Ersehnt

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Bill grunzte unzufrieden.
“Können wir uns wenigstens zusammensetzen und darüber reden?” fragte er. “Vielleicht Morgen?”
Riley schwieg für einen Moment.
“Nicht morgen”, sagte sie dann. “Morgen muss ich einen Mann sterben sehen.”
Kapitel Fünf
Riley sah durch das Fenster in den Raum, in dem Derrick Caldwell bald sterben würde. Sie saß neben Gail Bassett, der Mutter von Kelly Sue Bassett, Caldwells letztem Opfer. Der Mann hatte fünf Frauen ermordet, bevor Riley ihn stoppen konnte.
Riley hatte gezögert Gails Einladung zu der Hinrichtung anzunehmen. Sie war Gail nur einmal begegnet, damals als freiwillige Zeugin, zwischen den Reportern, Anwälten und Gerichtsdienern. Jetzt saßen sie und Gail unter neun Angehörigen von Frauen, die Caldwell getötet hatte, alle von ihnen zusammen in einem engen Raum, auf weißen Plastikstühlen.
Gail, eine kleine sechzig Jahre alte Frau mit feinen, eleganten Gesichtszügen, hatte über die Jahre den Kontakt mit Riley aufrechterhalten. Bevor die Hinrichtung festgelegt wurde, war ihr Mann gestorben und sie hatte Riley geschrieben, dass sie niemanden hatte, der sie durch diesen schweren Moment begleiten konnte. Also hatte Riley zugestimmt, sie zu begleiten.
Die Todeskammer war direkt dort auf der anderen Seite des Fensters. Das einzige Möbelstück in diesem Raum war die kreuzförmige Hinrichtungsliege. Ein blauer Plastikvorhang hing am Ende der Liege. Riley wusste, dass dahinter die Infusionsröhren und tödlichen Chemikalien aufbewahrt wurden.
Ein rotes Telefon hing an der Wand, das mit dem Büro des Gouverneurs verbunden war. Es würde nur im Fall einer Begnadigung in letzter Minuten klingeln. Niemand erwartete an diesem Tag einen Anruf. Eine Uhr über der Tür war die einzige sichtbare Dekoration.
In Virginia konnten verurteilte Verbrecher sich zwischen dem elektrischen Stuhl und einer Giftspritze entscheiden, aber die Chemikalien wurden weitaus häufiger ausgewählt. Wenn der Häftling keine Entscheidung traf, wurde ihm die Giftspritze zugeteilt.
Riley war fast überrascht, dass Caldwell sich nicht für den elektrischen Stuhl entschieden hatte. Er war ein reueloses Monster, das den eigenen Tod willkommen zu heißen schien.
Es war 8:55 Uhr als sich die Tür öffnete. Riley hörte das stille Murmeln, das durch den Raum ging, als mehrere Mitglieder des Hinrichtungsteams Caldwell in die Kammer brachten. Zwei Wärter hatten jeweils einen seiner Arme gepackt, ein anderer ging hinter ihm. Ein gut gekleideter Mann trat als letztes ein – der Gefängnisdirektor.
Caldwell trug blaue Hosen, ein blaues Arbeitshemd und Sandalen ohne Socken. Er trug Hand- und Fußfesseln. Riley hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Während seiner Zeit als Serienmörder waren seine Haare lang und sein Bart struppig, ein passender Look für einen Straßenkünstler. Jetzt war er glatt rasiert und sah geradezu gewöhnlich aus.
Auch wenn er sich nicht wehrte, sah er verängstigt aus.
Gut, dachte Riley.
Er sah auf die Liege und dann schnell wieder weg. Er schien zu versuchen nicht auf den blauen Plastikvorhang zu blicken. Für einen Moment starrte er in den Zuschauerraum. Das schien ihn ruhiger und gefasster zu machen.
“Ich wünschte er könnte uns sehen”, murmelte Gail.
Sie wurden durch Einwegglas abgeschirmt und Riley teilte Gails Wunsch nicht. Caldwell hatte sie so schon eingehender betrachtet, als ihr lieb war. Um ihn zu fassen, hatte sie verdeckt ermittelt. Sie hatte vorgegeben ein Tourist zu sein und ihn dafür bezahlt ihr Porträt anzufertigen. Während er arbeitete hatte er sie mit Komplimenten überschüttet, ihr gesagt, dass sie die schönste Frau war, die er seit langem gezeichnet hatte.
In dem Moment hatte sie gewusst, dass sie sein nächstes Opfer sein würde. An diesem Abend hatte sie als Beute gedient, um ihn aus seinem Versteck zu locken. Als er versucht hatte sie anzugreifen, waren ihr die anderen Agenten sofort zur Hilfe geeilt.
Seine Gefangennahme war ohne Probleme verlaufen. Die Entdeckung, dass er seine Opfer zerteilt und in seiner Gefriertruhe aufbewahrt hatte, war eine andere Sache. Vor der geöffneten Gefriertruhe zu stehen war einer der grauenvollsten Momente ihrer Karriere gewesen. Sie fühlte immer noch Mitleid mit den Familien der Opfer – unter anderem Gail – für die grausige Aufgabe ihre zerteilten Familienmitglieder zu identifizieren.
“Zu schön, um zu leben”, hatte er sie genannt.
Es hatte Riley zutiefst erschüttert, dass er sie genauso wie diese Frauen gesehen hatte. Sie hatte sich nie für schön gehalten und Männer – selbst ihr Exmann Ryan – hatten ihr selten gesagt, dass sie es sei. Caldwell war eine schreckliche Ausnahme.
Was hatte es zu bedeuten, dachte sie, dass ein pathologisches Monster sie so perfekt fand? Hatte er in ihr etwas erkannt, das genauso monströs war wie er? Noch Jahre nach der Gerichtsverhandlung und dem Urteil plagten sie Albträume, in denen sie seine bewundernden Augen sah, die honigsüßen Worte hörte und vor der Gefriertruhe mit den Leichenteilen stand.
Das Hinrichtungsteam half Caldwell auf die Hinrichtungsliege, entfernte die Hand- und Fußfesseln, zog ihm die Sandalen aus und band ihn fest. Ledergurte hielten ihn auf der Liege – zwei über der Brust, zwei für die Beine, zwei für die Knöchel und zwei für die Handgelenke. Seine nackten Füße zeigten in Richtung des Fensters. Es war schwer sein Gesicht zu sehen.
Plötzlich wurden die Vorhänge vor dem Fenster zum Zuschauerraum geschlossen. Riley verstand, dass er dafür da war, die Phase der Hinrichtung zu verstecken, in der am meisten schief gehen konnte – wie etwa, dass das Team keine passende Vene fand. Trotzdem erschien es ihr seltsam. Die Leute im Zuschauerraum waren kurz davor Caldwell sterben zu sehen, aber sie durften nicht zusehen, wie so etwas Banales wie eine Nadel in seinen Arm gestochen wurde. Der Vorhang bewegte sich leicht, offensichtlich durch eine Bewegung von einem der Helfer auf der anderen Seite.
Als der Vorhang sich wieder öffnete, waren die Infusionsleitungen angebracht und liefen durch Löcher in dem blauen Plastikvorhang in den Arm des Häftlings. Zwei Mitglieder des Hinrichtungsteams standen hinter dem Plastikvorhang, wo sie die tödlichen Chemikalien einlassen würden.
Ein Mann hielt den roten Telefonhörer, bereit einen Anruf zu erhalten, der nicht kommen würde. Ein anderer sprach mit Caldwell, seine Worte über die schlechte Soundanlage kaum vernehmbar. Er fragte Caldwell, ob er noch irgendwelche letzten Worte hatte.
Im Gegensatz dazu erklang Caldwells Antwort laut und klar.
“Ist Agentin Paige hier?” fragte er.
Seine Worte sandten einen Schock durch Riley.
Der Wärter antwortete nicht. Es war keine Frage auf dessen Antwort Caldwell ein Recht hatte.
Nach einem angespannten Schweigen, sprach Caldwell wieder.
“Sagen Sie Agentin Paige, ich wünschte meine Kunst hätte ihr gerecht werden können.”
Auch wenn Riley sein Gesicht nicht deutlich sehen konnte, dachte sie, dass sie ihn kichern hörte.
“Das ist alles”, sagte er. “Ich bin bereit.”
Riley wurde von Wut, Entsetzen und Verwirrung überrollt. Das war das Letzte, was sie erwartet hatte. Derrick Caldwell hatte sich entschieden seinen letzten Moment ihr zu widmen. Und hier, hinter dem unzerbrechlichen Glas sitzend, konnte sie nichts dagegen tun.
Sie hatte ihn geschnappt, aber am Ende hatte er eine seltsame, kranke Art von Rache erhalten.
Sie fühlte, wie Gails kleine Hand ihre eigene packte.
Lieber Gott, dachte Riley. Sie versucht mich zu trösten.
Riley musste gegen eine Welle der Übelkeit ankämpfen.
Caldwell sagte noch etwas.
“Werde ich fühlen, wenn es anfängt?”
Wieder erhielt er keine Antwort. Riley konnte sehen, wie die Flüssigkeit durch die transparenten Leitungen floss. Caldwell atmete mehrmals tief ein und schien dann einzuschlafen. Sein linker Fuß zuckte ein paar Mal und erstarrte dann.
Nach einem Moment zwickte ein Wärter die beiden nackten Füße, was keine Reaktion auslöste. Es schien eine sonderbare Geste zu sein. Aber Riley wurde klar, dass der Wärter nur sicherstellte, dass die Betäubung wirkte und Caldwell bewusstlos war.
Der Wärter rief den Leuten hinter dem Plastikvorhang etwas zu. Riley sah erneut, wie eine Flüssigkeit durch die Leitungen floss. Sie wusste, dass eine zweite Chemikalie jetzt dabei war seine Lungen anzuhalten. Nach einer Weile würde die dritte Chemikalie sein Herz stoppen.
Während Caldwells Atem langsamer wurde, dachte Riley darüber nach, was sie gerade sah. Wie unterschied es sich von all den Malen, in denen sie selbst tödliche Gewalt hatte anwenden müssen? Für ihre Arbeit hatte sie mehrere Mörder getötet.
Aber das hier war nicht wie diese anderen Male. Im Vergleich war es auf bizarre Weise kontrolliert, sauber, klinisch und makellos. Es schien ihr unerklärlich falsch zu sein. Irrationaler Weise dachte Riley, Ich hätte es nicht dazu kommen lassen sollen.
Sie wusste, dass sie damit nicht Recht hatte; Caldwells Verhaftung war professionell und nach allen Regeln durchgeführt worden. Aber sie dachte trotzdem, Ich hätte ihn selber töten sollen.
Gail hielt Rileys Hand mit gleicher Kraft zehn Minuten lang fest. Schließlich sagte der Mann neben Caldwell etwas, das Riley nicht hören konnte.
Der Gefängnisdirektor trat nach vorne und sprach klar und laut genug, dass ihn alle Zeugen verstehen konnten.
“Das Urteil wurde erfolgreich um 9:07 Uhr vollstreckt.”
Dann schlossen sich die Vorhänge vor dem Fenster wieder. Die Zuschauer hatten alles gesehen, was sie sehen sollten. Wärter kamen in den Raum und baten alle so schnell wie möglich den Raum zu verlassen.
Als die Gruppe in den Flur trat, nahm Gail wieder Rileys Hand.
“Es tut mir leid, dass er das gesagt hat”, sagte Gail.
Riley war überrascht. Wie konnte Gail sich in so einem Moment Gedanken um Rileys Gefühle machen. In dem Moment, in dem endlich der Gerechtigkeit für den Mord an ihrer Tochter Genüge getan wurde.
“Wie geht es Ihnen, Gail?” fragte sie, während sie eilig zum Ausgang gingen.
Gail ging schweigend neben ihr her. Ihr Gesicht war leer.
“Es ist vorbei”, sagte sie schließlich, ihre Stimme kalt und taub. “Es ist vorbei.”
Kurz darauf traten sie zurück ins Tageslicht. Riley konnte zwei Menschenmengen auf der gegenüberliegenden Straßenseite sehen, die jeweils mit Absperrbändern zurückgehalten und von der Polizei strikt kontrolliert wurden. Auf der einen Seite waren die Leute, die für die Hinrichtung waren und Schilder mit hasserfüllten Sprüchen hochhielten, einige davon obszön und profan. Sie waren verständlicherweise guter Stimmung. Auf der anderen Seite waren die Todesstrafengegner mit ihren eigenen Schildern. Sie waren die ganze Nacht hier gewesen und hatten Mahnwache gehalten. Ihre Stimmung war mehr als gedrückt.
Riley konnte für keine der beiden Gruppen viel Sympathie aufbringen. Diese Leute waren nur für sich selber hier, um eine öffentliche Show aus ihrer Wut und Rechtschaffenheit zu machen. Soweit es sie betraf hatten sie kein Recht hier zu sein – nicht unter den Menschen, dessen Trauer und Schmerz zu real waren.
Zwischen dem Eingang und den Menschenmengen war ein Schwarm von Reportern mit Fernsehwagen in der Nähe. Während Riley sich einen Weg bahnte, kam eine Frau, mit Mikrofon in der Hand und Kameramann hinter hier, auf sie zugelaufen.
“Agentin Paige? Sind Sie Agentin Paige?” fragte sie.
Riley antwortete nicht. Sie versuchte sich an der Reporterin vorbei zu drängen.
Die Reporterin ließ sich jedoch nicht abwimmeln. “Wir haben gehört, dass Caldwell Sie in seinen letzten Worten erwähnt hat. Wollen Sie das kommentieren?”
Andere Reporter drängten sich dazu und stellten die gleiche Frage. Riley biss die Zähne zusammen und drückte sich durch die Menge. Endlich konnte sie sich befreien.
Sie eilte zum Auto und dachte über Meredith und Bill nach. Beide hatten sie gedrängt den neuen Fall anzunehmen. Und sie versuchte zu vermeiden einem von ihnen eine Antwort zu geben.
Warum? fragte sie sich.
Sie war gerade vor den Reportern geflohen. Floh sie auch vor Bill und Meredith? Floh sie vor dem, der sie wirklich war? Vor allem, was sie tun musste?
*
Riley war dankbar wieder zu Hause zu sein. Der Tod, den sie an diesem Morgen erlebt hatte, hinterließ ein leeres Gefühl in ihr und die Fahrt zurück nach Fredericksburg war ermüdend gewesen. Aber als sie die Tür des Stadthauses öffnete, schien etwas nicht ganz richtig zu sein.
Es war unnatürlich still. April sollte längst zu Hause sein. Wo war Gabriela? Riley ging in die Küche und fand sie leer. Ein Zettel lag auf dem Küchentisch.
Me voy a la tienda, stand darauf. Gabriela war einkaufen gegangen.
Riley packte die Lehne eines Stuhls, als eine Welle der Panik über sie hereinbrach. Gabriela war einkaufen gewesen, als April vom Haus ihres Vaters entführt worden war.
Dunkelheit, das Flackern einer Flamme.
Riley wirbelte herum und rannte zur Treppe.
“April”, schrie sie.
Es kam keine Antwort.
Riley rannte nach oben. Niemand war in den Schlafzimmern. Niemand in ihrem kleinen Büro.
Rileys Herz schlug ihr bis zum Hals, auch wenn ihr Verstand ihr sagte, dass sie albern war. Ihr Körper hörte nicht auf ihren Verstand.
Sie rannte wieder ins Erdgeschoss und raus auf die Terrasse.
“April”, schrie sie.
Aber niemand spielte im Garten nebenan und es waren keine Kinder zu sehen.
Sie musste sich mit Gewalt zusammenreißen nicht noch einmal zu schreien. Sie wollte nicht die Nachbarn davon überzeugen, dass sie wirklich verrückt war. Noch nicht.
Sie versuchte ungelenk ihr Handy so schnell wie möglich aus der Tasche zu ziehen. Sie schrieb April.
Sie bekam keine Antwort.
Riley ging zurück ins Haus und setzte sich auf die Couch. Ihr Kopf fiel in ihre Hände.
Sie war zurück in dem Kriechkeller, lag in der Dunkelheit auf der Erde.
Aber ein kleines Licht kam auf sie zu. Sie konnte sein grausames Gesicht im Schein der Flamme sehen. Aber sie wusste nicht, ob der Mörder für sie oder für April gekommen war.
Riley zwang sich dazu die Vision von ihrer Gegenwart zu trennen.
Peterson ist tot, sagte sie sich immer wieder. Er kann uns nicht mehr quälen.
Sie setzte sich auf und versuchte sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Sie war jetzt hier in ihrem neuen Haus, in ihrem neuen Leben. Gabriela war einkaufen gegangen. April war sicherlich irgendwo in der Nähe.
Ihr Atem wurde langsamer, aber sie konnte sich nicht dazu bringen aufzustehen. Sie hatte Angst, dass sie wieder nach draußen laufen und schreien würde.
Es schien Riley, als wäre eine Ewigkeit vergangen, bis sie hörte, wie sich die Haustür öffnete.
April kam singend herein.
Jetzt schaffte Riley es endlich aufzustehen. “Wo zum Teufel bist du gewesen?”
April sah sie erschrocken an.
“Was hast du für ein Problem, Mom?”
“Wo warst du? Warum hast du mir nicht auf meine Nachricht geantwortet?”
“Sorry, ich hatte mein Telefon auf lautlos. Mom, ich war nur drüben bei Cece. Nur auf der anderen Straßenseite. Als wir aus dem Schulbus gestiegen sind, hat ihre Mutter uns ein Eis angeboten.”
“Woher sollte ich wissen, wo du bist?”
“Ich dachte nicht, dass du schon zu Hause bist.”
Riley hörte wie sie schrie, aber sie konnte sich nicht stoppen. “Mir ist egal, was du gedacht hast. Du hast nicht nachgedacht. Du musst mich immer wissen lassen …”
Die Tränen, die April über die Wangen liefen, stoppten sie schließlich.
Riley sog scharf die Luft ein, eilte nach vorne und umarmte ihre Tochter. Zuerst war Aprils Körper steif vor Wut, aber Riley konnte spüren, wie sie sich langsam entspannte. Ihr wurde klar, dass auch ihr selbst Tränen über das Gesicht liefen.
“Es tut mir leid”, sagte Riley. “Es tut mir leid. Es ist nur, wir haben so viel … so viel Schreckliches durchgemacht.”
“Aber das ist jetzt vorbei”, sagte April. “Mom, es ist vorbei.”
Sie setzten sich beide auf die Couch. Es war eine neue Couch, die sie nach ihrem Einzug gekauft hatten. Sie hatte sie für ihr neues Leben gekauft.
“Ich weiß, dass alles vorbei ist”, sagte Riley. “Ich weiß, dass Peterson tot ist. Ich versuche mich daran zu gewöhnen.”
“Mom, es ist jetzt alles so viel besser. Du musst dir nicht wieder jede Sekunde um mich Sorgen machen. Und ich bin kein dummes kleines Kind. Ich bin fünfzehn.”
“Und du bist sehr klug”, sagte Riley. “Ich weiß. Ich muss mich nur selber von Zeit zu Zeit daran erinnern. “Ich liebe dich, April” sagte sie. “Deshalb verhalte ich mich manchmal so seltsam.”
“Ich liebe dich auch, Mom”, sagte April. “Mach dir nur nicht immer so viele Sorgen.”
Riley war froh ihre Tochter wieder lachen zu sehen. April war entführt, gefangen gehalten und mit einer Flamme bedroht worden. Sie schien wieder ein ganz gewöhnlicher Teenager zu sein, auch wenn ihre Mutter Probleme damit hatte, wieder Fuß zu fassen.
Trotzdem fragte Riley sich, ob die dunklen Erinnerungen, die sich in ihrer Tochter versteckten, nur darauf warteten wieder auszubrechen.
Sie selbst wusste, dass sie mit jemandem über ihre eigenen Ängste und wiederkehrenden Albträume reden musste. Und zwar bald.
Kapitel Sechs
Riley rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, während sie darüber nachdachte, was sie Mike Nevins erzählen sollte. Sie war unruhig und nervös.
“Lass dir Zeit”, sagte der forensische Psychiater, der sich in seinem Stuhl nach vorne lehnte und sie besorgt betrachtete.
Riley lachte kläglich. “Das ist das Problem”, sagte sie. “Ich habe keine Zeit. Ich trödele schon länger. Ich muss eine Entscheidung treffen. Ich habe es zu lange hinausgezögert. Hast du mich jemals so unentschlossen gesehen?”
Mike antwortete nicht. Er lächelte einfach und legte die Finger gegeneinander.
Riley war an diese Art von Schweigen gewöhnt. Der adrette, recht penible Mann war über die Jahre viel für sie geworden – ein Freund, ein Therapeut, manchmal sogar eine Art Mentor. Normalerweise rief sie ihn an, wenn sie Einsichten in einen besonders dunklen Verstand brauchte. Aber dieser Besuch war anders. Sie hatte ihn am letzten Abend angerufen und war am Morgen zu seinem Büro in DC gefahren.
“Also, was hast du für Auswahlmöglichkeiten?” fragte er schließlich.
“Nun, ich nehme an, ich muss mich entscheiden, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen will – unterrichten oder ein aktiver Agent sein. Oder etwas vollkommen anderes finden.”
Mike lachte leicht. “Ganz langsam. Lass uns nicht versuchen deine ganze Zukunft an einem Tag zu planen. Schauen wir uns doch lieber das Jetzt an. Meredith und Jeffreys wollen, dass du den Fall annimmst. Nur einen Fall. Das ist weder noch. Niemand sagt, dass du das Unterrichten aufgeben musst. Und alles was du tun musst, ist für diesen einen Fall ja oder nein zu sagen. Also, was ist das Problem?”
Jetzt war es an Riley schweigend nachzudenken. Sie wusste nicht, was ihr Problem war. Deshalb war sie hier.
“Ich nehme an, du hast vor etwas Angst”, sagte Mike.
Riley schluckte hart. Das war es. Sie hatte Angst. Sie hatte sich geweigert es zuzugeben, auch sich selbst gegenüber. Aber jetzt brachte Mike sie dazu, darüber zu reden.
“Wovor hast du Angst?” fragte Mike. “Du hast gesagt, du hättest Albträume.”
Riley schwieg noch immer.
“Das wird Teil deines PTBS Problems sein”, sagte Mike. “Hast du immer noch Flashbacks?”
Riley hatte die Frage erwartet. Schließlich hatte Mike mehr als jeder andere für sie getan, um ihr durch das Trauma der besonders schrecklichen Erfahrung zu helfen.
Sie lehnte ihren Kopf gegen die Stuhllehne und schloss die Augen. Für einen Moment war sie wieder in Petersons dunklem Käfig und er bedrohte sie mit einer Propanfackel. Monatelang nach ihrer Gefangenschaft, hatte sich diese Erinnerung ihr immer wieder aufgedrängt.
Aber dann hatte sie Peterson gefunden und ihn selbst getötet. Tatsächlich hatte sie ihn erschlagen.
Wenn das kein Abschluss ist, was dann, dachte sie.
Jetzt schienen ihr die Erinnerungen unpersönlich, als gehörten sie jemand anderem.
“Es geht mir besser”, sagte Riley. “Sie sind kürzer und weniger häufig.”
“Wie geht es deiner Tochter?”
Die Frage traf Riley wie ein Schlag in die Magengrube. Sie fühlte ein Echo von der Panik, die sie erlebt hatte, nachdem Peterson April entführt hatte. Sie konnte immer noch Aprils Hilfeschreie hören.
“Ich nehme an, das habe ich noch nicht hinter mir lassen können”, sagte sie. “Ich wache auf und habe Angst, dass sie entführt wurde. Ich muss in ihr Zimmer gehen, um sicherzustellen, dass sie da ist und es ihr gut geht.”
“Willst du deshalb keinen neuen Fall annehmen?”
Riley erschauderte. “Ich will nicht, dass sie jemals wieder so etwas durchmachen muss.”
“Das ist keine Antwort.”
“Nein, da hast du wohl Recht”, sagte Riley.
Wieder herrschte Stille.
“Ich habe das Gefühl, dass da noch mehr ist”, sagte Mike schließlich. “Was bereitet dir noch Albträume? Was hält dich nachts wach?”
Mit einem Schlag, war der Schrecken, der sich in einer Ecke ihres Gehirns versteckte, wieder da.
Ja, da war etwas anderes.
Selbst mit offenen Augen konnte sie sein Gesicht sehen – Eugene Fisks jungenhaftes, auf groteske Weise unschuldig aussehendes Gesicht mit den kleinen Knopfaugen. Riley hatte ihm bei ihrer letzten Konfrontation tief in diese Augen gesehen.
Der Mörder hatte Lucy Vargas ein Rasiermesser an den Hals gehalten. In diesem Moment erforschte Riley ihre tiefsten Ängste. Sie hatte über die Ketten geredet – diese Ketten, von denen er glaubte, dass sie mit ihm sprachen, ihn dazu zwangen einen Mord nach dem anderen zu verüben, Frauen anzuketten und ihre Kehlen durchzuschneiden.
“Die Ketten wollen nicht, dass du diese Frau nimmst”, hatte Riley ihm gesagt. “Sie ist nicht, was sie brauchen. Du weißt, was die Ketten wirklich brauchen.”
In seinen Augen hatten Tränen geglitzert, als er zustimmend nickte. Dann hatte er sich auf gleiche Weise getötet, wie seine Opfer.
Er hatte sich vor Rileys Augen die Kehle durchgeschnitten.
Und jetzt, hier in Mike Nevins Büro, erstickte Riley fast an ihrem eigenen Entsetzen.
“Ich habe Eugene getötet”, keuchte sie.
“Den Ketten-Mörder meinst du. Nun, er war nicht der erste Mann, den du getötet hast.”
Das stimmte – sie hatte schon davor einige Male tödliche Gewalt anwenden müssen. Aber bei Eugene war es anders gewesen. Sie dachte oft an seinen Tod, aber hatte bisher noch mit niemandem darüber geredet.
“Ich habe keine Waffe, keinen Stein, nicht meine Fäuste genutzt”, sagte sie. “Ich habe ihn mit Verständnis getötet, mit Mitgefühl. Mein eigener Verstand ist eine tödliche Waffe. Das habe ich nie gewusst. Es macht mir Angst, Mike.”
Mike nickte mitfühlend. “Du weißt, was Nietzsche sagt, über das Blicken in den Abgrund”, sagte er.
“Dass der Abgrund auch in einen selbst hineinblickt”, bestätigte Riley. “Aber ich habe mehr getan, als nur in den Abgrund zu gucken. Ich habe förmlich dort gelebt. Ich habe es mir dort gemütlich gemacht. Es ist mein zweites Zuhause. Das ängstigt mich zu Tode, Mike. Eines Tages gehe ich vielleicht in den Abgrund und komme nicht mehr zurück. Und wer weiß, wen ich dabei verletzte – oder töte.”
“Aha”, sagte Mike und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. “Vielleicht machen wir jetzt Fortschritte.”
Riley war sich nicht so sicher. Und sie hatte nicht das Gefühl einer Entscheidung näher gekommen zu sein.
*
Als Riley kurze Zeit später durch ihre Haustür ging, kam April die Treppe heruntergelaufen, um sie zu begrüßen.
“Mom, du musst mir helfen! Komm schon!”
Riley folgte April die Stufen nach oben. In Aprils Zimmer lag ein Koffer offen auf ihrem Bett und Kleidungsstücke waren überall verstreut.
“Ich weiß nicht, was ich einpacken soll.” sagte April. “Das musste ich bisher noch nie machen!”










