- -
- 100%
- +
So war es besser. Menschen lenkten sie ab. Sie verbargen ihr wahres Ich hinter Worten und Gesten, die sie nicht immer verstehen konnte. Aber Leichen konnten nicht lügen. Sie waren, wie sie waren, nicht mehr und nicht weniger.
Es schadete natürlich nicht, dass sein Gesicht verschwunden war. Nach innen eingeschlagen. Die Nase war völlig platt, die ganzen Hügel und Kurven jetzt innen in seinem Schädel. Auch die rechte Seite des Kopfes war gesplittert und gequetscht, zeigte deutliche Linien des Schlages. Niemand hätte das überleben können. Sogar eines seiner Augen war weg.
Die Gleichung fand sich auf seinem Torso, seitlich vom oberen Ende seiner Brust bis gerade unter seinen Nabel geschrieben. Sie sah genauso aus wie auf den Fotografien – das gesamte Ding war wirklichkeitsgetreu abgebildet worden. Mit ihren Händen in unbequemen weißen Wegwerfhandschuhen hob Zoe jeden seiner Arme und jedes seiner Beine hoch und drehte ihn sogar mit Shelleys Hilfe auf seine Seite. Sie konnten nirgendwo eine weitere Tintenspur oder überhaupt irgendein Zeichen entdecken, das auf einen fehlenden Teil der Gleichung hindeutete.
„Sie haben nichts übersehen“, sagte Shelley laut, bestätigte die wachsende Frustration, die sich hinter Zoes Stirn aufbaute.
„Der andere.“ Zoe drehte sich um, um die Gerichtsmedizinerin anzusehen. „Wir müssen auch den Studenten sehen.“
Die Gerichtsmedizinerin zuckte mit den Schultern, machte eine Handbewegung, um anzudeuten, dass sie es für sinnlos hielt und ging hinüber, um eine weitere Türe des metallenen Ablageschrankes zu öffnen, der als zeitweiser Ruheplatz fungierte. Sie zog sie mit einem langen schabenden Geräusch von gutgeöltem Metall auf Metall auf und ging zurück, um ihnen Zugang zu dem Bewohner zu gewähren.
Der Collegestudent sah noch jünger aus, als er es auf den Fotografien getan hatte, wie er da auf der kalten Metallliege lag, sämtliches Blut und mit ihm die Farbe aus den Wangen geschwunden. Die Oberseite seines Kopfes war eine Schweinerei, offen und nach innen eingedrückt. Er war mit einem respektvollen Laken bedeckt, aber Respekt war in diesem Fall nur ein Hindernis. Zoe kam näher und zog es zur Seite, bemerkte Shelleys Widerwillen, es zu tun.
Für eine lange Sekunde starrte Zoe, unfähig, das Gesehene zu verstehen. Dann fragte sie sich kurz, ob die falsche Leiche herausgezogen worden war, aber sie hatte sein Gesicht von den Tatortfotos erkannt. Endlich überwog der Unglaube und sie wandte sich mit einem derart finsteren Blick zu der Gerichtsmedizinerin um, dass die andere Frau zurückwich.
„Wo sind die Gleichungen?“ fragte Zoe, ihre Stimme leise und tonlos, bedrohlich genug, um jedem den dahinterstehenden Ärger deutlich zu machen.
„Nun, wir haben die Autopsie vorgenommen“, stotterte die Gerichtsmedizinerin, tastete hinter sich nach einem Metalltisch, um sich zu stützen. „Wir waschen die Leichen immer, um die Autopsie durchzuführen.“
„Sie haben die Beweise abgewaschen.“
Shelley kam näher, legte eine sanfte Hand auf Zoes Arm, vielleicht als Bitte, sich zu beruhigen. Zoe ignorierte es. Sie kochte, jeder Muskel ihres Körpers war voller Energie, wollte explodieren und etwas gegen die Wand schleudern. Vielleicht gegen die Gerichtsmedizinerin.
Der einzige Grund, aus dem sie es nicht tat, war, dass es sehr deutlich gegen den professionellen Verhaltenskodex ging. Wie konnten sie so etwas zugelassen haben?
„Wer hat das Waschen genehmigt?“ fragte Shelley, ihre Stimme leise und ruhig. Sie trat vor, ein wenig vor Zoe, als ob sie sie schützen wollte.
Die Gerichtsmedizinerin suchte nach Papieren, stotterte immer noch, das Gesicht erblasst. Zoe konnte es nicht länger ertragen. Sie ging mit einem Knurren in der Kehle aus dem Raum, knallte als Zugabe die Tür hinter sich zu. Da es eine Schwingtür war, war die Wirkung abgeschwächt, aber es löste trotzdem einiges der Anspannung in ihrem Körper.
Shelley kam einige Minuten später nach, fand sie am Ende des Flurs auf und ab gehend.
„Wir hätten sie wegen Manipulation der Beweise melden sollen“, sagte Zoe, sobald Shelley nah genug war, um sie zu hören.
„Sie haben im Rahmen ihrer Anweisungen agiert“, seufzte Shelley, zuckte mit den Schultern. „Der Fotograf war der Ansicht, dass sie alles dokumentiert hätten. Wir müssen es ihnen einfach glauben.“
„Sie sollten trotzdem bestraft werden. Haben sie keinen gesunden Menschenverstand? Es war offensichtlich ein Beweis. Und die leitenden Ermittler hatten die Leiche noch nicht einmal gesehen!“
„Nun, um fair zu sein, als sie die Autopsie vornahmen, war es ein lokaler Fall, keiner für die Bundesbehörde. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir müssen einfach mit dem arbeiten, was wir haben.“
Shelley war rational, zu rational. Zoe mochte das nicht. Sie wollte eine Rechtfertigung für die von ihr empfundene Frustration, verdammt, ein von ihnen beiden gemeinsam empfundenes Gefühl. Sie hasste es, wenn man ihr das Gefühl gab, dass sie der Freak mit dem Problem war. Wenn Dinge falsch gemacht wurden, war das ein Problem. Die Leute sollten die Dinge tun, für die sie bezahlt wurden. So funktionierte die Gesellschaft.
„So etwas sollte deutlich als wichtig zu erkennen gewesen sein“, sagte Zoe, versuchte ein letztes Mal, Shelley in ihre eigene Wut zu locken.
Es funktionierte nicht. „Wir müssen ohnehin weitermachen“, sagte Shelley, ging hinaus und sah zurück, um sicherzustellen, dass Zoe ihr folgte. „Sollen wir als Nächstes mit der Frau des Professors reden?“
Zoe nickte, gab auf. Vielleicht reagierte sie über. Man hatte ihr gesagt, dass sie das gelegentlich tat.
An diesem Fall gab es mehr als nur die sichtbaren Beweise auf den Leichen. Natürlich war die Mathematik verführerisch, sowie die Tatsache, dass eine angesehene Universität Ort der Taten war. Aber es gab immer noch eine andere Geschichte von den Familien der Opfer zu erfahren, von den Leuten, die sie kannten.
Vielleicht würde Mrs. Henderson Licht auf den Tod ihres Ehemanns werfen können – und dazu beitragen, dass dieser frustrierende Fall rasch geklärt wurde.
KAPITEL FÜNF
Shelley setzte sich auf den Fahrersitz, was bei ihren gemeinsamen Fahrten ungewöhnlich war. Shelley wusste, dass Zoe normalerweise als Beifahrerin übel wurde, aber an diesem Tag war sie so beschäftigt mit ihren Gleichungen, dass sie die vorbeirasenden Straßen kaum zu bemerken schien. Sie klammerte sich nicht einmal an ihren Sicherheitsgurt, das übliche Zeichen dafür, dass sie sich nicht wohl fühlte.
Shelley blickte herüber, wann immer sie die Möglichkeit hatte – beim Warten an Kreuzungen oder beim Stehenbleiben im dichten Verkehr. Was Zoe hektisch auf mehrere Seiten ihres Notizbuchs kritzelte, ergab für sie überhaupt keinen Sinn. Es hätten genauso gut Hieroglyphen sein können.
Zoe hatte ein wirkliches Talent, wenn es um Zahlen ging, aber das hatte auch andere Seiten. Eine zielstrebige Besessenheit konnte sie manchmal überkommen, wie jetzt. So sehr Shelley helfen wollte, sie hatte keine Ahnung, was gebraucht wurde – und Zoe würde es ihr nicht sagen. Sie war oft so. Ruhig, verschlossen. Shelley hatte die Geschichten über ihre vorherigen Partner gehört und es war nicht schwer, daraus abzuleiten, dass sie wahrscheinlich schon vor langer Zeit aufgegeben hatte, anderen ihre Gedanken anzuvertrauen.
Zoe war es gewohnt, alleine zu arbeiten. Wenn es nach ihr ginge, würde Shelley das ändern. Es würde nur eventuell eine lange Zeit dauern, bis sie ihr Ziel erreichte. In der Zwischenzeit würde sie sie ermutigen und daran erinnern müssen, ihre Gedanken mitzuteilen.
Nur vielleicht nicht hinsichtlich Mathematik. Shelley konnte ihr die alleinige Beschäftigung damit anvertrauen.
Der Englischprofessor lebte am anderen Ende der Stadt, in einem der eleganteren Vororte, weißgestrichene Häuser mit großzügigen Rasenflächen und passenden weißen Zäunen. Shelley hielt vor dem Haus an, stellte den Motor ab und wartete, dass Zoe es bemerkte.
Sie sah nicht einmal auf.
Es gab Zeiten, in denen Shelley das Gefühl hatte, sich in Zoes Gegenwart vorsichtig verhalten – sie mit der größten Behutsamkeit behandeln zu müssen. Mit Samthandschuhen. Was irgendwie ironisch war, wenn man bedachte, dass Shelley in ihrer Zeit zu Hause die ganze Zeit elterliche Pflichten erfüllte. Es gab mehr als einige Gelegenheiten, bei denen sie das Gefühl hatte, das Gleiche auf der Arbeit zu machen, auch wenn Zoe die Ältere von ihnen beiden war.
„Wir sind da“, sagte Shelley sanft, wollte Zoe nicht mitten aus ihren Berechnungen herausreißen.
Zoes Stift hielt mitten in der Bewegung inne und sie blickte endlich auf. Sie schien überrascht, irgendwo anders zu sein als auf dem Parkplatz der Gerichtsmedizin. „Ich muss nur noch …“
Shelley zog eine Augenbraue hoch. „Z, dauert es weniger als zwei Minuten? Denn wenn nicht, sollten wir losgehen und mit der Frau des Professors sprechen und dann zur Gleichung zurückkehren.“
Zoe seufzte hörbar, schien aber zuzustimmen. Sie packte ihr Notizbuch in eine Tasche und stieg aus dem Auto, was Shelley als Signal nahm, das Gleiche zu tun. Sie revidierte ihre frühere Überlegung: der Umgang mit Zoe war nicht genau wie der Umgang mit einem Kind. Eher manchmal wie der mit einem mürrischen Teenager.
Mrs. Henderson schien sie, oder zumindest irgendjemanden, erwartet zu haben. Sie war ordentlich in ein dunkles Kleid mit Blumenmuster gekleidet, die gedämpften Farben vermittelten ein wenig von dem, was sie durchlitt. Ihre Augen waren rotgeädert, aber offen und scharfsinnig, machten sich nur Augenblicke nach ihrem Zusammentreffen auf der Türschwelle einen Eindruck von Shelley und Zoe.
„Ich bin Special Agent Shelley Rose und das ist Special Agent Zoe Prime. Wir würden gerne hereinkommen und über Ihren Ehemann sprechen, Mrs. Henderson.“
Die Frau nickte, bedeutete ihnen, hineinzukommen, trat zurück, damit sie die Tür schließen konnte, nachdem sie eingetreten waren. Das Haus war in einem dezenten klassischen Stil möbliert, dunkles Holz und bequeme Kissen und Überwürfe. Mrs. Henderson führte sie in ein Wohnzimmer, wo Shelley dankbar für sich und Zoe das Angebot eines Kaffees annahm.
„Sie scheint es sehr gut zu verkraften“, murmelte Shelley, betrachtete ihre neue Umgebung. Es war ordentlich, jeder einzelne Gegenstand an seinem Platz. Kein Staub auf dem niedrigen Couchtisch mit der Marmorplatte oder dem dunklen Sideboard voller Erinnerungsstücke und Nippes. Frisches Obst lag in einer polierten Schale in der Mitte des Tisches. Es wirkte eher wie eine Fernsehkulisse als ein tatsächlich bewohntes Zuhause.
Vielleicht verarbeitete Mrs. Henderson ihre Trauer, indem sie das Haus putzte und aufräumte, bereit für Besucher. Es wäre nicht völlig ungewöhnlich. Shelley hatte es zuvor erlebt. Es war mit Verleugnung verbunden – der Gedanke, dass, wenn sie nur sicherstellte, dass alles perfekt war, ihr Ehemann vielleicht wieder in der Tür stand.
Die Beschäftigung hielt zudem die Trauer auf Armeslänge.
Eine gerahmte Fotografie stand auf dem Kaminsims: der Professor und seine Frau, in glücklicheren Zeiten. Shelley betrachtete das Bild und versuchte, nicht die schreckliche Schweinerei vor sich zu sehen, in die der Kopf des Professors verwandelt worden war.
„Siebzehn Statuetten“, murmelte Zoe. Shelley folgte ihrem Blick zum Sideboard und wusste, dass Zoe tat, was sie immer tat: nach Zahlen suchen. In diesem Fall hatten sie allerdings eine neue Bedeutung angenommen. Sie suchte nach einem Hinweis, der zu einem Durchbruch bei den Gleichungen führen würde.
Die Hausherrin kehrte schon nach einigen Minuten zurück, trug ein Tablett mit drei Tassen heißen Kaffees. Das zarte Porzellan von Mrs. Hendersons Tasse stand im Gegensatz zu der einfachen Sachlichkeit der anderen beiden. Ein Haushalt, der zwei Persönlichkeiten verriet. Vielleicht eine Aussage, dass die Besucher, die sie heute empfing, nicht ihr bestes Porzellan wert waren.
„Das muss ein großer Schock für Sie gewesen sein“, sagte Shelley, hob ihre Tasse und pustete sanft über die Oberfläche des Kaffees, bevor sie einen Schluck nahm. Fragen oder Aussagen wie diese, offen und einladend, ermutigten die Leute oft, mehr Informationen preiszugeben. Die Art Information, zu der man vielleicht von selbst gar keine Fragen gestellt hätte.
„Oh ja“, Mrs. Henderson seufzte tief, lehnte sich in dem Sessel zurück, der anscheinend ihr üblicher Sitzplatz war. „Ich kann es immer noch nicht ganz glauben. Mein Ralph, einfach verstorben. Und auch noch so gewaltsam. Ich kann es einfach nicht begreifen.“
„Können Sie sich einen Grund für diese extreme Gewalt vorstellen, Mrs. Henderson?“
Die ältere Frau schloss kurz die Augen, eine Hand flatterte zu ihrer Stirn hinauf. Sie war immer noch mit einem einfachen goldenen Ehering geschmückt, neben einem aufwendigeren Schmuckstück mit kleinen Diamanten. Vielleicht ein Verlobungsring, jahrzehntealt. „Zuerst dachte ich, sie wollten etwas stehlen. Sein Auto oder seine Geldbörse. Aber die Polizei sagte, dass nichts fehlt.“
„Die Psychologen teilten uns mit, dass es am Tatort Hinweise auf große Wut gibt. Diese Art Wut, nun, normalerweise stammt sie daher, dass jemand jemanden persönlich kennt. Gibt es da jemanden, der Ihnen einfällt? Jemanden, der auf Ihren Ehemann wütend ist, genug, um ihm Böses zu wünschen?“
Ein besticktes Taschentuch wurde hochgehoben, um ihre Augen abzutupfen, die beringte Hand hob sich, um eine Strähne ihres mausbraunen Haares zurückzustreichen. „Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich meine, Ralph war – er war Ralph. Er würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Er kam mit seinen Kollegen zurecht, wurde von seinen Studenten gemocht. Wir haben einige Freunde in der Nachbarschaft, die ab und an zum Abendessen vorbeikamen. Er hatte nicht einmal mit Fremden gestritten. Er hatte nichts Streitlustiges . Jeder liebte ihn!“
„Gut, also keine bekannten Feinde“, sagte Shelley, nickte ermutigend, obwohl die Antwort sie frustrierte. Es war immer besser, wenn man wusste, wohin man sich als Nächstes wenden konnte. „Während seiner ganzen Karriere, meinen Sie? Er hatte nie irgendwelche Probleme?“
Mrs. Henderson schniefte, zuckte mit den Schultern. „Nun, es gab immer kleine Dinge“, sagte sie, obwohl ihr Ton zeigte, dass sie der Meinung war, dass es unmöglich von Bedeutung sein konnte. „Er war ein Professor. Es gab Studenten, die mit ihrer Benotung nicht einverstanden waren. Oder jene, die rausflogen, weil sie die Vorlesungen nicht besucht oder ihre Arbeiten zu spät eingereicht hatten. Sie denken alle, sie würden eine Sonderbehandlung verdienen. Aber das ist normal. Einfach Teil des Jobs. Niemand würde jemanden wegen einer Benotung umbringen, oder?“
Shelley konnte erkennen, dass Mrs. Henderson diese Frage ernst meinte, nach Beruhigung suchte. Leider wusste Shelley, dass sie ihr diese nicht geben konnte. Die Leute töteten aus allen möglichen Gründen. Es stand nicht immer Vernunft dahinter. Manchmal war es einfach der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, zusätzlich zu allem anderen.
Vielleicht war es ein Gedanke, dessen Verfolgung sich lohnte. Reiches Kind mit Anspruchsdenken, das im Leben immer alles erhält, versagt nun zum ersten Mal? Bekommt einen durch Gewöhnung an Privilegien hervorgerufenen Wutanfall? Oder ein Student, der am Ende war, nichts mehr hatte, wofür es sich zu leben lohnte – Eltern kürzlich verstorben, Freundin hat mit ihm Schluss gemacht, hat seinen Teilzeitjob verloren und nun noch dazu eine schlechte Note? Man könnte es zumindest in Betracht ziehen.
„Hoffen wir, dass es nicht so ist“, bot sie mit einem leichten Lächeln, das ihr Mitgefühl vermitteln sollte, an. „Können Sie sich an etwas Ungewöhnliches erinnern, das in den letzten Tagen oder Wochen – sogar Monaten – geschehen ist?“
Mrs. Henderson schüttelte ihren Kopf, betupfte erneut ihre Augen. „Ich habe immer wieder darüber nachgedacht. Alles war einfach – normal. Deshalb war es so ein Schock. Völlig unerwartet. Ich wüsste nicht, warum irgendjemand meinem Ralph überhaupt wehtun wollen sollte.“
Die Frau wurde zunehmend verzweifelter. Vielleicht wäre es angemessen, die Befragung zu beenden, sie in Ruhe zu lassen. „Gibt es etwas anderes, das Sie uns sagen können – irgendetwas? Es mag nicht einmal relevant erscheinen, aber jede kleine Information stellt ein weiteres Puzzlestück dar.“
Mrs. Henderson schüttelte hilflos den Kopf.
„Gut, eine letzte Frage. Erinnern Sie sich, ob Ihr Ehemann je über einen Studenten namens Cole Davidson gesprochen hat?“
„Nicht, bis sein Name in den Zeitungen stand“, sagte Mrs. Henderson. „Dieser arme Junge. Glauben Sie … glauben Sie, dass die Fälle zusammenhängen? Das tun sie sicher, nicht wahr? Zwei Morde innerhalb einer so kurzen Zeitspanne?“
„Es ist nicht hilfreich für uns, zu diesem Zeitpunkt zu spekulieren.“ Shelley nahm einen letzten Schluck von ihrem Kaffee, bedauerte es, eine halbe Tasse dieses sehr guten Kaffees stehenlassen zu müssen. „Aber wir werden uns melden, wenn wir Ihnen mehr sagen können.“
Shelley stand auf, zögerte dann, als Zoe es ihr gleichtat. „Mrs. Henderson, haben Sie jemanden, der Ihnen heute Gesellschaft leisten kann?“
Sie nickte langsam, stand auf, um sie zur Tür zu begleiten. „Meine Tochter fliegt her. Sie sollte bis heute Abend hier sein.“
Das erleichterte Shelley. Eine Frau mit ihrer Trauer alleine zu lassen, fühlte sich nie richtig an, ganz gleich wie viele Angehörigenbefragungen sie machte. „Wir melden uns dann, Mrs. Henderson. Versuchen Sie, in der Zwischenzeit ein wenig Ruhe zu finden.“
Sie stiegen wieder ins Auto ein, Zoe zog sofort ihr Notizbuch hervor, um erneut hineinzuschreiben. Shelley fragte sich, ob sie überhaupt ein Wort der Befragung gehört oder diese sofort als nutzlos abgetan und die ganze Zeit über Zahlen nachgedacht hatte.
Was auch immer es war, Shelley konnte sich nicht darüber ärgern. Momentan waren die Gleichungen die einzigen richtigen Hinweise, die sie hatten. Während sie zurück zum Hauptquartier fuhren, konnte Shelley nicht anders, als sich Sorgen zu machen, dass sie nichts Weiteres von Nutzen finden würden, das den Fall knacken würde. Da Zoe so auf die Zahlen fixiert war, lag es an Shelley, etwas anderes zu finden, das einen Unterschied machen würde.
Das Problem war, herauszufinden, wo sie suchen sollte.
KAPITEL SECHS
Zoe ärgerte sich über jeden Moment, den sie vergeudeten, als sie vom Parkplatz durch das Gebäude zu dem Zimmer, das sie für ihre Ermittlung übernommen hatten, gingen. Fast fünfhundert Schritte Entfernung, die sie mit Arbeit verbracht haben könnten. So schön es war, an etwas zu arbeiten, das, wie Shelley es ausgedrückt hatte, in ihrem eigenen Hinterhof geschehen war, Zoe wurde bereits gereizt. Die Gleichungen weigerten sich, ihr Geheimnis preiszugeben, blieben vage und schleierhaft.
Sobald sie den Tisch erreichte setzte Zoe sich hin und nahm ihre Notizen wieder auf, versuchte, sich durch jedes Element der Gleichung des Professors zu arbeiten, Stück für Stück. Seine war immerhin diejenige, die sie persönlich gesehen hatten, die, von der sie sicher sein konnten, dass sie komplett war.
„Ich sehe mir sein Fakultätsmailkonto an“, verkündete Shelley, ließ ihre Tasche auf einen Stuhl fallen und holte ihr Telefon heraus.
„Ist das notwendig?“ fragte Zoe, zog die Nase kraus. Es hatte keinen Sinn, einem solchen Hinweis nachzurennen. Die Antwort lag in den Gleichungen, nicht im Privatleben des Professors. So musste es sein. Es gab keine Verbindung zwischen Cole Davidson und diesem Englischprofessor, nicht ohne die Gleichungen.
„Ich bin nicht gut in Mathe, also kann ich dir nicht dabei helfen, diese Zahlen durchzugehen“, erklärte Shelley. „Etwas, das Mrs. Henderson sagte, ließ mich aufhorchen. Es könnte durchaus etwas mit einem Studenten zu tun haben. Jemand, der sich irgendwie ungerecht behandelt fühlte. Es ist möglich, dass es viele Leute gibt, die sowohl Cole wie auch Professor Henderson vom Campus kannten.“
Zoe zögerte, ihre Einwände lagen ihr auf der Zunge. Sie war der Meinung, dass es Zeitverschwendung wäre, sich durch die E-Mails eines toten Mannes zu wühlen. Aber was machte es? Shelley hatte recht – sie konnte bei den Gleichungen nicht helfen. Und vielleicht war es an der Zeit, dass Zoe ihr zutraute, Dinge auf ihre eigene Art zu untersuchen.
Vielleicht wäre es auch gut für Zoe, wenn dieser Fall sich durch eine verärgerte Email lösen ließ anstatt durch die Zahlen. Nachdem Shelley ihre Vorgesetzten darauf hingewiesen hatte, dass Zoe gut in Mathe war, lag Zoe nicht unbedingt viel daran, es zu beweisen. Es wäre tatsächlich besser, wenn sie es als fehlgeleitete Überzeugung ihrer Partnerin darstellen konnte.
Aber natürlich nicht, wenn es den Fall gefährdete. Den Mörder aufzuhalten war immer noch das Wichtigste.
Zoe widmete ihre Aufmerksamkeit wieder den Gleichungen, während Shelley die Universität anrief, um den benötigten Zugang zu bekommen. Allerdings war sie so weit gekommen, wie es ihr möglich war – mit beiden. Es gab natürlich immer noch die Möglichkeit, dass etwas auf der Leiche des Studenten übersehen worden war, aber sie hatten den Professor selbst überprüft.
Was übersah sie also?
Es gab natürlich eine weitere Möglichkeit: dass ihre Kenntnisse einfach nicht fortgeschritten genug waren, um sie zu lösen. Es war ein Unterschied, ob man in der Lage war, Zahlen – Entfernungen, Dimensionen, Winkel – zu sehen oder Gleichungen der Quantenmathematik zu lösen. Es bedurfte weiterer Fähigkeiten, Fähigkeiten, die andere Leute über ihr ganzes Leben hinweg entwickelten. Zoe hatte vielleicht ein Talent, aber sie hatte es der Verfolgung von Mördern gewidmet, nicht Mathematikstudien.
Was sie an etwas anderes denken ließ.
Sie stand auf, ließ Shelley noch immer mit einer Vorzimmerdame am Handy plaudernd zurück und trug ein Bündel Fotografien den Flur entlang zum Aufzug. Zwei Stockwerke nach oben und einen Flur hinunter, der mit dem gerade verlassenen identisch war – abgesehen davon, dass jedes der Zimmer an diesem Flur wesentlich mehr Macht ausströmte.
Zoe holte Luft, bevor sie an die Tür ihres Chefs klopfte. Wie oft war sie schon herzitiert und zusammengestaucht worden, weil sie einen weiteren Partner verloren oder ihre Waffe abgefeuert hatte?
Aber diesmal war es anders und sie trat ein, als sie dazu aufgefordert wurde, versuchte, nicht nervös zu werden.
Angesichts seiner imponierenden Gestalt und seiner überdurchschnittlichen Muskeln war es leicht vorstellbar, wie einschüchternd Special Agent in Charge Maitland im Außendienst gewirkt hätte. Kriminelle wären nach einem Blick auf ihn abgehauen.
Zoe gab sich große Mühe, nicht ebenso zu empfinden.
„Sir“, sagte sie, blieb zögernd im Türrahmen stehen.
Maitland sah von seinen Papieren auf, setzte dann weiter seine Unterschrift unter einen Antrag. „Kommen Sie rein, Special Agent Prime. Stehen Sie nicht den ganzen Tag im Flur rum.“
Zoe machte einen Schritt nach vorne, ließ die Tür etwas zögerlich hinter sich zufallen. Sie straffte aber ihre Schultern und trat ihm mit der aufrechten Haltung gegenüber, die sie in seiner Gegenwart immer annahm. „Sir, es geht um den Fall, an dem Special Agent Rose und ich arbeiten. Der Collegestudent und der Professor, die mit auf ihre Leichen geschriebenen Gleichungen aufgefunden wurden.“
Trotz der Menge an Fällen, die zweifellos die D.C. Außenstelle durchliefen, zögerte Maitland nicht eine Sekunde. „Ich weiß. Was brauchen Sie?“
„Die Gleichungen sind ausgesprochen anspruchsvoll“, sagte Zoe, fühlte sich ein wenig wie eine Versagerin, als sie zugab, dass sie für sie zu schwer waren. Trotzdem musste es sein. Mit dem Blick auf die ordentlichen Neunzig-Grad-Winkel, in denen alles auf Maitlands Schreibtisch lag, anstatt auf seinem Gesichtsausdruck brachte sie sich dazu, fortzufahren. „Ich glaube, es wäre sinnvoll, wenn wir einen Spezialisten hinzuziehen. Jemanden, der mit einer professionellen Perspektive an den Gleichungen arbeiten kann.“
Maitland nickte, hielt dann beim Schreiben inne, als er begriff, dass sie fertig war. „Schwebt Ihnen jemand Bestimmtes vor? Special Agent Rose hat uns daran erinnert, dass Sie einmal Mathematik studiert haben.“
„Ja, das tut es, Sir.“
„Gut.“ Maitlands Aufmerksamkeit kehrte zu seinen Papieren zurück, er betrachtete die Unterhaltung als beendet. „Erlaubnis gewährt. Reichen Sie umgehend die notwendigen Papiere ein.“
„Ja, Sir.“ Zoe drehte sich um und floh fast zur Tür, glücklich über den positiven Ausgang. Sie würde auf gar keinen Fall herumstehen und darauf warten, dass er am Ende seine Meinung änderte.
Es gab Arbeit zu erledigen – und jemand sehr Wichtigen zum Fall hinzuzuziehen.






