Gefangen

- -
- 100%
- +
Kaul tippte mit seinem Kugelschreiber auf den Tisch und sagte: „Nun, Jilly, du musst nicht aussagen –– “
Jilly unterbrach ihn. “Ich will aber. Ich werde aussagen.“
Kaul schien ein wenig überrascht über die Entschlossenheit in Jillys Stimme. Riley wünschte sich, dass der Anwalt genauso entschlossen wäre, wie sie.
„Na gut“, sagte Kaul. „Dann können wir das als geklärt ansehen.“
Als das Treffen zu Ende ging verabschiedete sich Brenda gemeinsam mit Kaul und den Flaxmans und sie verließen gemeinsam das Lokal. Riley und Jilly machten sich auf ein Auto zu mieten, um zu einem nahegelegenen Hotel zu fahren und dort einzuchecken.
*
Sobald sie sich in ihrem Hotelzimmer eingerichtet hatten, bestellten Riley und Jilly Pizza. Im Fernsehen lief ein Film den sie beide zuvor gesehen hatten, und sie beachteten die Handlung nicht besonders. Zu Rileys Erleichterung schien Jilly nun kein bisschen aufgeregt zu sein. Sie unterhielten sich gemütlich über Kleinigkeiten wie Jillys kommendes Schuljahr, Klamotten und Schuhe, das Leben der Stars und auch über die Nachrichten.
Riley fand es unglaublich, dass Jilly erst vor so kurzer Zeit in ihr Leben getreten war. Ihre Beziehung war so natürlich und unbeschwert.
So, als wäre sie schon immer meine Tochter gewesen, dachte Riley. Sie begriff, dass das genau das war, was sie für dieses Mädchen empfand, doch dies brachte eine neue Welle der Sorgen mit sich.
Würde das alles morgen ein Ende haben?
Riley konnte sich nicht dazu bringen, sich vorzustellen, wie sich das anfühlen würde.
Sie hatten fast ihre Pizza aufgegessen als sie von einem lauten Signal, das von Rileys Laptop ausging, unterbrochen wurden.
„Oh, das muss April sein!“, sagte Jilly. „Sie hat mir versprochen per Videochat anzurufen.“
Riley lächelte und ließ Jilly den Anruf von ihrer älteren Tochter entgegennehmen. Riley lauschte müßig dem Gespräch der beiden Mädchen, die vor sich her schnatterten wie die Schwestern, die sie in den letzten Monaten wahrhaftig geworden waren.
Als die Mädchen ihr Gespräch beendet hatten, unterhielt Riley sich mit April während Jilly sich auf das Bett fallen ließ und begann fernzusehen. Aprils Gesichtsausdruck war ernst und besorgt.
Sie fragte: „Wie sieht es für morgen aus, Mom?“
Riley warf einen Blick zu Jilly und sah, dass sie in dem Film versunken war. Sie dachte nicht, dass Jilly ihrem Gespräch wirklich folgte, wollte aber trotzdem vorsichtig sein.
„Wir werden sehen“, antwortete sie.
April sprach in einer leisten Stimme, sodass Jilly nichts mitbekam.
„Du siehst besorgt aus, Mom.“
„Ja, wahrscheinlich hast du recht“, sagte Riley selbst leise.
„Du schaffst das, Mom. Ich weiß, dass du es schaffst.“
Riley musste schlucken.
“Ich hoffe es”, sagte sie.
Immer noch mit leiser Stimme war April nun doch sehr von ihren Emotionen mitgerissen.
„Wir können sie nicht verlieren, Mom. Sie kann nicht zu diesem alten Leben zurück.“
„Ich weiß“, sagte Riley. „Mach dir keine Sorgen.“
Riley und April saßen einen Moment lang schweigend da. Riley war auf einmal zutiefst bewegt von der Reife, die ihre Fünfzehnjährige zeigte.
Sie wird wirklich erwachsen, dachte Riley stolz.
Schließlich sagte April: „Naja, ich lass dich mal gehen. Ruf mich an, sobald ihr etwas Neues hört.“
„Das mache ich“, sagte Riley.
Sie beendete den Videoanruf und ging hinüber zum Bett um sich wieder neben Jilly zu setzen. Sie waren gerade am Ende des Films angelangt, als das Telefon klingelte. Riley fühlte eine erneute Welle der Besorgnis über sie schwemmen.
Anrufe brachten in letzter Zeit nie gute Nachrichten.
Sie nahm ab und hörte die Stimme einer Frau.
„Agentin Paige, ich rufe sie von der Quantico Telefonzentrale an. Wir haben soeben einen Anruf von einer Frau aus Atlanta erhalten und…nun ja, ich weiß nicht genau, was ich tun soll, aber sie möchte unbedingt mit Ihnen persönlich sprechen.“
„Atlanta?“, fragte Riley nach. „Um wen handelt es sich?“
“Ihr Name ist Morgan Farrell.”
Riley fühlte einen kalten Schauer über ihren Rücken gleiten.
Sie erinnerte sich an die Frau von einem Fall, an dem sie im Februar gearbeitet hatte. Morgans reicher Ehemann, Andrew, hatte für kurze Zeit unter Mordverdacht gestanden. Riley und ihr Partner, Bill Jeffreys, hatten Andrew Farrell in seinem Zuhause verhört, und hatten festgestellt, dass er nicht der Mörder war, nach dem sie suchten. Nichtsdestotrotz bemerkte Riley, dass der Mann seine Ehefrau misshandelte.
Sie hatte Morgan damals heimlich ihre FBI Karte zugesteckt, hatte jedoch nie etwas von ihr gehört.
Wahrscheinlich will sie endlich Hilfe, dachte Riley und stellte sich die dünne, elegante und schüchterne Frau vor, die sie in Andrew Farrells Villa angetroffen hatte.
Doch dann kam Riley ins Zweifeln –– was konnte sie unter den gegenwärtigen Umständen schon für diese Frau tun?
Das letzte was sie gerade brauchte war ein weiteres Problem, das sie lösen musste.
Der Operator hakte nach: „Soll ich den Anruf weiterleiten?“
Riley hielt noch einen Moment lang inne und antwortete schließlich: „Ja, bitte.“
Einen Augenblick später vernahm sie eine Frauenstimme.
„Hallo, ist das Spezialagentin Riley Paige?“
Es ging ihr nun auf, dass sie Morgan kein einziges Wort hatte sagen hören als sie bei ihnen zuhause war. Sie schien so große Angst vor ihrem Mann gehabt zu haben, dass sie nicht einmal zu sprechen wagte.
Nun klang sie aber nicht allzu ängstlich.
Tatsächlich klang sie sogar ziemlich fröhlich.
Ist das nur ein Höflichkeitsanruf? fragte Riley sich.
„Ja, hier ist Riley Paige“, antwortete sie.
„Nun ja, ich dachte nur, dass ich Ihnen einen Anruf schulde. Sie waren überaus freundlich zu mir, an diesem Tag, an dem Sie unser Zuhause besucht hatten. Sie haben mir Ihre Karte hinterlassen und Sie schienen besorgt um mich zu sein. Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass Sie sich keine Sorgen mehr machen müssen. Jetzt ist alles gut.“
Riley atmete erleichtert auf.
„Ich freue mich, das zu hören“, sagte sie. „Haben Sie ihn verlassen? Lassen Sie sich scheiden?“
“Nein”, antwortete Morgan fröhlich. “Ich hab‘ den Mistkerl umgebracht.“
KAPITEL ZWEI
Riley ließ sich in den nächsten Sessel niederfallen als die Worte der Frau in ihrem Kopf wiederhallten.
„Ich hab‘ den Mistkerl umgebracht.“
Hatte Morgan das gerade wirklich gesagt?
Morgan fragte: „Agent Paige, sind sie noch dran?“
„Ich bin noch dran“, sagte Riley. „Erzählen Sie mir, was passiert ist.“
Morgan klang immer noch so ruhig, dass es gruselig war.
„Die Sache ist, dass ich nicht ganz sicher bin. Ich war in letzter Zeit ziemlich berauscht und kann mich nicht so gut an die Dinge erinnern, die ich so tue. Aber ich habe ihn auf jeden Fall umgebracht. Ich schaue just in diesem Moment auf seinen Körper, hier in seinem Bett. Er hat lauter Messerstiche und hat viel geblutet. Es sieht so aus, als hätte ich es mit einem scharfen Küchenmesser getan. Das Messer liegt hier direkt neben ihm.“
Riley kämpfte damit zu begreifen, was sie da gerade zu hören bekam.
Sie erinnerte sich daran, wie dürr Morgan damals ausgesehen hatte. Riley war sich sicher gewesen, dass sie magersüchtig war. Riley wusste besser als jeder andere, wie schwer es war jemanden zu Tode zu stechen. War Morgan rein körperlich überhaupt in der Lage so etwas zu tun?
Sie hörte, wie Morgan seufzte.
„Es tut mir unsagbar leid, Sie zu stören, aber ich weiß ehrlichgesagt nicht, was ich als nächstes tun soll. Ich hatte mich gefragt, ob Sie mir helfen könnten.“
„Haben Sie es sonst noch jemandem erzählt? Haben Sie die Polizei gerufen?“
„Nein.“
Riley stammelte: „Ich…Ich werde mich sofort darum kümmern.“
„Ok, haben Sie vielen Dank.“
Riley wollte Morgan gerade sagen, dass sie dranbleiben soll, während Riley einen separaten Anruf von ihrem Handy aus machen würde. Doch Morgan hatte bereits aufgelegt.
Riley saß einen Moment lang da und starrte ins Leere. Sie hörte, wie Jilly sie fragte: „Mom, ist was passiert?“
Riley schaute zu ihr herüber und sah, dass Jilly zutiefst besorgt aussah.
Sie sagte: „Nichts, was dich beunruhigen muss, mein Schatz.“
Dann ergriff sie ihr Handy und rief die Polizei in Atlanta an.
*
Officer Jared Ruhl langweilte sich und fühlte sich rastlos als er im Beifahrersitz neben Sergent Dylan Petrie saß. Es war Nacht und sie patrouillierten gerade eines der reichsten Viertel in Atlanta –– eine Gegend, wo äußerst selten etwas vorfiel. Ruhl war neu bei der Polizei und er sehnte sich nach dem Gefühl mitten in Geschehen zu sein.
Er hatte all den Respekt der Welt für seinen afro-amerikanischen Partner und Mentor. Sergeant Petrie war schon seit über zwanzig Jahren dabei, und er war einer der erfahrensten und abgehärteten Cops auf ihrer Wache.
Wieso schicken sie uns also auf diese sinnlose Route? fragte Ruhl sich.
Als ob sie auf seine stumme Frage antwortete, kam eine weibliche Stimme durch das Funkgerät…
„Vier-Frank-Dreizehn, hören Sie?“
Ruhls Sinne verschärften sich, als er ihre eigene Fahrzeugidentifikationsnummer hörte.
Petrie antwortete: „Wir hören, was gibt’s?“
Die Mitarbeiterin der Einsatzzentrale hielt inne, als könne sie selbst kaum glauben, was sie sagte.
Dann sprach sie: „Wir haben einen möglichen Eins-Siebenundachtzig im Farrell Haushalt. Begeben Sie sich vor Ort.“
Ruhls Kiefer fiel auf und er sah, wie Petries Augen sich überrascht weiteten. Ruhl wusste, dass 187 der Code für Totschlag war.
In Andrew Farrells Haus? wunderte Ruhl sich.
Er konnte seinen Ohren nicht glauben und Petrie sah so aus, als konnte auch er es nicht.
„Wiederholen Sie“, sagte Petrie.
„Ein möglicher Eins-Siebenundachtzig bei den Farrells. Können Sie dort hinfahren?“
Ruhl sah, wie Petrie stutzend die Stirn runzelte.
„Ja“, sagte Petrie. „Gibt es Verdächtige?“
Die Mitarbeiterin hielt erneut inne und sagte schließlich: “Mrs. Farrell.”
Petrie holte Luft und schüttelte den Kopf.
„Uh…ist das ein Witz?“, sagte er.
„Kein Witz.“
„Wer ist der RP?“ fragte Ruhl.
Was bedeutet das? fragte Ruhl sich.
Ach ja…
Es bedeutete: ‚Wer hat die Tat gemeldet?‘
Die Mitarbeiterin antwortete: “Eine BAU Agentin rief aus Phoenix, Arizona durch. Ich weiß, wie merkwürdig das klingt, aber…“
Die Mitarbeiterin schwieg.
Petrie sagte: „Code Drei?“
Ruhl wusste, dass Petrie fragte, ob er Sirene und Blinkleuchte einsetzen sollte.
Die Mitarbeiterin fragte: „Wie nah sind Sie?“
„Unter einer Minute Fahrt“, antwortete Petrie.
„Lassen Sie’s dann lieber sein. Die ganze Sache ist…“
Ihre Stimme verstummte erneut. Ruhl fragte sich, ob sie besorgt war, dass sie zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden. Was auch immer wirklich passiert war in diesem luxuriösen und privilegierten Viertel, es war sicherlich eine gute Idee die Medien so lange wie möglich im Dunkeln darüber zu belassen.
Endlich sagte die Einsatzzentralmitarbeiterin: „Fahren Sie einfach mal dort vorbei, ok?“
„Verstanden“, antwortete Petire. „Wir sind auf dem Weg.“
Petrie trat aufs Gas und sie eilten die ruhige Straße entlang.
Ruhl staunte, als sie sich der Farrell Villa näherten. Es war näher, als er jemals an das Haus herangetreten war. Das Gebäude breitete sich in alle Richtungen hin aus und sah eher aus wie ein vornehmer Gesellschaftsclub, als wie eine Privatadresse. Die Fassade war sorgfältig beleuchtet –– sicherlich auch aus Sicherheitsgründen, aber in erster Linie wahrscheinlich um die beeindruckenden Bögen, Säulen und riesigen Fenster in Szene zu setzen. Petrie parkte das Auto in der enormen Einfahrt und stellte den Motor ab. Er und Ruhl stiegen aus und liefen zu der massiven Eingangstür hinüber. Petrie klingelte.
Wenige Augenblicke später öffnete ein großer, schlanker Mann die Tür. Ruhl schätze aufgrund seines feierlichen Frackanzugs und seiner streng-offiziösen Miene, dass es sich um den Familienbutler handelte.
Es schien überrascht und keineswegs erfreut zu sein, die zwei Polizisten vor der Haustür anzutreffen.
„Darf ich fragen, worum es geht?“, wollte er wissen.
Der Butler schien nicht zu ahnen, dass es im Inneren der Villa irgendeinen Aufruhr geben könnte.
Petrie schaute rüber zu Ruhl, der spürte, dass sein Mentor dachte…
Ein falscher Alarm.
Wahrscheinlich nur ein Scherzanruf.
Petrie sagte zum Butler: “Können wir bitte mit Mr. Farrell sprechen?“
Der Butler lächelte hochmütig.
„Ich fürchte, das ist unmöglich“, entgegnete er. „Der Herr schläft und ich habe strenge Anweisungen –– “
Petrie unterbrach ihn: „Wir haben Grund zur Besorgnis um seine Sicherheit.“
Die Augenbrauen des Butlers fuhren hoch.
„Wirklich?“, fragte er. „Ich werde nach ihm sehen, wenn sie darauf bestehen. Ich versuche ihn nicht zum Erwachen zu bringen. Ich versichere Ihnen, er wäre zutiefst unzufrieden.“
Petrie bat nicht um Erlaubnis dem Butler ins Innere des Hauses zu folgen. Das Haus war innen gigantisch, mit Säulenreihen die schließlich zu einer enormen Treppe mit verschnörkeltem Geländer und rotem Teppich führten. Ruhl fand es immer schwerer sich vorzustellen, dass irgendjemand hier tatsächlich lebte. Das Haus erschien ihm immer mehr wie ein Filmset.
Ruhl und Petrie folgten dem Butler die Treppe hoch und durch einen breiten Flur hindurch bis zu einer großen Doppeltür.
„Die Suite des Herrn“, sagte der Butler. „Warten Sie einen Moment lang hier.“
Der Butler ging durch die Türen.
Dann hörten sie seinen entsetzten Aufschrei.
Ruhl und Petrie eilten durch die Türe und fanden sich in einem Empfangszimmer wieder, welches in ein großes Schlafzimmer führte.
Der Butler hatte bereits das Licht aufgedreht. Ruhls Augen schmerzen einen Moment lang von der Helligkeit des enormen Raums. Dann fiel sein Blick auf ein Himmelbett. Wie auch alles andere im Haus, war es riesig, wie etwas aus eine Kinofilm. Aber so groß es auch war, verblasste es vor der schieren Größe des Zimmers selbst.
Alles in diesem Schlafzimmer war in Gold und Weiß gehalten –– außer dem Blut, das das Bett tränkte.
KAPITEL DREI
Der Butler lehnte sich gegen die Wand und starrte mit glasigen Augen vor sich her. Ruhl selbst hatte den Eindruck, dass es ihm beim Anblick, der sich bot, den Atem verschlagen hatte.
Dort lag er, der reiche und bedeutende Mann, der berühmte Andrew Farrell –– lag auf seinem Bett im eigenen Blut, tot. Ruhl erkannte ihn sofort von den vielen Auftritten im Fernsehen.
Ruhl hatte nie zuvor die Leiche eines Ermordeten gesehen. Er hatte nicht erwartet, dass ihm der Anblick so merkwürdig und unecht erscheinen würde.
Was die Szene besonders bizarr machte, war die Frau, die ganz still in einem schnörkelhaften gepolsterten Sessel direkt neben dem Bett saß. Ruhl erkannte auch sie. Sie war Morgan Farrell –– ehemals Morgan Chartier, ein ehemaliges, einst sehr berühmtes Model. Der Tote hatte ihre Hochzeit in ein Medien-Event verwandelt und es gefiel ihm, seine Ehefrau in der Öffentlichkeit als seine Trophäe zu präsentieren.
Sie trug ein dünnes, teuer aussehendes Nachthemd, das mit Blut bedeckt war. Sie saß unbeweglich da, mit einem großen Messer in der Hand. Die Klinge war blutig, genauso wie ihre Hand.
„Scheiße“, murmelte Petrie verblüfft.
Dann sprach er in sein Funkgerät.
„Einsatzzentrale, hier ist Vier-Frank-Dreizehn, wir melden uns aus dem Farrell Haus. Wir haben hier tatsächlich eine Eins-Siebenundachtzig. Schicken Sie drei Einheiten, inklusive einer aus der Mordkommission. Kontaktieren Sie den Gerichtsmediziner. Und sagen Sie Chief Stiles, dass er wahrscheinlich auch besser herkommen sollte.“
Petrie empfing die Antwort der Zentrale und schien einen Moment lang zu überlegen.
„Nein, keinen Code Drei. Wir müssen uns so lange wie möglich so bedeckt wie möglich halten.”
Während dieses Austausches konnte Ruhl seinen Blick nicht von der Frau wenden. Er fand immer, dass sie schön war, wenn er sie im Fernsehen sah. Komischerweise erschien sie ihm sogar jetzt ebenso schön. Sogar mit einem blutigen Messer in ihrer Hand sah sie so zart und zerbrechlich aus wie eine Porzellanfigur.
Sie war auch so reglos, als wäre sie tatsächlich aus Porzellan –– so still wie die eigentliche Leiche und offensichtlich in Unkenntnis darüber, dass jemand den Raum betreten hatte. Selbst ihre Augen bewegten sich nicht, da sie unentwegt auf das Messer in ihrer Hand starrte.
Als Ruhl Petrie zur Frau hinüber folgte, kam es ihm, dass ihn die Szene nicht länger an ein Filmset erinnerte.
Es ist vielmehr wie eine Ausstellung im Wachsfigurenkabinett, dachte er sich.
Petrie fasste die Frau vorsichtig an die Schulter und sagte: „Mrs. Farrell…“
Die Frau schien nicht im Geringsten erschrocken, als sie zu ihm hinaufblickte.
Sie lächelte und sagte: „Oh, hallo, Officer. Ich habe mich schon gefragt, wann die Polizei endlich hier ankommen würde.“
Petrie streifte sich ein paar Gummihandschuhe über. Ruhl tat dasselbe. Dann nahm Petrie behutsam das Messer aus der Hand der Frau und reichte es Ruhl, der es vorsichtig in eine Plastiktüte legte.
Während sie dies taten, sprach Petrie mit der Frau: „Bitte sagen Sie mir, was hier passiert ist.“
Die Frau kicherte musikalisch.
„Naja, das ist eine alberne Frage. Ich habe Andrew umgebracht. Ist das nicht offensichtlich?“
Petrie drehte sich zu Ruhl, so als ob er fragen wollte…
Ist es offensichtlich?
Auf der einen Seite schien es keine andere Erklärung für diese bizarre Szene zu geben. Auf der anderen Seite…
Sie sieht so schwach und hilflos aus, dachte Ruhl.
Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie sie so etwas tun konnte.
Petrie sagte zu Ruhl: „Geh und rede mit dem Butler. Finde heraus, was er von der ganzen Sache weiß.“
Während Petrie den Körper untersuchte, ging Ruhl zum Butler rüber, der immer noch an der Wand kauerte.
Ruhl sagte: „Sir, können Sie mir erzählen, was hier passiert ist?“
Der Butler öffnete seinen Mund, aber kein Laut entwich ihm.
„Sir“, wiederholte Ruhl.
Der Butler kniff zutiefst verwirrt die Augen zusammen. Er sagte: „Ich weiß nicht. Sie sind gekommen und…“
Er wurde wieder stumm.
Ruhl war verwundert…
Weiß er wirklich von nichts?
Vielleicht stellte der Butler seinen Schock und Verwirrung nur da.
Vielleicht war er ja in Wirklichkeit der Mörder.
Dieser Gedanke erinnerte Ruhl an das alte Cliché…
„Es war der Gärtner.“
Der Gedanke wäre unter anderen Umständen sogar lustig gewesen.
Aber nicht jetzt.
Ruhl dachte angestrengt nach und versuchte zu entscheiden, welche Fragen er dem Mann stellen sollte.
Er fragte: „Befindet sich noch irgendjemand im Haus?“
Der Butler antwortete mit gedämpfter Stimme: „Nur die anderen Bediensteten. Sechs weitere Angestellte, außer mir, drei Männer und drei Frauen. Sie denken doch sicherlich nicht, dass…?“
Ruhl hatte keine Ahnung, was er denken sollte, jedenfalls jetzt noch nicht.
Er fragte den Butler: „Ist er möglich, dass sonst noch jemand irgendwo im Haus ist? Ein Eindringling womöglich?
Der Butler schüttelte den Kopf.
„Ich kann mir nicht vorstellen, wie das möglich sein soll“, entgegnete er. „Unser Sicherheitssystem ist das allerbeste.“
Das war kein ‚Nein‘, dachte Ruhl. Plötzlich war er beunruhigt.
Wenn der Mörder doch ein Eindringling gewesen war, konnte es sein, dass er immer noch irgendwo im Haus war?
Oder sich in genau diesem Moment aus dem Staub machte?
An dieser Stelle hörte Ruhl, wie Petrie in sein Funkgerät sprach und irgendjemandem Anweisungen gab, wie man das Schlafzimmer in dieser riesigen Villa finden konnte.
Innerhalb weniger Sekunden, so kam es Ruhl zumindest vor, war das Zimmer voll mit Cops. Unter ihnen war auch Chief Elmo Stiles, ein großer imposanter Mann. Ruhl stellte außerdem überrascht fest, dass auch der Bezirksstaatsanwalt, Seth Musil, hier war.
Der normalerweise gestriegelte und polierte Staatsanwalt sah zerzaust und verwirrt aus, so als ob er gerade eben aus seinem Bett gerissen wurde. Ruhl nahm an, dass der Chief sofort den Staatsanwalt kontaktiert hatte, nachdem die Nachrichten über den Vorfall ihn erreicht hatten, ihn abgeholt und mit hierhergebracht hatte.
Der Staatsanwalt schnappte voller Horror nach Luft, als er den blutigen Körper sah, und eilte zu der Frau herüber.
„Morgan!“, rief er aus.
„Hallo, Seth“, sagte die Frau mit einer Stimme, als wäre sie erfreulich überrascht, dass auch er hier hinzugekommen war. Ruhl war nicht sonderlich verwundert darüber, dass Morgan Farrell und ein hochrangiger Politiker wie der Bezirksstaatsanwalt einander kannten. Die Frau schien immer noch nicht viel mitzubekommen von dem, was um sie herum gerade geschah.
Lächelnd sagte die Frau zu Musil: „Naja, ich nehme an, dass offensichtlich ist, was passiert ist. Und ich bin mir sicher, dass du nicht überrascht sein wirst, dass –– “
Musil unterbrach sie hastig.
„Nein, Morgan. Sag jetzt nichts. Nicht, bis wir dir einen Anwalt gefunden haben.”
Sergeant Petrie organisierte bereits die Leute, die im Zimmer waren.
Er sagte zum Butler: „Erklären Sie ihnen den Bauplan des Hauses, erwähnen sie alle Ecken und Schlupflöcher.“
Dann wandte er sich an die Polizisten: „Ich will, dass das gesamte Gebäude nach möglichen Eindringlingen und auch nur die kleinste Spur auf einen Einbruch durchsucht wird. Und befragt die Bediensteten, stellt sicher, dass sie ihre Tätigkeiten der letzten Stunden genau aufzählen können.“
Die Polizisten versammelten sich um den Butler, der nun wieder auf den Beinen war. Der Butler beschrieb das Haus und die Polizisten verließen das Zimmer. Ruhl stand neben Sergeant Petrie und schaute auf die grausame Szene. Er wusste nicht, was er selbst noch tun konnte. Der Staatsanwalt ragte nun beschützend über der lächelnden, blut-bespritzten Frau.
Ruhl kämpfte immer noch mit dem, was er sah. Er dachte daran, dass das sein erster Totschlag war. Er fragte sich…
Werde ich jemals einen merkwürdigeren Fall als diesen haben?
Er hoffe, dass die Polizisten, die das Haus durchsuchten, nicht mit leeren Händen zurückkehren würden. Vielleicht würden sie den wahren Schuldigen finden können. Ruhl konnte den Gedanken nicht ausstehen, dass diese zarte, liebliche Frau zu einem Mord in der Lage war.
Eine ganze Weile verging, bevor die Polizisten und der Butler wiederkamen.
Sie sagten, dass sie weder Eindringlinge, noch irgendwelche Anzeichen dessen, dass jemand ins Haus eingebrochen war, hatten finden können. Sie hatten die restlichen Bediensteten schlafend in ihren Betten vorgefunden, und hatten keinerlei Grund anzunehmen, dass irgendjemand von ihnen für die Tat verantwortlich war.
Der Gerichtsmediziner traf ein und begann den Körper zu untersuchen. Das riesige Zimmer war nun ziemlich voll geworden. Endlich schien die blutbefleckte Frau langsam den Rummel im Haus zu bemerken.
Sie erhob sich aus dem Sessel und sprach den Butler an: „Maurice, wo sind Deine Manieren? Erkundige dich doch bitte bei diesen Herrschaften, ob Sie nicht etwas zu Essen oder zu Trinken wünschen.“









