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Die Siegals bewohnten ein zweigeschossiges Holzhaus mit einer Veranda nach vorn und zusätzlich einer überdachten Außentreppe mit kleinen Veranden zur Hintergasse. Das Haus stand hinter einem anderen Haus, ebenfalls aus Holz und dreigeschossig, mit einem kleinen Hof dazwischen, auf dem sie mit Sandy Rosenthal aus der Parterrewohnung im großen Haus und mit Sandys kleinem Bruder Roy spielte. Eine große Ulme breitete ihre Zweige darüber wie ein ganzer Wald. Sie hatte noch nie einen eigenen Baum gehabt. Die nächsten Bäume daheim standen in einem kleinen Park beim lycée von Jacqueline.
Hier war nichts hoch, erst wenn sie in die Innenstadt fuhren, da waren sehr hohe Gebäude, die Wolkenkratzer hießen, so hoch wie der Eiffelturm, aber aus Mauerwerk. Zu Hause war fast jedes Wohnhaus sechs oder sieben Stockwerke hoch. Hier waren die Häuser ganz verschieden groß, als wären sie alle anders gewachsen, wie Menschen, aber die meisten hatten nur zwei oder drei Geschosse. Die Leute schienen zu bauen, wie sie Lust hatten, jedes Haus anders, viele sogar aus Holz, wie ihrs. Anfangs war Detroit für sie eine Spielzeugstadt, Kartenhäuser, die plötzlich umfallen konnten.
Während sie ihre Hafergrütze mit braunem Zucker aß, musste sie daran denken, wie ihre Eltern einmal davon geredet hatten, dass Madrid gefallen war, und sie sich ein Erdbeben vorgestellt hatte. In einem amerikanischen Film hatte sie nämlich gerade ein Erdbeben gesehen. Papa hatte sie und Rivka mitgenommen in den Film, wo unten in Französisch stand, was alle sagten, aber er hatte ihnen befohlen, das nicht zu lesen, damit sie ihr Englisch schulten. Naomi hatte damals gedacht, die Mauern von Madrid wären umgefallen, aber als dann Paris fiel, war sie zehneinhalb und wusste es besser. Boston Blackie saß neben ihrem Stuhl und hoffte auf ein Häppchen. Der aß auch wirklich alles, sogar Hafergrütze.
»Mame«, sagte Ruthie gerade, »bei dem Schnee kannst du nicht draußen rumrennen. Du holst dir noch den Tod.«
Tante Rose war eine rundliche Frau, molliger als Maman und viel älter, eine der vier Schwestern aus Kozienice in Polen. Ihr Haar war immer noch lacklederschwarz, aber ihr Gesicht war verrunzelt wie eine Backpflaume. Onkel Morris war mit zwölf Jahren rübergekommen, und alle sagten, er sprach, als wäre er in Amerika geboren, aber Tante Rose war erst mit achtzehn in die Vereinigten Staaten gekommen und sprach mit einem Beiklang, der sie verriet. Sie hatte eine tiefe, würzige Stimme. Naomi liebte diese Stimme, wenn Tante Rose nicht gerade schimpfte, eine Stimme, bei der sie an würziges Winternaschwerk denken musste. Nelken, Schokolade, Zimt.
»Ich will nur zur Markthalle und sehen, was heute günstig ist. Zwei kleine Fahrten mit der Straßenbahn. Heute ist Mittwoch, die harte Mitte der Arbeitswoche. Ich dachte an ein Stück Rind für gedempte flaisch oder wenigstens ein Schmorgericht.«
»Mame, tu mir einen Gefallen. Kauf das Fleisch an der Ecke.«
»An der Ecke ist es pro Pfund zwei Cent teurer.«
»Bei dem Schnee heute kauf es an der Ecke. Bitte, Mame. Mir zuliebe.«
»Gut«, sagte Tante Rose und strich ihrer einzigen Tochter über den Kopf. Naomi wusste, Tante Rose wartete, bis Ruthie die Woodward-Avenue-Straßenbahn zur Arbeit genommen hatte, und ging dann mit ihren Einkaufstaschen los, um für ihr weniges Geld so viel wie möglich zu kaufen. »Vergiss nicht das schöne Mittagessen, das ich dir eingepackt habe.«
Naomi stellte das letzte bisschen Hafergrütze für den Kater hinunter, der alles rasch und leise verschlang. Sie verstanden sich gut.
Jeden Tag aß Ruthie hastig ihre Brote aus der braunen Tüte im Frauenaufenthaltsraum. Dann eilte sie in die Stadtbücherei, um zu lernen. Ruthie hatte immer ein Buch in der Handtasche, das sie las, wenn sie Straßenbahn fuhr, wenn sie Suppe umrührte, wenn alle anderen Radio hörten.
Naomi war neugierig, ob Tante Rose daran gedacht hatte, ihr Pausenbrote zu machen, aber zu schüchtern, danach zu fragen. Ruthie sah sie an und schien ihre Gedanken zu lesen. »Mame, hast du Naomis Pausenbrote gemacht?«
»Warum soll ich sie nicht gemacht haben? Nur, weil ich’s einmal vergessen habe. In meinem Alter, kann mir da ein kleiner Fehler nicht vergessen und verziehen werden?«
»Was kriege ich?«, fragte Naomi. Maman würde jetzt sagen, sie sei frech, aber sie war neugierig. Hier rügte sie niemand für ihre Fragen, obwohl Onkel Morris sie ein bisschen aufzog, wenn er sie fragen hörte. Jeden Morgen machte Tante Rose drei verschiedene Mittagspakete, in drei verschiedenen Brotbüchsen und Thermoskannen.
»Heute wegen des Schnees schöne heiße Kohlsuppe. Dazu Brot und ein stickl Käse.«
Das war bestimmt der Borschtsch nur aus Roten Beten und Kohl, nicht der mit Rindfleisch. Naomi aß ihn gern, aber sie bekam davon Heimweh, weil Maman auch solch eine Suppe machte: eine Familiensuppe, von den Eltern gelernt. Sie konnte sie wahrscheinlich auch kochen, wenn sie wollte. Aber sie wollte nicht. Sie wollte sie gekocht bekommen, von Maman.
Sie zog ihre Gamaschen und Galoschen an, knöpfte ihren Mantel zu, nahm ihre Schreibhefte und den Ranzen für Bücher, die Thermoskanne, rot und mit einem Bild von Superman, und machte sich auf den Weg zur sechs Straßen entfernten Schule. Draußen war es noch dunkel, und die Laternen brannten, aber der Himmel wurde schon langsam hell.
Der Schnee fiel in großen, trägen Flocken, als hätte er alle Zeit der Welt, um die Stadt zuzudecken. Die geparkten Autos waren schon beschichtet. Erwachsene fuhren hier nicht Fahrrad oder Motorrad, sogar Fabrikarbeiter hatten Autos. Onkel Morris hatte eins, aus seiner eigenen Fabrik. Jeden Monat zahlte er dafür Geld, wie Miete, obwohl es nicht neu war und die Stoßstange schon eine Delle hatte und rostete. Papa hätte gerne ein Auto gehabt. Er konnte fahren. Früher, bevor die Nazis alles so schwer machten, waren sie manchmal mit Georges, dem Autoschlosser, in seinem alten Renault mit seiner Frau und seinem dicken, gutmütigen Sohn Razi aufs Land gefahren. Dann hatten ihre Eltern sich benommen wie Kinder, hatten gekichert und sich gekabbelt. Alle aßen Hühnchen und tranken Rotwein. Papa spielte Mundharmonika, und sie sangen in Französisch und Jiddisch.
Sie trabte vorbei an der koscheren Fleischerei von Brillen-Rosovskys Vater, wo Tante Rose nicht gern kaufte, weil sie ihn zu teuer fand, vorbei an dem Fischgeschäft, in dem Sandys Vater arbeitete, vorbei an dem Eisenwarenladen, an dem guten Brotgeruch von Fenniman’s Bäckerei und dem dunklen Biertunnel der Bar. Hier war der Bürgersteig schon matschig. Sie stapfte in die Schmelzpfützen. Sie errichtete beim Laufen Mauern um sich, rüstete sich für die Schule, wo Englisch schreiben und sprechen und lesen nur ein kleiner Teil ihrer Aufgaben war.
Der schwerste Teil war, wie die anderen Kinder zu sein, die ihr älter und zugleich jünger vorkamen, nur nicht wie zwölf, wie sie. Alle machten sich viel mehr aus Jungens, wussten Bescheid über Autos und Sport und Anziehsachen, über Radioprogramme und Comics. Für die anderen Kinder war der Krieg etwas im Radio, war weit weg und gehörte zu »Terry und die Piraten«, was auch sie sofort nach der Schule anstellte, gefolgt von »Käpten Mitternacht« und »Jack Armstrong, ein echt amerikanischer Junge«. Die waren alle nie mit Bomben beworfen worden. Hatten nie vor Angst gezittert, weil Flugzeuge im Tiefflug auf sie zukamen und mit Kugeln schossen, um zu töten. Hatten nie eine Mutter gesehen, die ein Baby ohne Kopf hielt. Hatten nie Menschen und Kühe tot auf den Feldern liegen sehen wie ekelhaftes, stinkendes Fleisch. Stellten sich den Krieg nicht als Feuersbrunst vor, die aus der Richtung kam, wo die Sonne aufging, so dass das Morgenrot von den Feuern entfernter Bomben zu kommen schien, von brennenden Städten, von einer Angst wie Rauch, den der Wind immer mit sich trug.
Bernice 1
Bernice und die Piraten
Bernice war in der Überzeugung aufgewachsen, ihr Name sei »Bernice-Professor-Coates’-Tochter«, etwa wie Kristin Lavransdatter, fiel ihr auf, als sie den Roman von der Undset las. Zu der Zeit war ihr Name schon seit Jahren zu »Arme-Bernice-Professor-Coates’-Tochter« erweitert worden, der arme, mutterlose Jeff und die arme, mutterlose Bernice.
Mutter war eine mollige, warme, schusselige Frau gewesen, der ständig Schals und Handschuhe herunterfielen und die stets eine voluminöse, aus den Nähten platzende lederne Handtasche, so rund und zylindrisch wie ein Flusspferd, mitschleppte und dazu eine mit Büchern und Strickzeug, Taschentüchern und Arzneien vollgepfropfte Reisetasche, nicht nur auf ihren allsommerlichen Europareisen, sondern auch bei Tagesausflügen nach Boston oder zu Abendbesuchen bei Freunden. Wer den Professor, hager, vorzeitig ergrauend, mit einem Spazierstock, den er hauptsächlich beim Treppensteigen benutzte, neben seiner fülligen, oft nachlässig gekleideten Frau Viola sah, der hielt ihn für den Kopf und sie für den Körper.
Und doch erinnerte sich Bernice, wie sich Viola bei den Donnerstagsessen mit zwei ihrer Freundinnen durch die Ilias und Pindar rezitiert und diskutiert hatte. Violas Latein und Griechisch waren dem des Professors weit überlegen, und Viola war auch keine taube Nuss auf seinem Spezialgebiet, den modernen europäischen Sprachen. Wenn der Professor seine Schützlinge – Studenten oder Klubfrauen oder Rentner oder Schullehrer – jeden Sommer in den Ferien auf eine Bildungsreise durch Europa führte, um die vornehme Armut seines Salärs aufzubessern, kamen aus Violas Tasche die Guides Bleues und die Baedeker, ergänzt durch Geschichte und Kunstgeschichte.
Viola war eine stattliche Frau gewesen, mit weitem Schoß und herzlicher, belustigter Stimme, eine Frau, der niemand zugetraut hätte, innerhalb eines Monats zu sterben, an doppelseitiger Lungenentzündung in einem scheußlichen, unvergesslichen Februar. Bernice war damals elf gewesen, Jeff zwölf und schmächtig für sein Alter, scheu, in Bücher vergraben. Bernice hatte begonnen, den Haushalt zu führen, in tiefer Verwirrung und mit ständigem innerem Gebet, ihre Einsamkeit und ihre Last mögen nicht von Dauer sein. Mutter würde wiederkommen, ebenso unversehens, wie sie entschwunden war, zuerst ins Krankenzimmer, dann ins Krankenhaus, dann in den plötzlich geschrumpften Leib. Ihr Vater hatte immer nur hinter meist verschlossenen Türen gelebt, doch ihre Mutter hatte sie, bei allem Respekt, den sie für ihre Konzentration verlangte, immer auf den Schoß genommen, während sie las oder plauderte.
Das ganze nächste Jahr über wachte Bernice jeden Morgen mit der Hoffnung auf, ihre Mutter würde in der Küche sein und Schinkenspeck braten, Rosinenzimttoast bereiten. Immer wieder wartete sie auf diesen Geruch nach Zimt und Kaffee.
Doch sie kam herunter in eine kalte und leere Küche mit dem Geschirr vom Vorabend, schon von ihr abgewaschen oder auch nicht, um Frühstück zu machen, ein Mädchen, bald groß genug, um an die hohen Borde heranzukommen. Für Jeff und sich machte sie Haferschleim mit einem Drittel Erdbeermarmelade, ihre Erfindung. Sie erfand viele Gerichte in ihrer frühen Kochphase, die meisten davon sonderbar. Zu ihrem dreizehnten Geburtstag schenkte ihr der Professor ein Fannie Farmer-Kochbuch. Sie hasste es auf Anhieb, seinen ruhigen, gebieterischen Ton, sein Gewicht, seine Schnürschuhmanier, aber sie meisterte es trotzdem. Schlichte, vernünftige Küche. Warum nicht? War das nicht, wie die Leute sie sahen? Ein schlichtes, vernünftiges Mädchen.
Jetzt, dreizehn Jahre später, machte sie immer noch jeden Morgen dem Professor das Frühstück. Montags bis freitags mochte er seine Eier pochiert oder als Ochsenaugen auf Zimttoast, mit knusprigem, aber nicht angekohltem Schinkenspeck. Er trank Café au lait mit einem Teelöffel Zucker. Er mochte seine Morgenzeitung, den Globe, zusammengefaltet neben seinem Teller. An Wochenenden bevorzugte er Pfannkuchen mit Ahornsirup, und das Frühstück wurde um neun Uhr serviert.
Der Professor verließ zeitig das Haus, um zum fünf Querstraßen entfernten Campus zu gehen, aber letzte Nacht hatte es geschneit, und er nahm sich zusätzliche Zeit zur Bewältigung der noch nicht freigeschaufelten Bürgersteige. Die Leute dachten oft, sein leichtes Humpeln rührte von einer Kriegsverletzung her, denn er hatte in dem Krieg gedient, der allen Kriegen ein Ende machen sollte. Bernice wusste, dass ihr Vater den Krieg in Washington mit dem Übersetzen deutscher Kommuniqués zugebracht hatte. Sein Fuß war verletzt worden, als ihm eine Kuh drauftrat, auf der Farm ihres Großvaters in Putney, Vermont, als Bernice noch klein war.
Den Eberkopfspazierstock hatte er in Köln erstanden, als Ersatz für einen älteren Hickorystock, der – auch wenn das allen hier unglaubhaft vorgekommen wäre – in einer Straßenschlägerei entzweigegangen war, als der Professor einen jüdischen Heine-Forscher besuchte, mit dem er eine Korrespondenz unterhielt. Beim Verlassen eines Theaters waren die Braunhemden über seinen Freund hergefallen, der kurz zuvor bereits von der Universität gejagt worden war. Bernice sah dieses Abenteuer als die vielleicht beste Stunde des Professors; den jedenfalls hatte sein körperlicher Mut halb überrascht und halb beschämt, denn Schlägereien fand er unkultiviert. Bernice hielt den Eberkopfgriff auf Hochglanz. Deutschland hatten sie danach von ihrer Reiseroute gestrichen.
Bernice stand am Spülbecken und wusch das Frühstücksgeschirr ab. Sherlock Holmes streckte den mageren, sehnigen Arm und injizierte sich die Kokainlösung, die sie sich immer als blaue Flüssigkeit vorstellte, wie Kobalt. Ihre eigene Droge war, sich im Kopf Abenteuerfilme vorzuspielen. Am Sonntagnachmittag war sie mit ihrer Nachbarin Mrs. Augustine im Kino gewesen, um sich Errol Flynn als Pirat anzuschauen. Danach hatte sie diesen Film mit Variationen durchgespielt, während sie das Haus putzte, während sie die Socken des Professors stopfte, während sie die Manuskripte anderer Professoren tippte, aber ihre Vorstellung von sich selbst als herausgeputzter Beutemaid irgendeines Piraten hatte sich innerhalb eines Tages abgenutzt, war eigentlich vom ersten Moment an unglaubwürdig. Seitdem hatte sie sich zu den Piraten geschlagen. Doch, es hatte auch Piratinnen gegeben, Anne Bonney zum Beispiel.
Mit dem Säbel um sich zu hauen und sich durch die Takelage zu schwingen war ihr Schönstes, auch wenn sie an Flynns sinnliches Gesicht und seinen drahtigen Körper mit Wohlgefallen zurückdachte. Bernice handhabte das Rapier mit einiger Fertigkeit, denn sie hatte mit ihrem Bruder in St. Thomas gefochten, unter dessen Eleven immer einige, wenn auch nicht besonders gern gesehene Mädchen waren. Nun rief sie einen Tagtraum auf, von dem sie drei Jahre lang gezehrt hatte. Darin flog sie zum Pazifik und rettete Amelia Earhart von einer unkartierten Insel, auf der sie abgestürzt war. Manchmal führte Bernice die Expedition an, und manchmal flog sie als blinder Passagier mit und übernahm dann an einem kritischen Punkt, erwies sich als beste Fliegerin der ganzen Gruppe: So sehr aus der Luft gegriffen war das gar nicht. Die Burschen auf dem Flugfeld achteten ihr Talent.
Als Nächstes stapfte sie zum Campus mit einer Liste von Büchern, die der Professor haben wollte. St. Thomas war kein katholisches College, denn das hätte es in den Ruch gebracht, von Schülern niederer sozialer Herkunft bevorzugt zu werden. Wenn überhaupt, dann war es episkopal (Teilnahme an den Gottesdiensten war, zumindest auf dem Papier, Vorschrift); im Grunde jedoch war St. Thomas ein College, auf das reiche Eltern die Söhne schickten, die es geschafft hatten, woanders rauszufliegen, Jungen, die sich an Wochentagen betranken, Jungen, die am falschen Ort in der falschen Gesellschaft oder mit dem falschen Geschlecht erwischt worden waren, Jungen, die, um die Prüfungsfragen vorher zu erfahren, den Pedell bestochen hatten und dabei aufgeflogen waren.
Ihr Vater hatte einst den Ehrgeiz gehabt, St. Thomas für etwas Vielversprechenderes zu verlassen, aber die Kombination aus der Großen Depression und Violas Tod hatte ihn dort ein für alle Mal auf Grund gesetzt. Sie saß mit ihm auf Grund. »Wie geht es ihm?«, fragten die Nachbarn sie. Wie es ihr ging, sah man ja. Gesund, immer gesund.
Der Briefträger kam mit der Morgenpost die Straße herauf. Sie wartete auf ihn und entfernte sorgfältig den Schnee von den Rhododendren. »Wie geht es Ihnen heute, Msch Coates?« Aus Taktgefühl vernuschelte er ihre Anrede, denn der Briefträger empfand ihren ledigen Stand als eine Schande, die er nicht betonen mochte.
Sie wurde für ihre Nettigkeit zu den Rhododendren mit einem Brief von ihrem einzigen Bruder Jeff belohnt, inmitten einer Handvoll Briefe aus Europa von Bekannten, die Einwanderungsbürgen oder Hilfe suchten. Vielleicht hatte Jeff auch dem Vater geschrieben, aber er wusste, dass sie täglich die Post in Empfang nahm, und schrieb ihr getrennt.
La Colina Roja Taos, New Mexico 30. November 1941Liebster Brachvogel,
es ist kalt hier oben. Letzte Woche hatten wir ein paar Stäubchen Schnee, aber am meisten vermisse ich Neuengland im Herbst und dann wieder schmerzlich, wenn die Feiertage nahen. Es tut mir leid, dass ich zu Thanksgiving nicht heimkommen konnte, aber offen gestanden kann ich nicht zweimal fahren – keine $$ wie üblich, deshalb dachte ich, ich komme zu Weihnachten. (Ich bin halb versucht, nicht hierher zurückzukehren, aber wir werden sehen.)
Sie las nicht weiter und faltete den Brief sorgfältig in ihre kleine, praktische Umhängetasche (was musste sie, gattenlos, kinderlos, beruflos, schon dabeihaben außer ihrer Brieftasche, der Geldbörse, den Schlüsseln und einem kleinen, praktischen Kamm zur Erste-Hilfe-Leistung, wenn der Wind ihren kurzen, praktischen Haarschnitt zerzaust hatte?). Die Zeilen hatten sie aufgewühlt. Jeff war wieder einmal auf dem Absprung in eine neue Richtung. Der Professor würde verärgert, sarkastisch reagieren. Sie hingegen war neidisch auf die Freiheit, die Jeff vielleicht nicht gewinnbringend nutzte, aber immer hatte.
Die Freiheit, eines Morgens seine Sachen zu packen und sich davonzumachen, abzuhauen. Er hatte Freiheit in Hülle und Fülle, und sie hungerte nach einem Krümel davon. Sie empfand auch eine Handbreit Zorn, ein Gefühl, dass sie keine Schwierigkeiten gehabt hätte, sich nützlich in der Welt niederzulassen und ihre Energie, ihre Intelligenz, ihre Kraft einer würdigen Aufgabe zu widmen. Ihr fielen fünfzig Unternehmungen ein, zu denen sie nur zu gerne aufgebrochen wäre.
Sie sollte ihre aufgehäuften Schreibarbeiten beenden. Bernice tippte Manuskripte anderer Fakultätsmitglieder ab und gab das damit verdiente Geld prompt auf dem nahen Flugplatz aus. Der Flugplatz war den Winter über eingeschneit, und so sparte sie ihr Geld, um einen Anteil an einer Maschine zu erwerben, einer Piper Cub mit 60 PS, die ihr Freund Steve abbezahlte. Wenn sie bis zum Frühjahr zweihundertfünfzig Dollar sparen konnte, dann gehörte ihr ein Viertel des Flugzeugs und dann konnte sie zehnmal so oft fliegen. Seit die Regierung im Jahr zuvor ein Trainingsprogramm für die Luftwaffe am College eingerichtet hatte, wartete sie oft den ganzen Tag am Flugplatz und bekam trotzdem kein Flugzeug. Sie strebte eine Verkehrspilotenlizenz an, aber bei dem Tempo, in dem sie sich bisher Zeit in der Luft leisten konnte, würde sie dafür noch Jahre brauchen. Jeff hatte einen Pilotenschein wie sie, aber mit der Fliegerei nie weitergemacht.
Als könnte er ihre Gedanken lesen, schrieb er – als sie in der überheizten Bibliothek beim typischen Schlangenzischen der Heizkörper darauf wartete, dass die Bibliothekarin die Bestellungen des Professors heraussuchte, und den Brief wieder entfaltete –:
Ich frage mich immer, warum ich es hier nicht aushalte. Das Licht ist grell, die Landschaft monumental. Die Tiwa nennen den Berg hinter Taos heilig, und sie haben bestimmt recht. Vielleicht ist es die entwürdigende Schinderei, für Quinlan zu arbeiten, aber das trifft es nicht. Ich kann, so scheint es, nichts Eigenständiges tun. Ich fühle mich, als schaute ich durch die Augen von Malern, die hier schon gemalt haben. Ich kann, so scheint es, der Landschaft nicht frisch begegnen. Bei all ihrer Großartigkeit und Wildheit und Faszination bin ich nicht fasziniert.
Überdies ist die Geschichte mit Dolores heikel geworden. Mein mündliches Spanisch – und mein mexikanisches Spanisch, das ich im Gegensatz zum Professor für ein fabelhaft geschmeidiges und spritziges Idiom halte, dem lispelnden, tuntigen Tonfall des Kastilischen weit überlegen – hat rasche Fortschritte gemacht, leider ebenso Dolores’ Wunsch, in mir den zukünftigen Spender von Ringen, Haciendas und Babys zu sehen.
Mit der Dolores-Situation könnte ich allenfalls noch fertig werden, wenn ich das Gefühl hätte, in meiner eigenen Landschaft angekommen zu sein, aber sosehr mich diese hübsch kolorierten Mesas und Berge, die in starken Farben gestrichene Wüste, die uralten Pueblos auch rühren, letztlich ist dies nicht mein gelobtes Land.
Jedenfalls freue ich mich auf unsere Zeit zusammen. Zweifellos wirst du mir wie immer mein Ich erklären und alles klarstellen. Ich träume von etwas Tropischerem. Ich muss der Sonne folgen, aber zu etwas Üppigerem, Saftigerem. Die Berge sind am Ende doch nicht meine heiligen Orte. Dies ist nicht mein Gusto. Zu viel Ocker vielleicht, zu viel gebranntes Siena. Oder vielleicht einfach ein anderer Gesellschaftskreis. Warum empfinde ich mich in Europa ganz selbstverständlich, ganz ohne Frage als Maler und hier nicht?
In Liebe wie immer
Jeff
Sie selbst mochte Erdfarben, die Welt vom Flugzeug aus gesehen. Sie konnte sich noch an das erste Mal erinnern, als Zach sie mit hinaufgenommen hatte, sie allein, denn Jeff malte und wollte nicht mit. Zuerst hatte er ihr Bentham Center von oben gezeigt, ordentlich, klein, bald verschwunden, und dann hatten sie sich emporgeschwungen, hinauf und über den Jumpers Mountain und dann weiter zum Connecticut River, angeschwollen und schlammig vom Frühlingstauwetter. Als Nächstes hatte Zach versucht, sie zu hänseln, ihr Angst einzujagen, zog die Maschine in große träge Loopings und dann in kurze abrupte Rollen, in Sturzflüge. Schließlich hatte er gemerkt, dass sie überhaupt nicht schrie, nicht angstgelähmt war, sondern begierig, verzückt, und mindestens so viel Spaß daran hatte wie er. Er hatte sich zu ihr herübergelehnt, ihr Haar verwuschelt und es mit der Faust gepackt. »Möchtest du es lernen, Bernie?«
Sie hatte heftig genickt, unfähig, etwas zu sagen, unfähig, ihr Verlangen zuzugeben.
»Sag bitte.«
Da endlich sprach sie. »Bitte, Zach. Bitte! Bring es mir bei.«
Er schien es lange, unter Stirnrunzeln zu bedenken, verlängerte und genoss ihre Qual, gab ihr das Verlangen zu schmecken und die Spannung. »Vielleicht tu ich’s, vielleicht auch nicht.« Aber er hatte es getan.
»Komme schon«, platzte sie zu laut heraus. Mrs. Roscommon hatte ihr zugeflüstert. Bernice eilte zum Tresen, wo ein Stapel der bestellten Bücher zu wackeliger Höhe aufgetürmt war.
Es war ihr peinlich, so weggetaucht zu sein, hinaus in die Welt. Nun war sie wieder im tristen Einerlei. Wenn sie sich an jene Tage mit Zach und Jeff erinnerte, dann glichen sie dem Moment in Der Zauberer von Oz – ein Film, den sie dreimal gesehen hatte –, wenn Dorothy aus Kansas hinaus nach Oz gelangt und Schwarz und Weiß zu herrlichem und strahlendem Technicolor erblühen. Da sie für Musicals wenig Begeisterung aufbrachte, hatte sie kaum Technicolorfilme gesehen; dieser Übergang berührte sie zutiefst. Genauso war es, aus Bentham Center hinaus ins Abenteuer zu gelangen. Sie hatte sich jene Tage so oft in Erinnerung gerufen, dass sie schließlich nicht mehr sicher war, wie die Ereignisse sich wirklich zugetragen hatten, denn durch immer reichlichere Ausschmückung waren sie inzwischen zur Hälfte Phantasieprodukte. Sie kam sich manchmal verrückt vor, wenn sie daran dachte, wie viel Zeit sie damit zubrachte, Ereignisse immer wieder zu durchleben und zu überarbeiten, die Zach und Jeff zum großen Teil vergessen haben mussten, sie so lange zu überarbeiten, bis sie selbst nicht mehr sicher war, was sie erinnerte und was sie dazuerfunden hatte.
Während sie nach Hause trabte, um die Bücher abzuladen, und dann zum Fleischer um Lammkoteletts und zum Gemüsehändler um Broccoli, wenn es welchen gab, und Blumenkohl, wenn nicht, dachte sie, dass es vielleicht sogar noch einen Hauch erträglicher war, neben Errol Flynn mit einem Säbel zwischen den Zähnen von Pirat zu Pirat zu springen, als ständig zu jenem Paradies zurückzukehren, als sie sich ihrem Bruder und Zach kurzzeitig anschließen durfte. Oft träumte sie, dass sie flog. Sie träumte sich zurück an die Instrumente von Zachs Aeronca, legte sie in die Kurve, drückte sie in den Sturzflug, drehte sie in Kunstflugrollen. Letzte Woche war sie in der Nacht weinend aufgewacht. Wie hätte sie jemandem erklären sollen, dass sie weinte, weil sie das Fliegen beherrschte, aber kein Flugzeug hatte? Die Freudianer hätten gesagt, das habe mit sexueller Frustration zu tun, aber von Sexualität wusste sie nichts, und fliegen war für sie wirklicher, als des Professors Koteletts zu braten.