Gefangen

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Petrie schritt nun auf sie zu und holte seine Handschellen heraus.
Er sagte zu ihr: „Das ist sehr gütig von Ihnen, Ma’am, aber das wird nicht nötig sein.“
Dann begann er, in einem außerordentlich höflichen und rücksichtsvollen Ton Morgan Farrell ihre Rechte zu verlesen.
KAPITEL VIER
Riley wurde ihre Sorgen nicht los, als die Gerichtsverhandlung begann.
Soweit schien alles glatt zu laufen. Riley selbst hatte bereits ausgesagt und dargelegt, welches Leben Jilly bei ihr haben würde. Bonnie und Arnold Flaxman hatten außerdem ausgesagt, dass Jilly dringend eine stabile Familiensituation benötigte.
Nichtsdestotrotz war Riley nicht ganz entspannt angesichts des nahenden Auftritts von Jillys Vater, Albert Scarlatti.
Sie hatte den Mann nie zuvor getroffen. Ausgehend davon, was Jilly ihr über ihren Vater erzählt hatte, erwartete Riley es, ein groteskes Ungeheuer anzutreffen.
Sie war deshalb überrascht, als sie ihn endlich vor sich sah.
Seine einst schwarzen Haare waren von grauen Strähnen durchzogen, seine düsteren Gesichtszüge, wie erwartet, von jahrelangem Alkoholismus geprägt. Trotzdem schien er in diesem Moment komplett nüchtern zu sein. Er war gut, wenn auch einfach, gekleidet und war freundlich und charmant zu allen, mit denen er sprach.
Riley fragte sich außerdem, wer die Frau war, die an Scarlattis Seite saß und seine Hand hielt. Auch sie sah aus, als hätte sie ein hartes Leben geführt. Darüber hinaus war ihr Gesichtsausdruck für Riley schwer zu interpretieren.
Wer ist sie? fragte Riley sich.
Alles was Riley über Scarlattis Ehefrau und Jillys Mutter wusste war, dass sie seit vielen Jahren verschollen war. Scarlatti hatte Jilly oft gesagt, dass sie wahrscheinlich gestorben sei.
Das hätte sie also nicht sein können, nach all den Jahren. Auch Jillys zeigte keinerlei Anzeichen, dass sie die Frau überhaupt kannte. Wer war sie also?
Nun war es an der Zeit für Jilly auszusagen.
Riley drückte ermunternd ihre Hand und das junge Mädchen nahm den Platz im Zeugenstand ein.
Jilly sah klein aus in dem großen Sessel. Ihr Blick streifte unruhig durch den Gerichtssaal, sie blickte zum Richter, machte dann Augenkontakt mit ihrem Vater.
Der Mann lächelte sie mit scheinbar aufrichtiger Wärme an, doch sie wandte ihren Blick eilig ab.
Rileys Anwalt, Delbert Kaul, fragte Jilly was sie von ihrer bevorstehenden Adoption hielt.
Riley konnte sehen, dass Jillys gesamter Körper vor emotionaler Anspannung zitterte.
„Ich möchte es mehr, als ich jemals etwas in meinem Leben gewollte habe“, sagte Jilly mit unebener Stimme. „Ich bin so, so glücklich dort bei Mom ––“
„Du meinst Ms. Paige“, hakte Kaul vorsichtig nach.
„Naja, sie ist jetzt meine Mom und das ist wie ich sie nenne. Und ihre Tochter, April, ist meine ältere Schwester. Bis ich bei ihnen eingezogen bin, hatte ich keine Ahnung wie es sich anfühlt, eine echte Familie zu haben die mich liebt und sich um mich sorgt.“
Jilly schien tapfer ihre Tränen zurückzuhalten.
Riley war sich nicht sicher, dass sie in der Lage war, dasselbe zu tun.
Dann fragte Kaul: „Könntest du dem Gericht ein bisschen darüber erzählen, wie es war mit Deinem Vater zu leben?“
Jilly schaute ihren Vater an.
Dann schaute sie auf den Richter und sagte: „Es war schrecklich.“
Sie begann dem Gericht zu erzählen, was sie Riley gestern erzählt hatte –– davon, wie ihr Vater sie für mehrere Tage in einer Kammer eingesperrt hatte. Riley schauderte es, als sie die Geschichte erneut hörte. Die meisten Menschen im Gerichtssaal schienen zutiefst berührt zu sein. Sogar ihr Vater ließ seinen Kopf hängen.
Als sie zum Ende kam, weinte Jilly tatsächlich.
„Bis meine neue Mom in mein Leben kam, hat mich jeder den ich liebte, früher oder später verlassen. Sie konnten es nicht ertragen mit Dad zu leben, weil er so schrecklich zu ihnen war. Meine Mutter, mein älterer Bruder –– sogar mein kleiner Welpe, Darby, rannte weg.“
Riley hatte einen Kloß im Hals. Sie erinnerte sich, wie Jilly geweint hatte, als sie ihr von dem Welpen erzählte, den sie vor einigen Monaten verloren hatte. Jilly dachte immer noch oft daran, was wohl aus ihm geworden war.
„Bitte“, sagte sie zum Richter, „bitte, schicken Sie mich nicht zurück in dieses Leben. Ich bin so glücklich bei meiner neuen Familie. Bitte nehmen sie mich ihnen nicht weg.“
Jilly durfte dann wieder zurück und sich neben Riley setzen.
Riley drückte ihre Hand und flüsterte ihr zu: „Das hast du richtig gut gemacht. Ich bin stolz auf dich.“
Jilly nickte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Dann präsentierte Rileys Anwalt, Delbert Kaul, dem Richter alle nötigen Unterlagen, um die Adoption abzuschließen. Er hob besonders die Einverständniserklärung hervor, die Jillys Vater unterzeichnet hatte.
Soweit Riley es beurteilen konnte, machte Kaul einen ziemlich guten Job mit der Präsentation der Unterlagen. Aber seine Art und Stimme waren uninspiriert, und der Richter, ein fleischiger, missmutiger Mann mit kleinen, runden Augen, schien ganz und gar nicht beeindruckt.
Für einen Moment drifteten Rileys Gedanken zurück zu dem bizarren Anruf, den sie gestern von Morgan Farrell bekommen hatte. Natürlich hatte Riley die Polizei von Atlanta sofort benachrichtigt. Wenn das, was die Frau gesagt hatte, stimmte, war sie mittlerweile sicherlich verhaftet worden. Riley musste sich immer wieder fragen, was dort wirklich vorgefallen war.
War es wirklich möglich, dass die zerbrechliche Frau, die sie in Atlanta kennengelernt hatte einen Mord begangen hatte?
Jetzt ist nicht die Zeit über all diese Dinge nachzudenken, ermahnte sie sich.
Als Kaul seine Präsentation beendet hatte, erhob sich Scarlattis Anwalt.
Jolene Paget war eine scharfäugige Frau in ihren Dreißigern, die Lippen welcher in einem leichten, aber fortwährenden zynischen Lächeln erstarrt zu sein schienen.
Sie sagte zum Gericht: „Mein Klient möchte diese Adoption anfechten.“
Der Richter nickte und brummte: „Das weiß ich bereits, Ms. Paget. Ihr Klient hat hoffentlich einen guten Grund parat für seinen Wunsch, seine eigene Entscheidung nun zu ändern.“
Riley bemerkte sofort, dass Paget, im Gegensatz zu ihrem eigenen Anwalt, keinerlei Notizen dabeihatte. Außerdem, ebenso im Gegensatz zu Kaul, drückten ihre Miene und Gesichtsausdruck Selbstbewusstsein aus.
Sie sagte: „Mr. Scarlatti hat einen sehr guten Grund, Euer Ehren. Er hatte seine Zustimmung unter Druck gegeben. Er befand sich in einer besonders schwierigen Zeit seines Lebens und hatte außerdem keinen Job. Und ja, er hat damals getrunken. Und er hatte eine Depression.“
Paget nickte zu Brenda Fitch rüber, die ebenso im Gerichtssaal saß, und fügte hinzu: „Er war ein leichtes Opfer für den Druck von Sozialarbeitern, besonders dieser Frau. Brenda Fitch hatte ihm gedroht ihn wegen komplett fabrizierten Vergehen anzuzeigen.“
Brenda atmete scharf ein vor Empörung. Sie sagte zu Paget: „Das ist nicht wahr, und das wissen Sie.“
Pagets Grinsen wurde weiter und sie sagte: „Euer Ehren, könnten Sie Ms. Fitch freundlicherweise bitten, nicht zu unterbrechen?“
„Bitte seien sie still, Ms. Fitch“, sagte der Richter.
Paget fügte hinzu: „Mein Klient möchte außerdem Ms. Paige wegen Entführung anzeigen –– zusammen mit Ms. Fitch als Komplizin.
Brenda stöhnte vor lauter Abscheu hörbar auf, aber Riley zwang sich still zu bleiben. Sie hatte die ganze Zeit über schon gewusst, dass Paget diese Sache anstiften würde.
Der Richter sagte: „Ms. Paget, Sie haben keinerlei Beweise für irgendeine Entführung vorgelegt. Ebenso wenig wie für ihre Behauptungen zu dem Druck und den Drohungen ihrem Klienten gegenüber. Sie haben nichts gesagt, was mich überzeugen könnte, dass die anfängliche Zustimmung ihres Klienten nicht weiterhin gültig sein sollte.“
Albert Scarlatti erhob sich dann.
„Darf ich einige Worte zu meiner eigenen Verteidigung sagen, Euer Ehren?“, bat er.
Als der Richter in Einverständnis nickte, fühlte Riley einen Stich der Befürchtung.
Scarlatti ließ seinen Kopf hängen und sprach mit leiser, niedriger Stimme.
„Was Jilly Ihnen erzählt hat, was ich ihr angetan habe –– ich weiß, es klingt schrecklich. Und Jilly, es tut mir unendlich leid. Aber die Wahrheit ist, das es nicht ganz das ist, was geschehen ist.“
Riley musste sich zwingen ihn nicht zu unterbrechen. Sie war sich sicher, dass Jilly sich das nicht ausgedacht hatte.
Albert Scarlatti kicherte kurz leise und traurig. Ein warmes Lächeln breitete sich über seine gebrochenen Gesichtszüge.
„Jilly, du wirst sicher zustimmen, dass du eine ganz schöne Handvoll warst, als Kind. Du kannst eine wirkliche Herausforderung sein, meine kleine Tochter. Du hast ein ganz schönes Temperament und du bist manchmal einfach komplett außer Kontrolle geraten. Ich wusste einfach nicht, was ich an diesem Tag tun sollte. Wie ich mich erinnere, hatte ich dich damals aus schierer Verzweiflung in diese Kammer gesperrt.“
Er zuckte mit den Schultern und fuhr fort: „Aber es war nicht, wie du sagst. Ich würde dir so etwas niemals tagelang zumuten. Nicht einmal für ein paar Stunden. Ich behaupte nicht, dass du lügst, nur, dass deine Vorstellungskraft manchmal verrückt spielt. Und ich verstehe das.“
Dann richtete sich Scarlatti an die anderen im Saal.
Er sagte: „Es ist eine Menge passiert, seit ich meine kleine Jilly verloren habe. Ich habe mich zusammengerissen und aus meinem damaligen Zustand gezogen. Ich habe einen Entzug gemacht und ich besuche regelmäßig die Anonymen Alkoholiker, ich habe seit Monaten keinen Drink angerührt. Ich hoffe, dass ich für den Rest meines Lebens keinen Drink mehr in die Hand nehme. Ich habe eine feste Anstellung gefunden –– nichts richtig beeindruckendes, nur ein Job als Reinigungskraft, aber es ist ein guter Job und ich kann Ihnen eine Empfehlung meines Vorgesetzten vorlegen, dass ich mich gut mache.“
Dann berührte er die Schulter der mysteriösen Frau, die neben ihm saß.
„Aber es gab noch eine große Veränderung in meinem Leben. Ich habe Barbara Long getroffen, die wundervollste Frau der Welt, und sie ist das Beste, was mir je widerfahren ist. Wir sind verlobt und werden Ende dieses Monats heiraten.“
Die Frau lächelte ihn mit funkelnden Augen an.
Scarlatti richtete sich nun an Jilly persönlich.
„Genau Jilly. Keine Alleinerziehenden-Familie mehr. Du wirst einen Vater und eine Mutter haben –– eine echte Mutter nach all diesen Jahren.“
Riley fühlte sich, als wäre ein Messer durch ihre Brust gebohrt worden.
Jilly hat gerade doch gesagt, dass ich ihre echte Mom bin, dachte sie. Aber was konnte sie auf diesen Alleinerziehenden-Kommentar antworten. Sie hatte sich von Ryan lange bevor sie Jilly gefunden hatte, scheiden lassen.
Scarlatti richtete dann seine Aufmerksamkeit auf Brenda Fitch.
Er sagte: „Ms. Fitch, meine Anwältin hat gerade einige ziemlich harte Vorwürfe an Sie gerichtet. Ich möchte nur, dass Sie wissen, dass es meinerseits keine gekränkten Gefühle gibt. Sie haben ihre Arbeit gemacht und ich weiß das. Ich möchte bloß, dass Sie sehen, wie sehr ich mich verändert habe.“
Dann schaute er Riley direkt in die Augen.
„Ms. Paige, ich bin auch Ihnen nicht böse. Ich bin wirklich sogar dankbar für alles was sie für Jilly getan haben, während ich mich um mein Leben gekümmert habe. Ich weiß, dass es für Sie nicht leicht gewesen sein muss, da Sie Single sind und so. Und noch dazu mit ihrer eigenen Teenage-Tochter im Schlepptau.“
Riley öffnete schon ihren Mund um zu protestieren, aber Albert fuhr herzlich fort. „Ich weiß, dass sie Ihnen viel bedeutet und Sie müssen sich keine Sorgen machen. Ich werde von jetzt an ein guter Vater für Jilly sein. Und ich möchte, dass sie weiterhin ein Teil von Jillys Leben bleiben.“
Riley war perplex. Sie begriff jetzt erst, wieso seine Anwältin die Entführungsvorwürfe überhaupt gegen sie vorgebracht hatte.
Es ist die klassische ‚Guter Cop, Schlechter Cop‘ Masche.
Jolene Paget hatte sich als harte Anwältin inszeniert, die bereit war ihren Fall mit allen Mitteln zu gewinnen. Sie hatte somit den Weg für Scarlatti geebnet, der nun wie der freundlichste Typ der ganzen Welt erscheinen würde.
Und er war sehr überzeugend. Riley konnte nicht anders, als sich zu fragen…
Ist er in Wirklichkeit vielleicht doch ein guter Kerl?
Hatte er wirklich nur eine schwere Phase?
Und das Schlimmste –– hatte sie selbst vielleicht Unrecht, indem sie versuchte ihm Jilly wegzunehmen? Tat sie nichts, außer unnötiges Leid zu Jillys Leben hinzuzufügen?
Zuletzt schaute Scarlatti mit einem dringlich bittenden Blick auf den Richter.
„Euer Ehren, ich bettle Sie an, bitte lassen Sie mich meine Tochter wiederhaben. Sie ist mein Fleisch und Blut. Sie werden Ihre Entscheidung nicht bereuen. Ich verspreche es Ihnen.“
Eine Träne floss über seine Wange, als er sich wieder setzte.
Seine Anwältin erhob sich wieder und sah selbstgefälliger und sicherer aus, denn je.
Sie sprach Jilly in einem Ton von öliger, falscher Aufrichtigkeit an.
„Jilly, ich hoffe, dass du verstehst, dass dein Vater nur das Beste für dich will. Ich weiß, dass ihr Eure Schwierigkeiten hattet in der Vergangenheit, aber sei Ehrlich –– ist das nicht ein Verhaltensmuster von dir?“
Jilly sah verwirrt aus.
Paget fuhr fort: „Ich bin mir sicher, dass du nicht abstreiten wirst, dass du von deinem Vater weggelaufen bist, und das ist wie dich Riley Paige überhaupt gefunden hatte.“
Jilly sagte: „Ich weiß, aber das war weil –– “
Paget unterbrach sie und zeigte zu den Flaxmans.
„Und bist du nicht auch von diesem netten Paar weggerannt, als sie so gütig waren, dich bei Ihnen aufzunehmen?“
Jillys Augen weiteten sich und sie nickte still.
Riley musste schlucken. Sie wusste, was Paget als nächstes sagen würde.
„Und bist du nicht einmal sogar von Riley Paige und ihrer Familie weggerannt?“
Jilly nickte und ließ ihren Kopf elendig hängen.
Und natürlich stimmte das. Riley erinnerte sich nur zu gut wie schwer es für Jilly gewesen war sich an das Leben in ihrem neuen Zuhause zu gewöhnen –– sie hatte besonders mit dem Gefühl der Wertlosigkeit zu kämpfen. In einem Moment besonderer Schwäche war Jilly erneut zu einem Lastwagenrastplatz weggerannt. Sie dachte, dass ihren Körper zu verkaufen das einzige war, für was sie im Leben gut war.
„Ich bin ein Nichts“, hatte Jilly Riley gesagt, als die Polizei sie zurückgebracht hatte.
Die Anwältin hatte ihre Recherche gut gemacht, aber Jilly hatte sich seit dieser Zeit so sehr verändert. Riley war sich sicher, dass diese Tage der Unisicherheit vorüber waren.
Immer noch in einem Ton tiefer Besorgnis sagte Paget zu Jilly…
„Früher oder später, meine liebe, musst du die Hilfe der Menschen annehmen, denen du wichtig bist. Und gerade will dein Vater nichts sehnlicher, als dir ein gutes Leben geben. Ich denke, dass du es ihm schuldest ihm eine Chance zu geben, das zu tun.“
Paget wandte sich nun an den Richter: „Euer Ehren, ich muss die Sache Ihnen überlassen.“
Zum ersten Mal schien der Richter wirklich bewegt zu sein.
Er sagte: „Mr. Scarlatti, ihr eloquentes Plädoyer hat mich dazu gezwungen meine Entscheidung zu ändern.“
Riley holte laut Luft.
Passiert das gerade wirklich alles?
Der Richter fuhr fort: „Das Gesetz Arizonas ist sehr eindeutig, was die Sache der Familientrennung angeht. Die erste Überlegung geht die Befähigung des Erziehungsberechtigten an. Die zweite Überlegung bezieht sich auf das Wohl des Kindes. Nur wenn der Erziehungsberechtigte untauglich ist, kommt die zweite Überlegung ins Spiel.“
Er hielt einen Moment inne um nachzudenken.
„Mr. Scarlattis Untauglichkeit konnte hier heute nicht festgestellt werden. Es ist sogar eher umgekehrt. Soweit ich es beurteilen kann, scheint er alles dafür zu tun, um ein hervorragender Vater zu werden.“
Beunruhigt erhob sich Kaul und sprach beißend.
„Euer Ehren, ich erhebe Einspruch. Mr. Scarlatti hat seine Rechte freiwillig aufgegeben, und das hier ist alles komplett unerwartet. Die Adoptionsagentur hatte keinerlei Gründe um Belege für seine Untauglichkeit zu sammeln.“
Der Richter sprach mit einer Note der Endgültigkeit in der Stimme und schlug mit dem Gerichtshammer.
„Dann gibt es für mich auch nichts weiter zu betrachten. Sorgerecht wird dem Vater zugesprochen, beginnend mit dem gegenwärtigen Moment.“
Riley schrie entsetz auf.
Es wird wahr, dachte sie.
Ich verliere Jilly.
KAPIEL FÜNF
Riley begann beinahe zu hyperventilieren als sie begriffen hatte, was geschehen war.
Sicherlich kann ich diese Entscheidung anfechten, dachte sie sich.
Die Agentur und ihr Anwalt könnten ohne Probleme solide Belege für Scarlattis gewalttätiges Verhalten auftreiben.
Aber was würde in der Zwischenzeit passieren?
Jilly würde nie bei ihrem Vater bleiben. Sie würde wieder wegrennen –– und dieses Mal könnte sie wirklich für immer verschwinden.
Es war möglich, dass Riley ihre jüngere Tochter nie wiedersehen würde.
Immer noch in seinem Sessel sitzend wandte der Richter sich an Jilly: „Junge Dame, du solltest jetzt wohl zu deinem Vater gehen.“
Zu Rileys großer Überraschung blieb Jilly komplett ruhig.
Sie drückte Rileys Hand und flüsterte…
„Keine Sorge, Mom. Es wird alles gut werden.“
Sie ging rüber zu Scarlatti und seiner Verlobten. Albert Scarlattis Lächeln war herzlich und warm.
Gerade als ihr Vater seine Arme zu ihr hinausstreckte, um sie zu umarmen, sagte Jilly: „Ich habe dir etwas zu sagen.“
Ein neugieriger Gesichtsausdruck machte sich auf Scarlattis Gesicht breit.
Jilly sagte: „Du hast meinen Bruder umgebracht.“
„W-Was?“, stammelte Scarlatti. „Nein, das stimmt nicht, und das weißt du. Dein Bruder Norbert ist weggerannt. Das habe ich dir hundert Mal erzählt –– “
Jilly unterbrach ihn.
„Nein, ich spreche nicht von meinem großen Bruder. Ich erinnere mich nicht einmal an ihn. Ich spreche von meinem kleinen Bruder.“
„Aber du hattest nie einen ––“
„Nein, ich hatte nie einen kleinen Bruder. Weil du ihn umgebracht hast.“
Scarlattis Mund stand offen und sein Gesicht wurde rot.
Ihre Stimme zitterte vor Wut als Jilly fortfuhr: „Ich nehme an, du denkst, dass ich mich nicht an meine Mutter erinnere, weil ich noch so klein war, als sie fortgegangen ist. Aber ich erinnere mich. Ich erinnere mich daran, dass sie schwanger war. Ich erinnere mich, wie du sie angebrüllt hast. Du hast ihr in den Bauch geschlagen. Ich habe gesehen, wie du es tatst, immer und immer wieder. Dann war ihr schlecht. Und dann war sie nicht mehr schwanger. Sie erzählte mir, dass es ein Junge gewesen ist, und dass er mein kleiner Bruder geworden wäre, aber dass du ihn getötet hattest.“
Riley war geschockt von dem, was Jilly da sagte. Sie hatte keinerlei Zweifel, dass jedes Wort stimmte.
Ich wünschte, sie hätte mir das erzählt, dachte sie.
Aber Jilly hatte es wahrscheinlich zu schmerzhaft gefunden, darüber zu sprechen –– bis zu diesem Moment.
Jilly schluchzte nun. Sie sagte: „Mommy weinte ganz doll als sie mir das erzählte. Sie sagte, dass sie weggehen musste, denn du würdest auch sie früher oder später umbringen. Und sie ist weggegangen. Und ich habe sie nie wiedergesehen.“
Scarlattis Gesicht verzog sich zu einer grässlichen Fratze. Riley sah, dass er mit seinem Zorn zu kämpfen hatte.
Er knurrte: „Mädchen, du weißt nicht, wovon du redest. Du hast dir das alles nur ausgedacht.“
Jilly sagte: „Sie trug ihr schönes blaues Kleid an dem Tag. Das eine, das ihr so sehr gefiel. Siehst du, ich erinnere mich an alles. Ich habe alles gesehen.“
Jillys Worte kamen in einem verzweifelten Strom heraus.
„Du tötest alles und jeden früher oder später. Du kannst gar nicht anders. Ich wette du hast mich sogar angelogen, als du gesagt hast, dass mein Welpe weggerannt ist. Du hast Darby wahrscheinlich auch getötet.“
Scarlattis Körper bebte nun vor Wut.
Jillys Worte hallten immer weiter durch den Raum: „Meine Mutter hat das Richtige getan, als sie weggerannt ist, und ich hoffe, dass sie glücklich ist, wo sie auch sein mag. Und wenn sie tot ist — tja, auch das ist besser, als mit dir zu sein.“
Scarlatti stieß ein dröhnendes Brüllen aus. „Halt die Klappe, du kleine Hure!“
Er ergriff mit einer Hand Jillys Schulter und ohrfeigte sie mit der anderen.
Jilly schrie auf und versuchte sich von ihm loszumachen.
Riley war aufgesprungen und rannte auf Scarlatti zu. Bevor sie zu ihm gelangen konnte, hatten bereits zwei Sicherheitsbeamte den Mann an den Armen ergriffen.
Jilly riss sich los und rannte zu Riley.
Der Richter schlug mit seinem Hammer und alles wurde ganz still. Er sah sich im Gerichtssaal um, als könnte er nicht glauben, was eben geschehen war.
Einen Moment lang saß er einfach da und atmete schwer.
Dann schaute er zu Riley und sagte: „Ms. Paige, ich glaube, ich schulde Ihnen eine Entschuldigung. Ich habe gerade die falsche Entscheidung getroffen und ich hebe sie auf.“
Er blickte auf Scarlatti und fügte hinzu: „Ein weiteres Wort aus Ihrem Mund und ich lasse Sie verhaften.“
Dann sagte der Richter entschlossen: „Es wird keine weiteren Anhörungen geben. Das ist meine endgültige Entscheidung hinsichtlich dieser Adoption. Sorgerecht bekommt die Adoptivmutter.“
Er schlug mit seinem Hammer und erhob sich, um den Gerichtssaal ohne ein weiteres Wort zu verlassen.
Riley drehte sich zu Scarlatti und schaute ihn an. Seine dunklen Augen waren voller Rage, aber die beiden Sicherheitsbeamten waren immer noch an seiner Seite. Er blickte zu seiner Verlobten, die voller Horror dem zugesehen hatte, was sich abspielte. Dann ließ Scarlatti nur den Kopf hängen und stand ruhig da.
Jilly hängte sich an Rileys Hals und schluchzte laut auf.
Riley drücke sie fest an sich und sagte: „Du bist ein tapferes Mädchen, Jilly. Ich werde dich nie alleine lassen, egal was passiert. Du kannst auf mich zählen.“
*
Jillys Wange brannte immer noch als Riley und Brenda ein paar letzte Details mit dem Anwalt klärten. Aber es war ein guter Schmerz, der bald nachlassen würde. Sie hatte die Wahrheit über etwas erzählt, was sie allzu lange für sich behalten hatte. Diese Wahrheit hatte sie für immer von ihrem Vater befreit.
Riley –– ihre neue Mutter –– fuhr sie zurück ins Hotel, wo sie beide schnell packten und zurück zum Flughafen fuhren. Sie hatten noch reichlich Zeit vor ihrem Abflug und gaben ihr Gepäck auf, um es nicht mit sich herumschleppen zu müssen. Dann suchten sie gemeinsam eine Toilette auf.
Jilly stand vor dem Spiegel und betrachtete sich, während ihre Mutter in einer der Kabinen war.
Ein blauer Fleck bildete sich dort, wo ihr Vater sie geschlagen hatte. Aber es würde nun alles gut werden.
Ihr Vater könnte ihr nie wieder wehtun. Und alles nur, weil sie endlich die Wahrheit über ihren verlorenen kleinen Bruder erzählt hatte. Das war alles, was es gebraucht hatte, um die ganze Sache zum Besseren zu verändern.
Sie lächelte ein leichtes Lächeln, als sie sich an die Worte ihrer Mutter erinnerte…
„Du bist ein tapferes Mädchen, Jilly.“
Ja, dachte Jilly sich. Ich glaube ich bin ziemlich tapfer.
KAPITEL SECHS
Als Riley in den Vorraum der Toilette trat, konnte sie Jilly nicht auffinden.
Das erste, was sie fühlte war ein leichtes Ärgernis.










