zu kleinen, karierten Morgenmantel um, ging durchs Zimmer, spähte um das Rouleau herum nach dem Wetter und fuhr dabei in die Ärmel. Naomi sah von ihr nur den fest um die vollen, hohen Pobacken gezogenen Morgenmantel und das dunkle, halb vom Rouleau verdeckte Haar. So wie sie seufzte, dachte Naomi, gefiel ihr das Wetter nicht. »Schneet es?«, fragte sie.
»Schneit es?«, verbesserte Ruthie geduldig und lächelte ihr über die Schulter zu. »Wie auch immer, zazkele, ja. Weißt du, wie man einen Schneemann macht?«
Naomi turnte schon hinunter. Im Dezember war es hier dunkler als daheim in Paris, aber hier schneite es viel mehr. Einmal war der Schnee daheim zehn Zentimeter hoch gewesen. Papa war mit ihnen in den Park Les Buttes Chaumont gegangen und hatte Rivka und ihr geholfen, eine Burg zu bauen. »Zeigst du es mir?« Bei dem Gedanken an den Park mit dem künstlichen Berg in der Mitte und den hohen, aufregenden Brücken, die über das Wasser hinweg zu ihm führten und durch die Bäume den Blick auf die umliegenden Häuser freigaben, an den Wasserfall, unter dem sie und Rivka durchlaufen konnten, an die Waffelverkäufer und an das Karussell hätte sie am liebsten geweint.
»Es wird zu dunkel sein, wenn ich heimkomme. Aber am Wochenende, wenn der Schnee so lange liegen bleibt, und diesmal sieht es danach aus.«
Ruthie arbeitete in der Innenstadt bei Sam’s in der Abteilung für bessere Kleider ab 3,98 $, deshalb bekam sie auf Kleidung Rabatt. Ruthie hatte auf der Highschool die Fächer gewählt, die aufs College vorbereiteten, aber dann war doch kein Geld für ein richtiges Studium da, und jetzt belegte sie Abendkurse an der Wayne-Universität und fuhr viermal die Woche abends mit der Woodward-Straßenbahn hin. Ruthie hatte in der Highschool auch Schreibmaschine und Stenografie gelernt, aber keine Stellung in einem Büro gefunden. Nur jüdische Firmen stellten jüdische Mädchen ein, und es gab nicht viele, die junge Sekretärinnen suchten. Naomi hatte Ruthie zu Arty sagen hören, sie überlegte, ob sie protestantisch in die Bewerbungen schreiben sollte, aber dann merkten sie es doch an ihrem Namen und ihrem Aussehen. Außerdem kamen sie ihr drauf, wenn sie sich an den Feiertagen freinahm.
In der Küche hatte Tante Rose Hafergrütze gekocht und zum Warmhalten auf einen Topf mit heißem Wasser gestellt. Onkel Morris hatte schon früher gegessen und war dann zum Chevrolet-Werk gefahren. Duvey schlief immer noch. Die Großen Seen waren jetzt nicht mehr schiffbar, und er war arbeitslos. Sonst arbeitete er auf den Erzfrachtern. Ihr anderer Vetter Arty frühstückte in der Wohnung oben mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern, aber Abendbrot aßen alle zusammen.
Das Holzhaus kam Naomi groß vor, so dass sie anfangs dachte, ihre amerikanische Familie müsse reich sein; die Wohnung der Familie Lévy-Monot in Paris hatte außer der salle de bains und dem WC nur drei Zimmer: die winzige Küche, die große salle à manger, in der nachts die Mädchen schliefen und die auch als Wohnzimmer diente, und das Schlafzimmer ihrer Eltern. Jacqueline hatte früher auch in der salle à manger geschlafen, aber Maman hatte eine der ehemaligen chambres de bonne oben unter dem Dach für Jacqueline gemietet, als sie fünfzehn wurde.