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Er nahm seinen ganzen Willen zusammen und beschloß fortzufahren.
Riley folgte nun, immer noch in Socken, der Spur des Mörders, so wie sie sich diese Vorstellte, und stieg die Treppen zur Tür, die in die Küche führte, hinauf. Sie betätigte die Klinke und zog vorsichtig die Tür auf…
Perfekt!
Die Klinke quietschte nicht und auch die Tür selbst gab keinen Mucks von sich.
Riley fühlte sich Augenblick für Augenblick immer verbundener mit der Psyche des Mörders, als sie in die Küche schlich. Sie ignorierte die Tatsache, dass Bill, Jenn, Sturman und Brennan alle in der Küche rumstanden und sie ansahen, und schaute sich um. Sie wusste, dass der Tatort seit dem Mord unangetastet geblieben war. Genau wie jetzt war also der Tisch an dem Morgen mit Papieren überhäuft gewesen, die die Frau gelesen hatte.
Doch wo war die Frau selbst?
Riley stellte sich vor, dass sie durch die Augen der Mörders schaute, als er durch den Türbogen der Küche in das Wohnzimmer hinein spähte. Dort hatte sie gestanden – aus dem Fenster schauend – ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf das gerichtet, was sie aus dem Fenster sehen konnte.
Riley stellte sich vor, wie sie den Eispickel zu Hand nahm. Dann ging sie über die Dielen, ihre Schuhlosen Füße machten nicht einmal das kleinste Geräusch, bis sie genau dort stand, wo der Mörder hinter Robin Scoville gestanden hatte.
Und dann…
Eine schnelle, präzise, makellose Bewegung war alles, was es gebraucht hatte.
Die lange Spitze des Eispickels tauchte mühelos in den knochenlosen Gehörgang des Ohres und bis zum Gehirn, und genauso mühelos zog der Mörder sie auch wieder heraus, als er sein Opfer zu Boden fallen sah.
Zum Schluss…
Riley war sich sicher, dass er zufrieden mit seiner Tat war.
Er war stolz auf sich, dass er seine Unentschlossenheit überwunden und die Tat wie geplant ausgeführt hatte.
Doch hatte er einen Moment lang inne gehalten um sein Handgeschick zu bewundern?
Oder entkam er sofort?
Rileys Gespür für die Psyche des Mörders entglitt ihr nun, jetzt wo sie erneut auf die abgeklebte Silhouette auf dem Boden starrte.
Es gab vieles – zu vieles – was sie immer noch nicht wusste.
Doch sie war sich einer Sache sicher.
Sie wandte sich an ihre Kollegen, die nun um sie herum versammelt waren…
„Er ist ein absolut kaltblütiger Hurensohn.“
Bill sagte: „Was kannst du uns noch sagen?“
Riley überlegte einen Moment lang und sagte dann: „Ich kann noch nichts sicher sagen. Aber ich glaube es ist für ihn eine persönliche Angelegenheit – und gleichzeitig ist es eben nicht persönlich. Ich glaube nicht, dass er diese Frau gehasst hat. Womöglich kannte er nicht einmal ihren Namen. Doch er hatte einen Grund sie tot sehen zu wollen – einen wichtigen Grund, fast so als wäre ihr Mord eine Art…“
Riley suchte nach dem richtigen Wort.
Da sprach Jenn: „Pflicht?“
Riley schaute ihre jüngere Kollegin an und nickte.
„Ja, das ist genau das Gefühl, das ich bekomme. Es fühlt sich fast schon wie eine Verpflichtung an.“
Riley bemerkte nun, dass Chief Brennan sie mit offenem Mund anstarrte. Sie hatte sich schon lange daran gewöhnt, wie verstört und überrascht die Leute waren, wenn sie ihr bei diesem merkwürdigen Prozess zusahen. Und sie wusste, dass sie gerade eben ziemlich komisch ausgesehen haben musste, als sie wie im Trance ohne Schuhe durch das Haus gelaufen war und die Bewegungen des Mörders nachgemacht hatte.
Agent Sturman auf der anderen Seite schien keineswegs überrascht. Natürlich war er ein erfahrener FBI Agent und musste sicherlich zumindest von Rileys einzigartigen Fähigkeiten gehört haben, die im gesamten FBI wohlbekannt waren.
Deshalb überraschte es sie nicht, als Sturman Brennan mit dem Ellbogen anstupste und sagte: „Ich erkläre es Ihnen später.“
Bill war zur Hintertür gegangen und kam nun mit Rileys Schuhen wieder, die er ihr entgegenstreckte. Als Riley sich auf einen Hocker niederließ und sie wieder anzog, begannen sich Zweifel in ihr breitzumachen.
Habe ich alles falsch interpretiert?
Sie wurde oft mit Zweifeln überrannt nachdem sie diesen seltsamen Prozess durchlaufen hatte.
Schließlich war sie kein Hellseher und es gab nichts magisches oder übernatürliches an dem, was sie tat. Es war pure Intuition, nicht mehr und nicht weniger. Sie hatte sich in der Vergangenheit auch schon mal geirrt, und sie könnte sich auch jetzt irren.
Sie erhob sich vom Hocker und fragte sich…
Habe ich etwas übersehen?
Sie schaute zum Fenster hinüber und stellte sich die junge Frau vor, die dort stand und nach draußen schaute ohne zu ahnen, welche Gefahr sich von hinten näherte.
Was hatte sie dort gesehen?
Riley hatte nicht die geringste Ahnung.
Doch sie wusste, dass sie es lieber herausfinden sollte.
Kapitel fünf
Riley stand da und schaute aus dem Fenster, als sie versuchte sich vorzustellen wie die Straßen in den frühen Morgenstunden ausgesehen haben muss, genau in dem Moment, in dem jemand einen Eispickel in Robin Scovilles Schädel gebohrt hatte.
Was gab es dort draußen zu sehen? fragte sie sich.
Was hatte Robin genau in diesem Augenblick gesehen?
Die Frage nagte Augenblick um Augenblick immer mehr an Rileys Verstand.
Sie wandte sich an Chief Brennan: „Ich habe nicht gesehen, ob dieses Haus mit einer Überwachungskamera ausgestattet ist. Ist es das?“
„Nein“, antwortete Brennan. „Der Vermieter hat sich nicht die Mühe gemacht sie an einem kleinen Mietshaus wie diesem anzubringen. Schade, denn vielleicht hätten wir dann eine Videoaufnahme von dem, was geschehen war. Oder noch besser, die Kamera hätte den Mörder vielleicht ganz von seiner Tat abgehalten.“
Riley verließ das Haus durch die Eingangstür, dicht gefolgt von ihren Kollegen. Nun stand sie auf dem Bürgersteig und schaute die Straße in beide Richtungen entlang. Sie bemerkte erneut, dass Robins Haus das bei weitem kleinste in einer wohl-situierten Nachbarschaft war.
Sie sagte zu Brennan: „Ich nehme an, sie haben alle Nachbarn befragt.“
„So viele, wie es uns möglich war“, antwortete Brennan. „Keiner von ihnen war wach, als es passierte, und daher hat auch niemand irgendetwas merkwürdiges bemerkt.“
Sie konnte Überwachungskameras auf einigen Verandas bemerken. In mehreren Vorgärten gab es außerdem Schilder, die kundtaten, dass das jeweilige Haus von der einen oder anderen Security-Firma überwacht wurde.
„Ich sehe, dass einige Nachbarn Überwachungskameras für ihre eigenen Häuser haben“, bemerkte Riley.
„Das haben wahrscheinlich die meisten, da bin ich mir sicher“, erwiderte Brennan mit einem Schulterzucken. „Aber es sieht nicht danach aus, als könnte uns das irgendwie weiterhelfen.“
Riley konnte sehen, was Brennan meinte. Keine der nachbarschaftlichen Überwachungskameras war auf Robins Haus gerichtet, und so hatte auch keine von ihnen irgendetwas brauchbares aufnehmen können, was den Einbruch oder den Mord anging. Und doch interessierte sie eine kleine Außenkamera, die an einem der Verandaposten des nächsten Nachbarhauses befestigt war.
Riley zeigte auf das Haus und sagte: „Haben Sie mit den Leuten gesprochen, die dort leben?“
Brennan schüttelte den Kopf. „Nein, es ist ein Rentnerpaar Namens Copeland. Sie waren jedoch seit einer Woche oder so nicht mehr zuhause. Die Nachbarn meinten, dass sie in Europa Urlaub machen. Sie sollen wohl in einigen Wochen wiederkommen. Sie habe also auf gar keinen Fall mitbekommen können, was geschehen ist. Und ihre Kamera ist auch nicht auf Robins Haus gerichtet.“
Nicht auf das Haus, dachte Riley sich. Aber definitiv auf die Straße vor dem Haus.
Und das, was Riley gerade am meisten interessierte war, was dort auf der Straße zur Tatzeit vor sich gegangen war. Da das Paar für eine längere Weile weg war, hatten sie das Überwachungssystem womöglich laufen lassen, um eine fortlaufende Aufzeichnung von allem, was in ihrer Abwesenheit passiert war, zu haben.
Riley sagte: „Ich will wissen was die Kamera aufgenommen hat, falls sie überhaupt etwas aufgenommen hat.“
Agent Sturman entgegnete: „Wir würden die Copelands ausfindig machen müssen und ihre Erlaubnis einholen. Um die Aufzeichnungen zu sehen brauchen wir ihr Passwort. Oder wir müssten einen Durchsuchungsbefehl bekommen und es über das Unternehmen machen.“
„Tun Sie das“, sagte Riley. „Was auch immer nötig ist. So schnell wie möglich.“
Sturman nickte und trat beiseite, während er sein Handy rausholte um einen Anruf zu tätigen.
Bevor Riley beschließen konnte, was sie und ihre Kollegen als nächstes tun sollten, sprach Jenn Chief Brennan an.
„Sie sagten, Robin sei geschieden gewesen. Was können Sie und über ihren Ex-Mann erzählen?“
Brennan sagte: „Sein Name ist Duane Scoville und er spielt in einer kleinen Rockband von hier, die die Epithets heißt.“ Der Chief lachte kurz auf und fügte hinzu: „Ich habe sie mal spielen gehört. Sie sind nicht schlecht, aber ich glaube, sie sollten sich nicht von ihren Tagesanstellungen trennen.“
Jenn fragte: „Wo wohnt Duane?“
Brennan gestikulierte. „Im östlichen Teil der Stadt.“
Jenn fuhr fort: „Ich nehme an, Sie haben ihn befragt.“
„Ja, habe wir. Wir glauben nicht, dass er ein potentieller Verdächtiger ist“, antwortete Brennan.
„Wieso nicht?“, fragte Jenn.
„Duane sagte, dass er und die Epithets einen Gig drüben in Crestone, Rhode Island gespielt haben, genau in der Nacht in der Robin ermordet wurde. Er sagte, dass er und die Band die Nacht dort verbracht haben und hat uns eine Motelrechnung vorgelegt. Wir haben keinen Grund ihm nicht zu glauben.“
Riley konnte sehen, dass Jenn zweifelte.
Und zurecht, dachte Riley.
Es klang nicht so, als hätte die örtliche Polizei besonderen Wert darauf gelegt, Duane vernünftig zu befragen oder ihn gar als Verdächtigen auszuschließen. Und selbst wenn Duane nicht der Mörder war, so konnte er trotzdem über wertvolle Informationen verfügen.
Jenn sagte: „Ich würde gerne noch einmal mit ihm sprechen.“
„Ok, ich rufe ihn gleich an“, sagte Brennan und holte sein Handy raus.
„Nein, ich würde ihn lieber nicht vorwarnen“, entgegnete Jenn.
Riley wusste, dass Jenn recht hatte. Wenn es auch nur die geringste Chance gab, dass Duane ihr Mörder war, so war es besser ihn zu überraschen.
Riley sagte zu Brennan: „Könnten Sie uns zu seiner Adresse bringen, vielleicht ist er ja zuhause.“
„Selbstverständlich“, erwiderte Brennan.
Agent Sturman legte auf und kam wieder dazu. „Ich habe einen Agenten damit beauftragt, die Copelands aufzufinden“, berichtete er. „Aber ich habe einen weiteren laufenden Fall und ich muss nun zurück zum Hauptquartier.“
„Sie lassen uns wissen, sobald Sie etwas hören?“, fragte Bill.
„Natürlich“, versprach Sturman und lief mit großen Schritten zurück zum Kleintransporter.
Chief Brennan sagte: „Mein Fahrzeug steht dort drüben. Ich kann Sie zu Duane Scoville bringen.“
Als Riley und ihre Kollegen in Brennans Polizeiauto stiegen, bemerkte Riley den entschlossenen Gesichtsausdruck von Jenn Roston. Es fühlte sich gut an, ihre junge Protegé so vereinnahmt zu sehen. Riley warf einen Blick hinüber zu Bill und sah, dass er dasselbe dachte.
Sie entwickelt sich wirklich zu einer tollen Agentin, dachte Riley.
Und sie drei zusammen wurden langsam zu einem hervorragenden Team.
Sie beschloß, dass sie und Bill die Befragung von Duane Scoville Jenn überlassen sollten. Es könnte eine Chance für sie sein, sich zu behaupten, dachte Riley.
Und das hat sie auf jeden Fall
* * *Während ihrer kurzen Fahrt durch die Stadt musste Jenn Roston andauernd an Rileys Verhalten in Robin Scovilles Haus denken und an den Schluss, zu dem sie gekommen war, was den Mörder anging…
„Er ist ein kaltblütiger Hurensohn.“
Jenn bezweifelte keinen Moment lang, dass Riley recht hatte. Sie hatte Riley viele Male dabei erlebt, wie sie in die Psyche eines Mörders eingedrungen war, aber sie war jedes Mal aufs neue beeindruckt.
Wie macht sie es nur?
Niemand in der Verhaltensanalyseeinheit schien es zu wissen, außer vielleicht Rileys ehemaliger Mentor, ein Agent Namens Jake Crivaro, der bereits im Ruhestand war und nun in Florida lebte. Riley selbst schien nicht fähig zu sein zu erklären, wie der Prozess funktionierte, und nicht einmal, wie es sich anfühlte.
Es schien nicht mehr und nicht weniger zu sein, als pures Bauchgefühl.
Jenn konnte nicht anders, als Riley darum zu beneiden.
Natürlich hatte Jenn ihre eigenen Stärken. Sie war klug, einfallsreich, zäh, ehrgeizig…
Und nicht zuletzt selbstsicher, dachte sie mit einem Lächeln.
Gerade war sie sehr zufrieden damit, dass Riley ihr zugestimmt hatte in ihrem Bestreben Duane Scoville erneut zu befragen. Jenn wollte unbedingt einen bedeutsamen Beitrag zur Lösung dieses Falls leisten. Sie bereute einiges in ihrem Verhalten während ihres letzten Falles zu dritt – dem Fall des sogenannten „Zimmermanns“, der seine Opfer mit einem schnellen und präzisen Hammerschlag tötete.
Eine bittere Bemerkung, die Jenn auf Rileys Kritik hin gemacht hatte, ging ihr bis heute nicht aus dem Kopf…
„Ich nehme an, jetzt wirst Du mir vorwerfen, dass ich nicht objektiv bin.“
Die Bemerkung war ziemlich armselig gewesen – besonders weil Jenn genau wusste, dass Riley sehr guten Grund hatte an ihrer Objektivität zu zweifeln. Als Schwarze Agentin hatte Jenn sich eine ganze Menge offenen Rassismus gefallen lassen, während ihres Falles in Mississippi. Sie hatte nicht besonders gut damit umgehen können und sie musste im Nachhinein zugeben, dass es ihr Urteilsvermögen beeinflusst hatte.
Sie hoffte, dass sie das nun alles wieder gut machen konnte.
Sie hoffte, dass sie viele Dinge wieder gut machen konnte.
Sie wartete sehnsüchtig auf den Tag, an dem sie ihre dunkle Vergangenheit endlich hinter sich lassen konnte.
Während sie fuhren, begannen düsterere Erinnerungen sich ihr aufzudrängen – ihr kaputtes Familienleben und ihre Eltern, die sie beide im Stich ließen, als sie ein Kind war, dann ihre Jahre in der Obhut der genialen, aber bösen Pflegemutter „Tante Cora“. Tante Cora hatte Jenn und ihre anderen Pflegekinder zu Kriminellen Meistern herantrainiert, die in ihrem eigenen kriminellen Netzwerk Aufgaben übernehmen sollten.
Jenn war die einzige unter allen Schülern Tante Coras, die ihr hatte entkommen können, in der Hoffnung auf ein besseres Leben für sich. Zunächst stieg sie zu einer ausgezeichneten Polizistin in Los Angeles auf, danach bekam sie phänomenale Noten an der FBI Academy, bevor sie endlich eine vollblütige Agentin der Verhaltensanalyseeinheit wurde.
Trotzdem war es ihr nicht gelungen, Tante Cora endgültig loszuwerden. Die Frau hatte sie dieses Jahr bereits kontaktiert und versucht sie zurück unter ihren Einfluss zu bringen. Sie hatte sogar versucht Jenn zu manipulieren, indem sie Hilfe bei der Aufdeckung eines FBI Falls leistete.
Jenn hatte nun seit einigen Wochen nichts mehr von Tante Cora gehört. Hatte ihre ehemalige Mentorin sie wirklich endgültig in Ruhe gelassen?
Jenn wagte nur zu hoffen.
Gleichzeitig kannte Jenns Dankbarkeit Riley gegenüber keine Grenzen. Riley war die einzige, die die Wahrheit über Jenns Vergangenheit kannte. Und mehr noch – Riley fühlte mit. Schließlich war Riley selbst einmal mit einem kriminellen Genie verwickelt, dem genialen geflüchteten Verurteilten Shane Hatcher.
Jenn wusste mehr als sonst irgendwer von Rileys Geheimnis, genau wie Riley alles von ihrem wusste. Das war einer der Gründe, wieso Jenn so eine starke Bindung zu ihrer neuen Mentorin aufgebaut hatte – es war eine Bindung auf Basis gegenseitiger Achtung und Verständnisses. Und wegen dieser Bindung wollte Jenn Rileys hohe Erwartungen an sie unbedingt erfüllen.
„Wir sind fast da.“
Jenn war überrascht eine derartige Veränderung in der Umgebung festzustellen. Die gediegenen, glänzenden weißen Häuser waren verschwunden, genau wie die makellosen Palisadenzänchen., Sie fuhren eine Straße entlang, die von kleineren Geschäften, veganen Restaurants, Bioläden und Second-Hand Geschäften besiedelt war.
Dann kamen sie in eine Nachbarschaft mit kleineren Häusern, die einen etwas schäbigen, aber trotzdem charmanten Eindruck machten. Die Menschen hier waren so verschieden, wie man es sich nur vorstellen konnte, von jungen künstlerischen Typen bis zu älteren Hippies, die so aussahen, als lebten sie hier seit den Sechzigern.
Jenn fühlte sich hier gleich viel wohler, als in der homogenen, ultra-Weißen Gegend, in der die Oberschicht lebte, die sie soeben verlassen hatten. Dies hier war aber nur eine kleine Nachbarschaft, und Jenn ahnte, dass sie immer kleiner wurde.
Gentrifizierung wird immer schlimmer, dachte sie traurig.
Brennan parkte vor einem alten Backsteinhaus, in dem sich mehrere Wohnungen befanden. Er führte Jenn und ihre Kollegen zur Eingangstür. Dort bekam Jenn von Riley einen Blick, der ihr sagte, dass sie ab jetzt übernehmen sollte.
Jenn schaute zu Bill hinüber, der ebenso nickte und ihr zu verstehen gab, sie solle beginnen.
Sie schluckte und drückte Duane Scovilles Klingel.
Erst antwortete ihnen niemand. Jenn fragte sich, ob er womöglich nicht zuhause war. Dann klingelte sie erneut und eine brummende Stimme kam über die Sprechanlage.
„Wer ist das?“
Die Verbindung brach nach wenigen Sekunden ab. Trotzdem meinte Jenn Musik im Hintergrund gehört zu haben.
Jenn antworteteL: „Wir sind vom FBI. Wir würden gerne mit Ihnen sprechen.“
„Worüber?“
Jenn war ein wenig überrumpelt von einer derartigen Antwort. Und dieses Mal war sich sich sicher, dass sie Musik gehört hatte.
Sie sagte: „Ähm…über den Mord an ihrer Ex-Frau.“
„Ich habe bereits mit der Polizei darüber gesprochen. Ich war nicht in der Stadt, als es passiert ist.“
Die vernahm erneut einen kurzen Fetzen der Musik und diesmal kam sie Jenn bekannt vor – es gruselte sie beinahe.
Brennan sprach dazwischen: „Hier spricht Polizeichef Brennan. Ich war es, der mit Ihnen gesprochen hatte. Die Agenten hier würden Ihnen gerne ein paar weitere Fragen stellen.“
Erst kam nichts mehr, dann surrte der Türöffner. Jenn öffnete die Tür und sie und ihre Kollegen traten ein.
Sie dachte…
Es klingt nicht gerade danach, als wären wir hier willkommen.
Jenn fragte sich, wieso das wohl sein mochte.
Sie beschloß, dass sie er herausfinden würde.
Kapitel sechs
Jenn folgte Chief Brennan ins Gebäude hinein und hinauf in den zweiten Stock. Sie waren dicht gefolgt von Riley und Bill, als sie sich in die Richtung von Duane Scovilles Wohnung bewegten.
Jenn spitzte die Ohren, als sie aus einem Zimmer ganz in der Nähe ein Geräusch kommen hörte.
Schon wieder diese Musik.
Dieses Mal war sich sich sicher, dass sie die Musik zuvor gehört hatte, doch es war lange her gewesen und sie war sich nicht sicher, wo und wann es war. Es war ein klassisches Stück – etwas langsames, sanftes und unglaublich trauriges.
Sie kamen zur Tür von Scovilles Wohnung und Chief Brennan klopfte an die Tür.
Eine Stimme aus dem Inneren rief: „Herein.“
Als sie eintraten war Jenn überwältigt von der Unordnung, die in der Wohnung herrschte. Ein Chaos breitete sich aus und der Boden war mit leeren Bierflaschen und Verpackungen von Essen übersäht.
Um die zehn Gitarren standen an Ständern, lagen in offenen Koffern oder hingen irgendwo in Sichtweite. Einige von diesen waren akustische, andere elektrische Instrumente. Außerdem waren Verstärker, Boxen und andere elektronische Musikausstattung über die gesamte Fläche der Wohnung verstreut.
Duane Scoville selbst saß in einem Sitzsack. Er hatte lange Haare und einen Bart, war in Jeans und ein Batik T-Shirt gekleidet und hatte auf einer langen Schnur um den Hals das Friedenszeichen baumeln. Auf seiner Nase saß eine große, runde „Oma-Brille“.
Jenn musste ein Kichern unterdrücken. Scoville war ungefähr Mitte Zwanzig, sah aber so aus, als würde er alles dafür geben wie ein Hippie aus den 60-er Jahren auszusehen. Das Zimmer war mit Perlen, billigen Wandteppichen und Vorlegern mit persischen Motiven und Kerzen dekoriert und war in einer allgemeinen Unordnung gehalten. Einige Poster an den Wänden hatten psychedelische Motive, andere stellten Rock Musiker und Schauspieler dar, die lange vor Jenns Zeit beliebt gewesen waren.
In der Luft hing ein starker Geruch von Räucherstäbchen und…
Noch etwas anderem, begriff Jenn.
Duane Scoville saß da und starrte mit glasigen Augen ins Leere, so als wären sie alle gar nicht da. Er war offensichtlich ziemlich high, obwohl Jenn keinerlei Hinweise auf Drogen in der Wohnung sehen konnte.
Chief Brennan sagte zu ihm: „Duane, das hier sind FBI Agenten Paige, Jeffreys und Roston. Wie gesagt, sie haben noch ein paar Fragen an Dich.“
Duane sagte nichts und bot seinen Besuchern auch nicht an irgendwo Platz zu nehmen.
Jenn war perplex, als sie daran dachte, wie tadellos sauber und ordentlich das kleine Häuschen des Opfers gewesen war. Sie konnte sich schwer vorstellen, dass Robin Scoville diesen Mann jemals gekannt hatte, ganz zu schweigen, dass sie einmal mit ihm verheiratet gewesen sein sollte.
Und dann war da diese Musik…
Statt den Doors oder Jefferson Airplane oder Jimi Hendrix oder sonst irgendeiner anderen Musik, die in diesen Wänden angemessener wäre, hörte Duane irgendeine leise barocke Kammermusik, die ein bewegendes Holzbläser-Solo präsentierte, dass wie ein piepsender, trauriger Vogelgesang klang.
Plötzlich erkannte Jenn das Stück und fragte Duane: „Das ist Vivaldi, oder? Der langsame Satz eines Concertos für die Piccoloflöte.“
Obwohl er Jenn oder ihre Kollegen immer noch nicht ansah, fragte Duane: „Woher wissen Sie das?“
Die Frage wühlte Jenn auf. Sie konnte sich nun genau daran erinnern, wo sie diese Musik früher einmal gehört hatte.
Es war in Tante Coras Pflegefamilie, wo sie aufgewachsen war.
Tante Cora hatte immer klassische Musik im Hintergrund laufen lassen, wenn sie den Kindern die Kunst des kriminellen Lebens beibrachte.
Jenn fuhr zusammen. Es war gruselig und beunruhigend dieses melancholische Melodie nach so vielen Jahren erneut zu hören. Es brachte merkwürdige und verstörende Erinnerungen an frühere Zeiten zurück, die Jenn mit aller Kraft versucht hatte zu verdrängen.
Doch sie wusste, dass sie sich nicht ablenken lassen durfte.
Bleib am Ball, ermahnte sie sich streng.
Statt Duanes Frage zu beantworten, sagte sie…
„Ich hätte Sie nicht für einen Vivaldi Fan gehalten, Duane.“
Duane schaute sie endlich an und ihre Blicke trafen sich.
Er sagte in einer dumpfen Stimme: „Wieso nicht?“
Jenn antwortete nicht. Aus ihrem Studium an der Academy und ihren Erfahrungen mit Riley und Bill wusste sie, dass sie zumindest ein kleines bisschen an Boden gewonnen hatte, indem sie ihn dazu gebracht hatte, sie anzusehen. Nun hatten sie zumindest eine vorübergehende Verbindung hergestellt. Jenn beschloss abzuwarten und Duane als nächstes sprechen zu lassen.
Zuerst sagte er nichts.
Der langsame, traurige Satz kam zu einem Ende und ein funkelnder, schneller Satz erklang.
Duane betätigte einen Knopf an seinem Tonspieler und der langsame Satz begann von vorne.
Endlich sagte er: „Robin mochte dieses Stück sehr. Und dieses war ihr Lieblingssatz. Sie konnte es nicht oft genug hören.“
Dann fügte er mit einem leichten Schnauben hinzu…
„Ich hoffe sie spielen es auf ihrer Beerdigung.“
Jenn erschrak über die aussagekräftige Note der Wut und Bitterkeit in seiner Stimme. Sie fragte sich – was verbarg sich hinter diesen düsteren Emotionen?
Sie blickte zu Riley und Bill. Sie nickten ihr leicht zu und ermunterten sie somit weiter ihren Instinkten zu folgen.
Sie machte einen Schritt auf Duane zu und fragte: „Gehen Sie zu Robins Beerdigung?“
Duane sagte: „Nein, ich weiß nicht einmal wann oder wo sie begraben wird. Drüben in Missouri, nehme ich an. Dort ist Robin aufgewachsen, ihre Familie lebt immer noch dort. St. Louis, Missouri. Ich nehme nicht an, dass ich eingeladen bin.“
Dann fügte er mit einem kaum hörbaren Kichern hinzu: „Und ich denke kaum, dass ich dort willkommen sein würde, auch wenn ich kommen würde.“
„Wieso nicht?“, wollte Jenn wissen.
Duane zuckte mit den Schultern. „Was meinen Sie? Ihre Familie kann mich nicht besonders leiden.“
„Wieso mögen sie Sie nicht?“
Duane schaltete plötzlich die Musik aus. Sein Gesicht verzog sich ein wenig in was Jenn wie Anwiderung vorkam.
Dann wandte er sich an die drei Agenten. „Schauen Sie, lassen Sie uns eins klarstellen, ok? Sie meinen, dass ich sie ermordet habe. Habe ich nicht. Ich bin das alles schon mit Chief Brennan hier durchgegangen. Es ist so, wie ich ihm gesagt habe – ich war in Rhode Island, habe dort einen Gig mit meiner Band gespielt. Wir haben dort übernachtet.“




