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„Das werden Sie auch nicht“, murmelte Jessie.
„Warum sagen Sie das?“
„Cortez wird in der Nähe von Crutchfield bleiben. Und ich garantiere Ihnen, dass Bolton Crutchfield nirgendwo hingehen wird.“
„Wie können Sie sich da so sicher sein?“, fragte Corcoran.
„Weil er mit mir noch nicht fertig ist.“
* * *In dieser Nacht konnte Jessie nicht schlafen. Nachdem sie sich stundenlang hin- und hergewälzt hatte, stand sie auf und ging in die Küche, um ihr leeres Wasserglas aufzufüllen.
Als sie vom Schlafzimmer aus den mit Teppichen ausgelegten Flur hinunterging, spürte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Der Beamte, der normalerweise in einem Stuhl an der Ecke zwischen Flur und Wohnzimmer saß, war nirgendwo zu finden. Jessie überlegte, in ihr Zimmer zurückzugehen, um eine Waffe zu holen, bevor sie sich daran erinnerte, dass sie ja gar keine hatte. Der Sicherheitsdienst hatte sie bis auf weiteres “gesichert“.
Stattdessen drückte sie ihren Rücken gegen die Wand des Flurs und ignorierte ihr schnell schlagendes Herz, als sie in Richtung des leeren Stuhls schlich. Als sie näher kam, sah sie mit Hilfe des durch die Fenster strömenden Mondlichts einen dunklen, feuchten Fleck auf dem cremefarbenen Teppichboden. Die Größe des Flecks deutete darauf hin, dass es sich nicht um versehentlich verschütteten Wein handelte. Sie bemerkte zudem eine gleichmäßige Spur, die sich den Gang entlang erstreckte.
Jessie blickte um die Ecke und sah, wie der Beamte mit dem Rücken auf dem Boden lag. Anscheinend war er dorthin geschleppt worden. Seine Kehle war durchgeschnitten. Neben ihm auf dem Boden lag seine Dienstwaffe.
Jessie spürte einen Anstieg von Adrenalin, der ihre Finger zum Kribbeln brachte. Sie versuchte, konzentriert zu bleiben, kniete sich nieder und blickte sich im Raum um, während sie darauf wartete, dass sich ihr Körper beruhigte. Es ging schneller, als sie erwartet hatte.
Ohne jemanden in Sichtweite, stürzte sie nach vorne und packte die Waffe. Als sie nach unten blickte, sah sie blutige Fußspuren, die vom Körper des Beamten in Richtung des angrenzenden Speisesaals führten. Sie blieb geduckt hinter dem Sofa und hastete weiter, bis sie klar in den Raum sehen konnte.
Ein weiterer Beamter lag dort auf dem Boden. Er lag mit dem Gesicht nach unten da. Eine sich schnell erweiternde Blutlache, die aus seinem Hals strömte bildete eine Pfütze um sein Gesicht und seinen Oberkörper.
Jessie zwang sich, nicht auf dem Anblick zu verweilen, als sie den blutigen Fußspuren aus diesem Raum in den Raum folgte, der zum Pool im Garten führte. Die Schiebetür stand offen und eine leichte Brise blies die hängenden Vorhänge nach innen und ließ sie wie tief hängende Wolken aussehen.
Sie überprüfte das Zimmer. Es war leer, also ging sie zur Schiebetür, um nach draußen zu schauen. Sie sah eine Person im Anzug, die mit dem Gesicht nach unten im Wasser schwamm, welches sich zunehmend rot färbte. Da hörte sie, dass sich jemand hinter ihr räusperte.
Sie schreckte herum und richtete gleichzeitig die Waffe nach vorne. Am anderen Ende des Raumes standen sowohl Bolton Crutchfield als auch ihr Vater Xander Thurman. Dieser sah überraschenderweise gut aus, wenn man bedenkt, dass er noch vor wenigen Wochen in den Bauch und die Schulter geschossen worden war, sich wahrscheinlich den Schädel gebrochen hatte und aus einem Fenster im vierten Stock gesprungen war. Beide Männer hielten lange Jagdmesser in den Händen.
Ihr Vater lächelte, als er leise das Wort “Junikäfer“, den Kosenamen, den er ihr als Kind gegeben hatte, flüsterte. Jessie hob die Waffe und bereitete sich auf das Abfeuern vor. Als ihr Finger anfing, den Abzug zu drücken, sprach Crutchfield.
„Ich habe versprochen, dass ich dich wieder sehen würde, Fräulein Jessie“, sagte er. Er war so gelassen wie damals, als er mit ihr durch die dicke Glaswand seiner Zelle sprach.
Seine Wochen der Freiheit hatten ihn nicht weniger angenehm gemacht. Mit 1,72 Metern und etwa 75 Kilo war er körperlich weniger beeindruckend als Jessie. Sein pummeliges Gesicht ließ ihn ein Jahrzehnt jünger aussehen als seine fünfunddreißig Jahre, und sein braunes Haar, das ordentlich zur Seite gekämmt war, erinnerte sie an die Jungen im Matheclub in der Mittelschule. Nur seine stahlbraunen Augen deuteten darauf hin, wozu er wirklich fähig war.
„Es sieht so aus, als wären Sie in schlechter Gesellschaft“, sagte sie mit einer frustrierend zitternden Stimme und nickte ihrem Vater zu.
„Das ist es, was ich an Ihnen liebe, Fräulein Jessie“, sagte Crutchfield bewundernd. „Sie geben nie auf, auch wenn Sie in einer hoffnungslosen Situation sind.“
„Ihr solltet das vielleicht nochmal überdenken“, betonte Jessie. „Ihr habt beide Messer zu einer Schießerei mitgebracht.“
„So schelmisch“, staunte Crutchfield und sah Thurman anerkennend an.
Ihr Vater nickte und war immer noch still. Dann wandten sich beide Männer wieder ihr zu. Gleichzeitig verschwand ihr Lächeln.
„Es ist an der Zeit, Fräulein Jessie“, sagte Crutchfield, als sich beide Männer gemeinsam auf sie zubewegten.
Sie schoss zuerst ihrem Vater drei Mail in die Brust, bevor sie ihre Aufmerksamkeit auf Crutchfield richtete. Ohne zu zögern feuerte sie drei Kugeln in seinen Oberkörper ab. Die Luft war voller beißendem Rauch und dem Echo ihrer Schüsse.
Aber keiner der beiden stoppte oder verlangsamte sich. Wie war das möglich? Selbst mit kugelsicheren Westen hätten sie schwanken müssen.
Sie hatte keine Munition mehr, drückte aber dennoch ab, unsicher, was sie sonst noch tun sollte. Als die beiden Männer mit ihren hoch über dem Kopf gehaltenen Messern auf sie zukamen, warf sie die Waffe weg und nahm eine defensive Haltung ein, war sich aber dessen bewusst, dass es sich um eine sinnlose Geste handelte. Die Messer trafen sie schnell.
* * *Jessie saß plötzlich aufrecht im Bett. Sie war schweißgebadet und atmete schwer. Als sie sich im Raum umsah, bemerkte sie, dass sie allein war. Die Fensterläden an den Fenstern noch immer geschlossen um den Zugang zu verhindern. An ihrer Schlafzimmertür stand noch immer ein Stuhl unter der Klinke als zusätzliche Sicherheitsvorkehrung. Auf der Uhr stand 1:39 Uhr.
Es klopfte sanft an der Tür.
„Alles in Ordnung da drin, Frau Hunt?“, fragte einer der Beamten. „Ich habe ein Geräusch gehört.“
„Nur ein schlechter Traum“, rief sie und log nicht hinsichtlich dessen, was er wahrscheinlich schon vermutet hatte.
„Okay. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie etwas brauchen.“
„Danke“, sagte sie und hörte auf das vertraute Knarren der Dielen unter dem Teppich, als er wegging.
Sie schob ihre Beine aus dem Bett und setzte sich für einen Moment ruhig hin, so dass ihre Herzfrequenz und Atmung wieder zu etwas fast Normalem zurückkehren konnten. Sie stand auf und ging ins Badezimmer. Sie sollte eine Dusche nehmen und auch die feuchten Bettlaken wechseln.
Als sie den Raum durchquerte, konnte sie nicht anders, als zu dem einen Fenster zu gehen, wo der Rolladen leicht geöffnet wurde, um etwas Licht hereinzulassen. Sie schwor, dass sie die Silhouette von jemandem im Schatten der Bäume hinter dem Pool sah. Selbst nachdem sie sich vergewissert hatte, dass es sich entweder um einen Baumstamm oder einen Beamten handelte, spürte sie innere Unruhe.
Irgendwo da draußen waren zwei Serienmörder auf freiem Fuß. Und beide suchten nach ihr. Sie war selbst in einem komplett gesicherten Unterschlupf mit all diesem Schutz eine leichte Beute.
* * *Gabrielle und ihre Verabredung Carter kamen kurz nach 2 Uhr morgens wieder zu Hause an. Sie waren beide ein wenig angetrunken und sie musste ihn noch einmal daran erinnern, leise zu sein, um Claire nicht aufzuwecken.
Sie stolperten ungeschickt durch den Flur, bis sie in ihr Schlafzimmer kamen, wo sie sich lange küssten. Gabby wich zurück und warf ihm ein verführerisches Lächeln zu. Er erwiderte das Lächeln, wenn auch nicht zu eifrig. Das gefiel ihr. Er war älter – Ende vierzig – und konnte seine Begeisterung besser kontrollieren als einige der jungen Tech-Boys, mit denen sie in letzter Zeit ausgegangen war.
Er sah auf eine bemerkenswerte Art und Weise gut aus und erinnerte sie an einige der Freunde ihres Vaters, diejenigen, die einen Blick auf sie warfen, wenn sie dachten, dass sie nicht hinsah. Er wartete darauf, dass sie ihn erneut küsste. Als sie erneut spielerisch zurückwich, um herauszufinden, wie er reagieren würde, sprach er schließlich.
„Nettes Haus, in dem du hier wohnst“, sagte er in einem Scheinflüstern.
Wenn alles gut geht, wirst du mir für eine Weile helfen, es zu bezahlen.
Sie schaffte es, diesen Gedanken für sich zu behalten und antwortete weniger optimistisch: „Danke. Es gibt einen Teil, den ich dir besonders gerne zeigen möchte.“
Sie nickte zum Bett.
„Willst du, dass ich es mir ansehe? Ich glaube, eine Führung wäre angebracht.“
„Warum machst du es dir nicht da drüben bequem? Ich werde kurz ins Bad gehen, um mich frisch zu machen und bin sofort wieder da.“
Carter lächelte zustimmend und ging zum Bett hinüber. Als er seine Schuhe auszog und anfing, sein Hemd auszuziehen, ging Gabby ins Bad, das sie sich mit ihrer Mitbewohnerin teilte. Sie schaltete das Licht ein und warf ihm einen letzten verführerischen Blick zu, bevor sie die Tür hinter sich schloss.
Als sie drin war, ging sie direkt zum Spiegel. Bevor sie erneut Make-up auflegte, wollte sie ihre Zähne überprüfen. Ein flüchtiger Blick zeigte nichts Sichtbares in den Zwischenräumen. Sie nahm einen kurzen Schluck Mundwasser, gurgelte ein wenig und bereitete sich darauf vor, ihren Augenlidern einen Hauch von extra Verruchtheit zu verleihen, als sie einen Arm bemerkte, der über die freistehende Wanne hinter ihr gelegt war.
Sie drehte sich überrascht um. Es war nicht typisch für Claire, um diese Zeit ein Bad zu nehmen. Normalerweise ging sie immer sofort ins Bett, sobald sie nach Hause kam, und zog sich manchmal nicht einmal aus. Wenn sie in der Wanne lag und das Licht aus war, bedeutete das wahrscheinlich, dass sie völlig k.o. war.
Gabby ging auf Zehenspitzen und betete, dass sie es nur mit einer schlafenden Mitbewohnerin und nicht mit einer mit Erbrochenem bedeckten Wanne zu tun haben würde. Als sie über den Rand der Wanne blickte, war das, was sie sah, viel schlimmer.
Claire trug noch immer den Minirock, den sie an diesem Abend angezogen hatte. Sie lag mit dem Gesicht nach oben in der Wanne, ihre glasigen Augen waren weit geöffnet und sie war mit Blut bedeckt. Ihr Gesicht war damit durchzogen und es hatte sich ein dickflüssiger Schleim in ihrem Haar gebildet. Das Blut war überall, aber es schien hauptsächlich aus ihrem Hals zu kommen, der von mehreren tiefen Stichwunden durchfurcht war.
Gabby starrte sie an und erkannte erst, dass sie geschrien hatte, als Carter neben ihr erschien, ihre Schultern schüttelte und fragte, was los sei. Ein Blick auf die Wanne gab ihm die Antwort. Er stolperte schockiert zurück, bevor er sein Handy aus der Tasche zog.
„Komm da raus“, sagte er, packte ihr Handgelenk und riss sie von dem Schrecken vor ihr weg. „Geh und setz dich aufs Bett. Ich rufe den Notarzt.“
Sie hörte auf zu schreien und war dankbar über die Anweisung, der sie folgen konnte. Sie schlurfte orientierungslos zum Bett, wo sie sich setzte, auf den Boden starrte, aber nichts wirklich sah. Im Hintergrund hörte sie distanziert seine Stimme.
„Ich muss einen Mord melden. Hier ist eine Frau tot in der Badewanne. Sieht aus, als wäre sie erstochen worden.“
Gabby schloss ihre Augen fest, aber es half nichts. Das Bild von Claire, hilflos und schlaff nur wenige Meter entfernt in der Badewanne liegend, war bereits in ihr Gedächtnis eingebrannt.
Kapitel drei
Der Beamte war ein Arschloch. Jessie wollte nur joggen gehen. Er benutzte immer wieder den Ausdruck “nicht ratsam“, was in Wirklichkeit “nicht erlaubt“ bedeutete. Er zeigte auf das Laufband in der Ecke des Wohnzimmers, als ob das alle ihre Bedenken beantworten sollte.
„Aber ich brauche etwas frische Luft“, sagte sie und wusste, dass sie grenzwertig weinerlich klang.
Der Beamte, den sie nur als Murph kannte, war nicht sehr gesprächig, eine frustrierende Eigenschaft, wenn man bedachte, dass er der Hauptauftragnehmer in ihrem Sicherheitsbereich war. Klein und mit kurzen hellbraunen Haaren, die aussahen, als ob sie wöchentlich geschnitten wurden, schien er zufrieden zu sein, überhaupt nicht sprechen zu müssen. Als ob er das beweisen müsste, nickte er in Richtung Garten. Jessie versuchte sich daran zu erinnern, ob er einer der Beamten war, die in dem Albtraum von letzter Nacht ermordet worden waren. Irgendwie hoffte sie es.
In Wahrheit brauchte Jessie weder frische Luft noch wollte sie joggen. Sie wollte erneut die umliegenden Krankenhäuser aufsuchen um zu überprüfen, ob jemand, der auf die Beschreibung ihres Vaters passte, seit der letzten Überprüfung eingeliefert wurde. Ihr Partner, Kriminalkommissar Ryan Hernandez, sollte sie diesbezüglich auf dem Laufenden halten. Aber da sie in letzter Zeit niemanden erreichen konnte, auch ihn nicht, hatte sie keine Ahnung, ob er Erfolg gehabt hatte.
Jessie war sich ziemlich sicher, dass der Beamte ihre wahren Absichten kannte, aber das machte sie nicht weniger verärgert. Sie würde in diesem Haus noch verrückt werden. Und obwohl sie wusste, dass sie zu ihrem eigenen Schutz hier festgehalten wurde, hatte sie die Grenzen ihrer Geduld erreicht, besonders nach dem Traum von letzter Nacht. Sie beschloss, dass sich etwas ändern musste. Und es gab nur einen Weg, um das zu erreichen.
„Ich will den Polizeipräsidenten Decker sehen“, sagte sie fest entschlossen.
Der Beamte schien zögerlich zu reagieren, in der Hoffnung, dass er diese Forderung genau wie alle anderen ignorieren könnte. Aber natürlich konnte er das nicht. Jessie konnte sie nicht zwingen, sie auf einen Spaziergang gehen zu lassen oder einen Ausflug in den Supermarkt zu machen. Aber wenn sie einen formellen Antrag auf Besuch ihres Vorgesetzten stellte und das Ganze sicher abgewickelt werden konnte, war der Beamte dazu verpflichtet.
Langsam und mit finsterem Blick hob der Beamte seine Hand und sprach in das Funkgerät, das mit seinem Handgelenk verbunden war.
„Jabberjay bittet um ein persönliches Gespräch mit Decker. Bitte informieren Sie ihn.“
Während Jessie auf die Antwort wartete, blieb sie ruhig und beschloss, den weniger schönen Codenamen, den sie anscheinend erhalten hatte, nicht zu kommentieren.
* * *Neunzig Minuten später saß sie in einem kleinen Konferenzraum in einer ruhigen Ecke der Polizeistation im Zentrum von Los Angeles und wartete darauf, dass Polizeipräsident Decker den Raum betrat. Der Beamte namens Murph, der sie vom Haus hierher begleitet hatte, stand im hinteren Teil des Raumes und ärgerte sich offensichtlich noch immer darüber, dass er anwesend sein musste.
Der Weg zur Polizeistation, die allgemein als Hauptstation bekannt war, war umständlich gewesen. Nachdem die formelle Genehmigung für die Fahrt von Corcoran eingeholt wurde, musste ein Team zusammengestellt und eine Route gewählt werden. Vieles davon wurde im Voraus geplant, aber die endgültigen Entscheidungen mussten noch getroffen werden.
Jessie wurde angewiesen, eine Perücke zu tragen, zusammen mit einer Kappe, die tief in ihr Gesicht gezogen war. Dann fuhr das Fahrzeug los. Ein Beamter namens Toomey fuhr, während Murph auf dem Beifahrersitz saß. Ein zweites Auto mit zwei weiteren Beamten folgte ihnen in sicherer Entfernung. Zwei weitere Beamte blieben im Haus, um es zu sichern.
Obwohl es Vormittag war und der Verkehr vergleichsweise gering war, dauerte die Fahrt aufgrund des vielen Abbiegens in letzter Sekunde 45 Minuten. Beim Polizeirevier angekommen, fuhr das Auto in die Garage und sie mussten sitzen bleiben, bis die Garage von zwei uniformierten Beamten, die nicht wussten, warum sie es taten, außer dem “Befehlen von oben“, geräumt worden war.
Erst dann wurde Jessie durch einen Seiteneingang gebracht. Sie trug noch immer die Perücke, eine Kappe und eine sperrige Jacke mit einem Kragen, dessen Reißverschluss bis oben verschlossen war, um ihre Größe und ihren Hals zu verbergen und so ihr Geschlecht nicht zu offenbaren. Sie wurde an verschiedenen Stellen aufgehalten, bis die Flure leer genug waren, sodass sie passieren konnte.
Als sie es schließlich zum Konferenzraum geschafft hatte, begleitete Murph sie hinein, während Toomey vor der Tür Wache stand. Da Toomey 1,95 Meter groß und 110 Kilo schwer war und einen vollständig rasierten Kopf und einen permanent steifen Blick hatte, bezweifelte Jessie, dass jemand versuchen würde, ohne Erlaubnis einzudringen. Einer der verbleibenden Beamten wartete draußen am Eingang von der Garage zum Gebäude und der vierte fuhr langsam in seinem Auto um den Block und hielt Ausschau nach möglichen Auffälligkeiten.
Jessie unterdrückte das Schuldgefühl, das sie aufgrund dessen spürte, dass sie die Ursache all dieser Aktionen war. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich gerade Tausende von Dollar an Steuergeldern für etwas ausgegeben hatte, was wie eine unnötige Forderung aussah. Aber es war mehr als das. Wenn sie Polizeipräsident Decker von ihrem Plan überzeugen könnte, könnten die Kosten für diese kurze Fahrt hunderte Male erstattet werden. Aber sie musste ihn erst überzeugen.
„Wissen Sie“, sagte Murph leise aus der Ecke des Raumes und sprach zum ersten Mal, seit sie ihn betreten hatten. „Wir versuchen eigentlich, Sie zu beschützen. Sie müssen nicht ständig gegen uns arbeiten.“
„Ich versuche nicht, gegen Sie zu arbeiten“, bestand sie darauf. „Ich versuche zu helfen. Und ungeachtet dessen, was Ihr Chef denkt, bin ich eigentlich in einer ziemlich guten Position, um genau das zu tun.“
„Was meinen Sie?“, fragte er, als sich die Tür zum Raum öffnete und Polizeipräsident Decker eintrat.
„Sie werden es gleich herausfinden“, versprach Jessie.
Polizeipräsident Roy Decker, der verwirrt und verärgert wirkte, starrte sie an. Er war noch keine sechzig, wirkte allerdings weitaus älter. Er war der Chef des Hauptreviers, war groß und schlank und hatte nur noch wenige Haare, die eine Gatze gerade noch so verhinderten. Sein Gesicht war voller Falten, die durch jahrelange stressige Arbeit entstanden waren. Seine spitze Nase und seine glänzenden Augen erinnerten sie an einen Vogel auf der Suche nach Beute.
„Alles in Ordnung?“, fragte Jessie. „Sie sehen so aus, als wären Sie hierher gerannt.“
„Wenn Sie mitbekommen, dass Ihre Profilerin, die im Zeugenschutz versteckt sein sollte, nur ein paar Türen weiter sitzt, wird Ihnen ein bisschen schwindlig. Was ist so wichtig, dass ich in diese gottverlassene Ecke des Reviers kommen musste, wo mehr Asbest als Sauerstoff in der Luft hängt?“
Aus dem Augenwinkel heraus sah Jessie, wie Murph unbehaglich von einem Fuß auf den anderen wechselte und lächelte. Er wusste noch nichts von Deckers Hang zur Übertreibung.
„Ja. Aber bevor ich Ihnen das sage, kann ich Sie da fragen, wie die Suche nach… allen läuft?“
Decker seufzte schwer. Eine Sekunde lang sah es so aus, als würde er nicht antworten. Aber schließlich setzte er sich auf den Stuhl gegenüber von ihr und sprach.
„Nicht gerade gut“, gab er zu. „Sie wissen, dass wir einen NRD-Flüchtling, Jackson, am ersten Tag erwischt haben. Ein paar Tage später haben wir noch einen gefangen, Gimbel. Aber seitdem hatten wir trotz Dutzender glaubwürdiger Hinweise kein Glück mehr, die anderen beiden Jungs oder Crutchfield und Cortez zu finden.“
„Glauben Sie, sie sind alle zusammen?“, fragte Jessie und wusste bereits, dass sie nicht davon ausgingen.
„Nein. Wir haben Aufnahmen gesehen, auf denen Stoke und De La Rosa kurz nach ihrem Ausbruch in der Nähe der Einrichtung zu sehen sind und jeder war für sich allein. Wir haben keine Aufnahmen von Crutchfield und Cortez gefunden, aber wir gehen davon aus, dass sie immer noch zusammen sind.“
„Hmm“, sagte Jessie. „Wenn Sie nur Personal hätten, das mit beiden Männern vertraut ist und Einblick in ihre möglichen Verhaltensmuster geben könnte.“
Ihr Sarkasmus war eindeutig. Decker blinzelte kaum.
„Und wenn nur dieses Personal nicht zufälligerweise das Ziel genau der Männer wäre, mit denen es vertraut ist, könnten wir uns Nutzen von diesem Wissen machen“, antwortete er.
Sie starrten sich einen Moment lang schweigend an, und wollten ihren Standpunkt nicht aufgeben. Jessie gab schließlich nach und entschied, dass es nicht ratsam war, den Mann zu entfremden, dessen Autorisierung sie brauchte.
„Was ist mit Xander Thurman? Hatten Sie hier etwas mehr Glück?“
„Nein. Er ist komplett vom Radar verschwunden.“
„Trotz all seiner Verletzungen?“
„Wir haben jedes Krankenhaus, jede Notfallversorgung und jede private Klinik überprüft. Wir haben sogar Warnungen an Tierärzte rausgegeben. Aber nichts.“
„Dann kann das genau zwei Dinge bedeuten“, schloss Jessie. „Entweder hat er Zugang zu jemand anderem mit medizinischer Ausbildung, oder jemand an einem dieser Orte lügt, vielleicht weil er unter Druck gesetzt wird. Es ist unmöglich, dass er sich von diesen Verletzungen ohne Hilfe hätte erholen können. Das ist nicht möglich.“
„Das ist mir bewusst, Fräulein Hunt. Aber das sind die Informationen, die uns im Moment vorliegen.“
„Was, wenn Sie mehr hätten?“, fragte sie.
„Was meinen Sie damit?“, fragte Decker.
„Ich weiß, wie er vorgeht, und ich weiß auch, wie Crutchfield vorgeht. Verbrechen, die für die meisten Kriminalkommissare unauffällig aussehen, könnten Hinweise enthalten, die ich mit einem von ihnen in Verbindung bringen könnte. Wenn ich mir die neuesten Fallakten ansehen und die vielversprechenderen Spuren untersuchen könnte, könnten wir vielleicht schneller vorwärts kommen.“
Von hinten im Raum sprach Murph.
„Das scheint mir nicht gerade klug.“
Jessie war froh, das zu hören. Nichts reizte Decker mehr als Unbeteiligte, die unaufgefordert ihre Meinung kundtaten. Der unterbrechende Beamte konnte ihr nur behilflich sein für ihr Anliegen. Als sie zusah, wie ihr Chef die Stirn runzelte, blieb sie ruhig und ließ die Dynamik versickern.
„Was genau stellen Sie sich vor?“, fragte Decker sie mit knirschenden Zähnen.
Jessie wartete nicht darauf, dass er seine Meinung änderte.
„Ich könnte mir die gewalttätigen Angriffe und Morde der letzten Wochen ansehen, um zu sehen, ob einer von ihnen die Handschrift von einem der beiden Mörder trägt. Wenn einer von ihnen mit ihnen übereinstimmt, kann ich die vielversprechendsten Spuren verfolgen.“
Decker saß still da und dachte scheinbar über die Idee nach. Murph blieb jedoch nicht still.
„Sie können das nicht ernsthaft unterhaltsam finden, nach all den Bemühungen, die unternommen wurden, um ihr dieses Hochsicherheitshaus zu gewährleisten.“
Bitte reg dich weiter auf. Du schaufelst nur dein eigenes Grab.
Decker schien einen internen Krieg mit sich selbst zu führen. Es war klar, dass er trotz seiner Verärgerung über Murph das Gefühl hatte, dass der Mann einen guten Standpunkt vertrat. Aber sie konnte auch erkennen, dass in seinem Kopf noch etwas anderes vor sich ging, etwas, von dem Jessie anscheinend nichts wusste.
„Hören Sie“, sagte er schließlich. „Wie ich bereits erwähnt habe, haben wir viele Spuren – vielleicht sind es zu viele. Der bloße Versuch, sie durchzugehen, war eine Herausforderung. Wir haben das Sheriff's Department und weitere benachbarte Polizeidienststellen um Hilfe gebeten. Sogar das FBI hat sich eingeschaltet und stellt uns ein paar Agenten für Fälle, die sie für relevant halten, zur Verfügung. Wir sind gerade einfach so unterbesetzt. Es ist nicht so, dass alle anderen Kriminellen Urlaub genommen haben, nur weil wir fünf zusätzliche Psychos auf freiem Fuß haben. Vor zwei Tagen wurde eine Bande überfallen. Jemand lässt subkutane Nadeln auf Spielplätzen liegen. Ihr ehemaliger Kollege, Kriminalkommissar Hernandez, ist mit einem dreifachen Mord beschäftigt, weshalb er heute den ganzen Tag in Topanga Canyon ist. Und übrigens befinden wir uns in der zweiten Woche eines massiven Masern-Ausbruchs.“
„Was sagen Sie da?“, fragte Murph. Zum ersten Mal hatte Jessie das Gefühl, dass sie einen Hauch von Resignation in seiner Stimme spürte.
Decker lüftete schließlich das Geheimnis, das er bis zu diesem Punkt bewahrt hatte.
„Es gibt tatsächlich einen Fall, der heute Nacht hereingekommen ist, bei dem Sie behilflich sein könnten, Hunt. Es ist in Studio City passiert, also kümmert sich die North Hollywood Station darum. Aber das FBI hat Interesse gezeigt und einen Agenten beauftragt, es zu untersuchen. Ich könnte Sie mit ihm bekannt machen.“






