Ruhend

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Ryan schaute auf.
Er lächelte schwach und sagte mit ziemlich wehleidiger Stimme…
„Ein Kätzchen und ein Hund! Wahnsinn, wie viel sich verändert hat!“
Mit flinken Händen und einem genervten Murmeln riss April die Katze von Ryans Schoß.
Ryan sah so aus, als hätte ihn die Geste verletzt. Doch Riley konnte verstehen, wie sich April fühlen musste.
Als April und Jilly sich beide in Richtung der Treppe aufmachten, sagte Riley…
„Wartet, Mädchen. Habt ihr Blaine und Crystal nichts zu sagen?“
Ein wenig bestürzt darüber, dass sie es beinahe vergessen hatten, dankten April und Jilly Blaine und Crystal für die schöne Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten.
Crystal umarmte jede von ihnen. „Ich rufe dich morgen an“, sagte sie zu April.
„Und nehmt eure Sachen mit nach oben“, wies Riley die beiden an.
April und Jilly schnappten sich beide ihre Koffer. Da April noch immer Marbles auf dem Arm hatte, sammelte Jilly die restlichen Sachen auf. Mit Darby auf ihren Fersen, stiegen die beiden schließlich die Treppe hinauf. Wenige Sekunden später hörte man das Knallen zweier Türen.
Gabriela warf Ryan einen bestürzten Blick zu und verschwand in ihre eigene Wohnung.
Ryan sah Blaine an und sagte vorsichtig: „Hi, Blaine. Ich hoffe, ihr hattet alle einen guten Urlaub.“
Riley stand vor Staunen der Mund offen.
Er macht sich die Mühe, höflich zu sein, dachte sie.
Nun war sie sich sicher, dass hier etwas mächtig faul war.
Blaine machte eine leichte Bewegung mit der Hand und sagte: „Es war super, Ryan. Wie geht es dir?“
Ryan zuckte mit den Schultern und antwortete nicht.
Riley hatte fest vor, sich von Ryan nicht beeinflussen zu lassen.
Sie küsste Blaine liebevoll auf den Mund und sagte: „Danke für die wundervolle Zeit.“
Blaine wurde rot, offensichtlich verunsichert durch die Gesamtsituation.
„Danke dir – und den Mädchen“, sagte er.
Crystal schüttelte Riley die Hand und dankte ihr ebenso.
Blaine flüsterte Riley zu: „Ruf mich nachher an.“
Riley nickte, und Blaine verließ mit seiner Tochter das Haus.
Riley holte tief Luft und wandte sich nun der letzten im Wohnzimmer verbleibenden Person zu. Ihr Ex-Mann starrte sie mit einem stummen und flehenden Blick an.
Was will er? fragte sie sich aufs Neue.
Immer wenn Ryan auftauchte, hatte Riley sich normalerweise eingestehen müssen, dass ihr Ex-Mann nach wie vor ein sehr attraktiver Mann war – etwas größer, älter und durchtrainierter als Blaine, immer perfekt gepflegt und gut gekleidet. Doch dieses Mal war etwas anders. Er sah zerknittert, traurig und kaputt aus. Sie hatte ihn noch nie so gesehen.
Riley wollte ihn gerade fragen, was los sei, als er sagte…
„Hast Du vielleicht etwas zu trinken?“
Riley blickte ihm ins Gesicht. Es sah mager und fahl aus. Sie fragte sich…
Ob er in letzter Zeit öfter trinkt?
Hat er bereits etwas getrunken, bevor er hierhergekommen ist?
Sie spielte kurz mit dem Gedanken seine Bitte abzulehnen, stand dann aber auf, ging in die Küche und machte zwei Gläser mit Bourbon auf Eis fertig. Sie brachte die Drinks ins Wohnzimmer und setzte sich in den Sessel direkt gegenüber von ihm. Sie wartete bis er selbst zu sprechen begann.
In sich zusammengesunken und mit hängenden Schultern sagte er schließlich mit heiserer Stimme…
„Riley – ich bin ruiniert.“
Rileys Mund stand offen.
Was meinte er damit? fragte sie sich.
KAPITEL SIEBEN
Riley saß da und starrte ihn an. Ryan wiederholte seine Worte abermals…
„Ich bin ruiniert. Mein ganzes Leben – ruiniert.“
Riley war erschüttert. Sie konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal so viel Niedergeschlagenheit ausgestrahlt hatte. Arroganz und Selbstsicherheit waren viel eher seine Art.
„Was meinst du damit?“, fragte sie ihn.
Er seufzte tief und elendig und sagte dann: „Paul und Barrett – sie drängen mich aus der Kanzlei.“
Riley konnte ihren Ohren nicht trauen.
Paul Vernasco und Barrett Gaynor waren Ryans Partner seitdem die drei die Kanzlei zusammen gegründet hatten. Darüber hinaus waren sie immer Ryans engste Freunde gewesen.
Sie fragte: „Was um Himmels Willen ist denn zwischen euch passiert?“
Ryan zuckte mit den Schultern und sagte zurückhaltend: „Sie meinen, dass ich zur Bürde für die Kanzlei geworden bin… ich weiß es nicht.“
Doch Riley hatte den starken Eindruck, dass er genau wusste, wovon die Rede war und wieso seine Partner ihn loswerden wollten.
Sie brauchte nur einen Versuch, um den Grund zu erraten.
„Sexuelle Belästigung“, sagte sie.
Ryan stöhnte auf.
„Schau, es war alles nur ein Missverständnis“, sagte er.
Riley musste sich fast auf die Zunge beißen, um nicht zu antworten…
„Ja, na klar war es nur ein Missverständnis.“
Rileys Blick vermeidend begann Ryan: „Ihr Name ist Kyanne, sie ist Juniorpartnerin. Sie ist jung…“
Seine Stimme verstummte für einen Moment, und Riley dachte…
Natürlich ist sie jung.
Sie waren immer alle jung.
Ryan sagte: „Ich dachte, dass alles auf Gegenseitigkeit beruhte. Wirklich. Es hat mit einem harmlosen Flirt begonnen – auf beiden Seiten, glaub mir. Dann ist alles eskaliert… naja, sie ist zu Paul und Barrett und hat sich über das feindseliges Arbeitsumfeld beschwert. Sie haben versucht, sie mit einer Vertraulichkeitsvereinbarung zu besänftigen, aber sie wollte nicht klein beigeben. Sie war nicht zu überzeugen, außer damit, dass ich gehe.“
Er verstummte wieder, und Riley versuchte sich das, was er ungesagt ließ, dazu zu denken. Es war nicht schwer, sich ein mögliches Szenario vorzustellen. Ryan war von einer schönen und lebhaften Juniorpartnerin bezaubert worden, womöglich einer ambitionierten jungen Frau, die ein Auge auf eine mögliche Partnerschaft in der Kanzlei geworfen hatte.
Wie weit ist Ryan gegangen? fragte Riley sich.
Sie bezweifelte, dass er ihr im Tausch gegen sexuelle Gefälligkeiten eine Beförderung versprochen hatte…
So ein Widerling ist er nun auch wieder nicht, dachte sie.
Und vielleicht sagte Ryan ja sogar die Wahrheit, wenn er meinte, dass die Anziehung auf Gegenseitigkeit beruht hatte, zumindest anfangs. Vielleicht hatten sie sogar eine Affäre mit beidseitigem Einverständnis gehabt. Doch an irgendeinem Punkt war etwas schief gegangen und der Frau, Kyanne, hatte nicht gefallen, was dann passiert war.
Wahrscheinlich aus gutem Grund, dachte Riley sich.
Was hätte Kyanne auch anderes tun können, als zu erkennen, dass ihre Zukunft in der Kanzlei von ihrer Beziehung zu Ryan abhing? Er war schließlich ein vollwertiger Partner. Er hatte die Macht in ihrer Beziehung.
Und doch stimmte etwas nicht, das konnte Riley spüren…
Sie sagte: „Also drängen Paul und Barrett dich zum Gehen? Das ist ihre Lösung?“
Ryan nickte, und Riley schüttelte ungläubig den Kopf.
Paul und Barrett waren selbst keine Heiligen. Im Laufe der Jahre hatte Riley mehrfach mitanhören müssen, zu welch abwertende Bemerkungen sich die drei Partnern hinabließen. Sie war sich sicher, dass deren eigenes Verhalten dem Ryans um nichts nachstand – möglicherweise sogar um einiges schlimmer war.
Sie sagte: „Ryan, du hast gesagt, dass sie keine Vertraulichkeitsvereinbarung unterzeichnen wollte.“
Ryan nickte und nahm einen Schluck.
Sehr vorsichtig fuhr Riley fort: „Wie viele Vertraulichkeitsvereinbarungen wegen sexueller Belästigung sind denn über die Jahre auf deinem Konto verbucht worden?“
Ryan stöhnte erneut auf, und Riley wusste, dass sie auf die schmerzhafte Wahrheit gestoßen war.
Sie fügte hinzu: „Und Paul und Barrett – wie viele Vertraulichkeitsvereinbarungen gehen auf deren Konten?“
Ryan fuhr fort: „Riley, ich würde nur äußerst ungerne solche Details –“
„Nein, natürlich würdest du das nur ungern preisgeben“, unterbrach Riley ihn. „Ryan, du wirst hier als Sündenbock benutzt. Das weißt du, oder? Paul und Barrett versuchen das Image der Kanzlei reinzuwaschen, es so aussehen zu lassen, als hätten sie eine Null-Toleranz Grenze was Belästigung angeht. Indem sie dich loswerden, wollen sie das demonstrieren.“
Ryan zuckte mit den Schultern und sagte: „Ich weiß. Aber was soll ich machen?“
Riley wusste nicht, was sie ihm sagen sollte. Sie wollte ihm gegenüber kein Mitgefühl zeigen. Er hatte sich diese Grube über die Jahre hinweg selbst gegraben. Trotzdem ärgerte es sie, wie seine Partner ihn jetzt ans Messer lieferten.
Aber sie wusste, dass es nichts gab, was er jetzt noch dagegen unternehmen konnte. Außerdem bereitete ihr etwas anderes mehr Sorgen.
Sie zeigte auf die Koffer und fragte: „Was sollen denn die hier?“
Ryan blickte einen Augenblick zu den Koffern.
Dann sagte er mit stockender Stimme: „Riley, ich kann nicht nach Hause.“
Riley musste Luft holen.
„Was meinst Du damit?“, fragte sie. „Hast du dein Haus verloren?“
„Nein, noch nicht. Es ist nur…“
Ryans Stimme stockte, dann sagte er…
„Ich kann das nicht alleine durchstehen. Ich kann nicht alleine in diesem Haus wohnen. Ich erinnere mich andauernd an glückliche Zeiten mit dir und April. Ich denke ständig daran, wie ich alles ruiniert habe. Das Haus bricht mir das Herz, Riley.“
Er holte ein Taschentuch hervor und betupfte seine Augen. Riley war ratlos. Sie hatte Ryan sehr selten weinen gesehen. Beinahe hätte sie selbst zu weinen begonnen.
Doch sie wusste, dass sie gerade ein ernsthaftes Problem zu lösen hatte.
Sie sagte mit sanfter Stimme…
„Ryan, hier kannst du nicht bleiben.“
Ryan fiel in sich zusammen wie ein Luftballon, in den sich ein Nagel bohrte. Riley wünschte, dass ihre Worte ihn weniger verletzt hätten. Aber sie musste ehrlich mit ihm sein.
„Ich habe jetzt mein eigenes Leben“, sagte sie. „Ich habe zwei Mädchen, um die ich mich kümmern muss. Und es ist ein gutes Leben. Blaine und ich meinen es ernst miteinander – sehr ernst. Es ist sogar so, dass…“
Sie wollte ihm schon von Blaines Plänen erzählen, sein eigenes Haus für sie auszubauen.
Aber sie sah ein, dass das gerade zu viel gewesen wäre.
Stattdessen sagte sie: „Du kannst das alte Haus verkaufen.“
„Ich weiß“, sagte Ryan, immer noch leise weinend. „Das hatte ich geplant. Aber in der Zwischenzeit… ich kann einfach nicht dort wohnen.“
Riley wollte gerne etwas tun, um ihn zu trösten – seine Hand halten, ihn umarmen oder ihm irgendeine andere körperliche Geste des Trosts geben.
Es war verlockend und einige ihrer alten Gefühle für ihn kamen wieder in ihr hoch, aber…
Tu es nicht, sagte sie sich.
Bleib cool.
Denk an Blaine.
Denk an die Kinder.
Ryan schluchzte nun wie ein Schlosshund. Mit beinahe schon wahnsinniger Stimme sagte er…
„Riley, es tut mir leid. Ich will noch einmal von vorne anfangen. Ich will ein guter Ehemann und ein guter Vater sein. Ich könnte es bestimmt, wenn wir es nur… noch einmal versuchen würden.“
Sie hielt weiterhin Abstand zu ihm und sagte…
„Ryan, das können wir nicht. Dafür ist es viel zu spät.“
„Es ist nie zu spät“, rief Ryan. „Lass uns einfach wegfahren, nur wir beide, alles wird wieder gut.“
Riley spürte einen Schauder.
Er begreift nicht, was er da sagt, dachte sie.
Er hat gerade einen Nervenzusammenbruch.
Sie war sich nun ziemlich sicher, dass er schon früher am Tag getrunken haben musste.
Dann sagte er mit einem nervösen Lachen…
„Ich hab’s! Lass uns zur alten Hütte deines Vaters fahren! Ich war noch nie dort, kannst du dir das vorstellen? Nicht einmal in all den Jahren. Wir könnten dort einige Tage verbringen und –“
Riley unterbrach ihn scharf: „Ryan, nein.“
Er starrte sie an, als könne er seinen Ohren nicht trauen.
In besänftigendem Ton fuhr Riley fort: „Ich habe die Hütte verkauft, Ryan. Aber selbst wenn ich sie noch gehabt hätte…“
Sie verstummte für einen Moment und sagte dann…
„Ryan, du musst dich da jetzt selbst durchkämpfen. Ich wünschte, ich könnte dir helfen, aber ich kann es nicht.“
Ryans Schultern sackten nach unten, und sein Schluchzen wurde leiser. Er schien sich Rileys Worte zu Herzen zu nehmen.
Sie sagte: „Du bist ein starker, kluger, einfallsreicher Mann. Du kannst das alles noch zu deinen Gunsten wenden. Ich weiß, dass du das kannst. Aber ich kann da nicht mitspielen. Es wäre nicht gut für mich – und wenn du ehrlich mit dir selbst bist, dann weißt du, dass es auch für dich nicht gut wäre.“
Ryan nickte elendig.
„Du hast Recht“, sagte er, nun mit festerer Stimme. „Ich hab’ es mir selbst eingebrockt, und nun muss ich es auch selbst wieder geradebiegen. Es tut mir leid, dass ich dich damit belästigt habe. Ich gehe jetzt.“
Als er sich erhob, sagte Riley…
„Warte einen Moment. Du bist gerade in keinem Zustand um hinters Steuer zu steigen. Lass mich dich fahren. Du kannst zurückkommen und dein Auto abholen, wenn es dir wieder besser geht.“
Ryan nickte erneut.
Riley war erleichtert, dass sie sich jetzt nicht erst darüber streiten mussten, und dass sie nicht gezwungen war, ihm die Autoschlüssel mit Gewalt wegzunehmen.
Riley wagte es nun auch, ihn am Arm zu nehmen, um ihn hinaus und zu ihrem eigenen Auto zu führen. Er schien sie auch tatsächlich als Stütze zu brauchen.
Während der Fahrt schwiegen sie beide. Als sie vor dem großen schönen Haus vorfuhren, in dem sie einst alle zusammen gewohnt hatten, sagte er: „Riley, es gibt da etwas, dass ich dir noch sagen wollte. Ich… ich finde, dass du das richtig toll machst. Und ich wünsche dir wirklich alles Gute.“
Riley hatte plötzlich einen Kloß im Hals.
„Oh, Ryan –“, begann sie.
„Nein, hör mir bitte zu, das ist jetzt wichtig. Ich bewundere dich. Du hast so viele großartige Dinge getan. Du warst immer eine gute Mutter für April, und nun hast du Jilly adoptiert, und jetzt hast du eine neue Beziehung begonnen, und ich sehe, dass er ein wirklich toller Kerl ist. Und nebenbei hast du zu allem Überfluss auch noch deine Arbeit gemacht, die Bösen geschnappt und Leben gerettet. Ich weiß nicht, wie du es machst. Dein Leben ist einfach stimmig.“
Riley war zutiefst überwältigt – und gleichzeitig zutiefst verstört.
Wann war das letzte Mal gewesen, dass Ryan so etwas zu ihr gesagt hatte?
Sie wusste einfach nicht, was sie ihm antworten konnte.
Zu ihrer Erleichterung stieg Ryan aus, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Riley saß noch im Auto und starrte auf das Haus, in dem Ryan verschwand. Sie fühlte wirklich mit ihm. Sie konnte sich selbst nicht vorstellen, jetzt alleine in diesem Haus zu sein – nicht mit all den Erinnerungen, die es beherbergte, den guten wie den schlechten.
Und seine Worte hallten in ihr nach…
„Dein Leben ist einfach stimmig.“
Sie seufzte und murmelte vor sich hin…
„Das ist nicht wahr.“
Es war eine echte Herausforderung für sie, zwei Mädchen zu erziehen, während sie ihrer vereinnahmenden und allzu oft gefährlichen Arbeit nachging. Sie hatte zu viele Richtungen gleichzeitig eingeschlagen, war zu viele Verpflichtungen eingegangen, und sie hatte noch nicht gelernt, damit umzugehen.
Würde es immer so bleiben?
Und wie würde sich Blaine in dieses Leben einfügen lassen?
War eine erfolgreiche Ehe in ihrer Lage überhaupt möglich?
Der Gedanke, eines Tages in einer Situation zu stecken, die mit Ryans vergleichbar war, ließ sie erschaudern.
Dann ließ sie das Haus, in dem sie einmal gelebt hatte, hinter sich und machte sich auf den Weg nach Hause.
KAPITEL ACHT
Riley lief in ihrem Wohnzimmer auf und ab.
Sie sagte sich, dass sie sich einfach entspannen sollte, dass sie seit ihrem Urlaub ja wusste, wie das ging. Doch jedes Mal erinnerte sie sich an das, was ihr Vater in ihrem Albtraum zu ihr gesagt hatte…
„Du bist ein Jäger, genau wie ich.“
Im Moment fühlte sie sich sicherlich nicht wie ein Jäger.
Viel eher wie ein Tier im Käfig, dachte sie.
Es war der erste Schultag, und sie hatte die Mädchen gerade zur Schule gebracht. Jilly war höchsterfreut, endlich dieselbe High School wie ihre Schwester zu besuchen. Die neuen Schüler und ihre Eltern hatten die typische Begrüßungsrede im Hauptauditorium erhalten. Anschließend hatte es eine kurze Führung durch die Klassenzimmer gegeben. April konnte zusammen mit Riley und Jilly an der Führung teilnehmen.
Obwohl Riley nicht die Möglichkeit gehabt hatte, mit jedem Lehrer ausführlich zu sprechen, war es ihr gelungen, sich allen als Jillys Mutter und April als Jillys Schwester vorzustellen. Einige von Jillys neuen Lehrern waren auch schon einmal Aprils Lehrer gewesen und wussten nur Gutes über sie zu berichten.
Als Riley nach der Einführungsveranstaltung noch bleiben wollte, machten sich beide Mädchen über sie lustig.
„Und was willst du machen?“, hatte April gefragt. „Mit Jilly zusammen im Unterricht sitzen?“
Riley hatte geantwortet, dass sie vielleicht genau das tun sollte, nur um ein entsetztes Stöhnen von Jilly zu hören zu bekommen.
„M-o-o-o-m! Das wäre so uncool!“
April hatte gelacht und gesagt: „Mom, jetzt sein nicht so ein ‘Kopter!“
Als Riley gefragt hatte, was ein „Kopter“ sei, hatte April ihr erklärt, dass das Wort für „Helikopter-Eltern“ stand.
Eines dieser Worte, die ich kennen sollte, hatte sich Riley gedacht.
Jedenfalls hatte Riley Jillys Gefühle respektiert und war nach Hause gefahren – und nun war sie hier. Gabriela war mit einer ihrer unzähligen Cousinen zum Mittagessen verabredet und wollte danach den Einkauf machen. Also war Riley ganz alleine im Haus, nur mit einer Katze und einem Hund, die nicht im Geringsten an ihr interessiert waren.
Ich muss damit aufhören, dachte sie sich.
Riley ging in die Küche und holte sich einen Snack. Dann zwang sie sich, sich aufs Sofa zu setzen und den Fernseher anzumachen. Die Nachrichten deprimierten sie, deshalb schaltete sie auf eine seichte Serie um. Sie hatte keine Ahnung, worum es in der Handlung gerade genau ging, doch eignete sich die Seifenoper zumindest eine Weile lang ganz gut als Ablenkung.
Doch es dauerte nicht lang, und ihre Aufmerksamkeit begann sich auf etwas anderes zu konzentrieren, und sie bemerkte, dass sie erneut darüber nachdachte, was Ryan während seines unangenehmen Besuchs hier gesagt hatte…
„Ich kann das nicht alleine durchstehen. Ich kann nicht alleine in diesem Haus leben.“
In diesem Moment hatte Riley das Gefühl, zu wissen, wie er sich fühlen musste.
Waren ihr Ex-Mann und sie sich doch ähnlicher als sie es sich eingestehen wollte?
Sie versuchte, sich selbst vom Gegenteil zu überzeugen. Im Gegensatz zu Ryan kümmerte sie sich um ihre Familie. Später würden die Mädchen und Gabriela nach Hause kommen, und sie würden alle gemeinsam zu Abend essen. Vielleicht würden Blaine und Crystal ihnen dieses Wochenende auch wieder Gesellschaft leisten.
Dieser Gedankengang machte Riley bewusst, dass Blaine seit der Situation mit Ryan etwas auf Abstand gegangen war. Riley konnte auch verstehen, warum das so war. Riley hatte mit Blaine nicht über den Besuch von Ryan sprechen wollen – es erschien ihr zu vertraulich und persönlich – und es war nur natürlich, dass Blaine das unruhig machte.
Sie verspürte das plötzliche Bedürfnis, ihn sofort anzurufen, doch sie wusste, dass Blaine noch viele Stunden Arbeit vor sich hatte. Nach seiner Rückkehr war es notwendig gewesen, die Abläufe in seinem Restaurant wieder in ihre gewohnten Bahnen zu lenken.
Riley konnte nicht umhin, sich schrecklich alleine in ihrem eigenen Haus zu fühlen…
Genau wie Ryan.
Sie fühlte sich ein wenig schuldig vor ihrem Ex-Mann – obwohl sie nicht genau wusste, weshalb. Nichts von dem, was in seinem Leben schieflief, war ihre Schuld gewesen. Trotzdem verspürte sie den schwachen Wunsch, ihn anzurufen, um herauszufinden, wie es ihm ging. Vielleicht konnte sie ihm ein wenig beistehen. Doch das war natürlich eine außerordentlich dumme Idee. Das letzte was sie jetzt tun sollte war, ihm irgendwelche irreführenden Signale zu senden und ihn glauben zu lassen, dass sie womöglich doch noch eine Zukunft zusammen hatten.
Während die Figuren aus der Serie stritten, weinten, einander ohrfeigten und durch die verschiedenen Betten wanderten, kam Riley ein anderer Gedanke in den Sinn.
Manchmal erschien ihr das eigene Leben zu Hause, ihre Familie und ihre Beziehungen nicht viel realer als das, was sie gerade im Fernsehen sah. Die tatsächliche Anwesenheit der geliebten Menschen schaffte es, sie von dem tiefliegenden Gefühl der Isolation abzulenken. Doch schon wenige Stunden alleine zuhause genügten, um sie schmerzlich daran zu erinnern, wie sie sich im Inneren tatsächlich fühlte.
Es gab da eine Leere in ihr, die nur durch eine Sache gefüllt werden konnte…
Durch welche genau?
Durch Arbeit.
Doch welche Bedeutung hatte ihre Arbeit für sie selbst oder für irgendjemand anderen?
Sie erinnerte sich erneut an etwas, was ihr Vater zu ihr im Traum gesagt hatte…
„Es ist ein verdammt sinnloses Leben, das du da führst – Gerechtigkeit für Menschen einzufordern, die bereits tot sind, für genau die Menschen, die keine Gerechtigkeit mehr brauchen.“
Sie fragte sich…
Ist das wahr?
Ist das, was ich tue, wirklich sinnlos?
Sicherlich nicht, denn sie hielt oftmals Mörder auf, die sonst mit großer Sicherheit weitere Opfer gefordert hätten.
Sie rettete auf lange Sicht gesehen Leben – so viele Leben, das konnte sie sich gar nicht vorstellen.
Und doch, damit sie überhaupt einen Job hatte, musste irgendjemand morden, und irgendjemand musste sterben…
Es beginnt immer mit dem Tod.
Oft blieben die Fälle ihr noch lange nach ihrem Abschluss im Gedächtnis und stifteten selbst noch dann in ihr ein Unbehagen, wenn die Mörder bezwungen und zur Rechenschaft gezogen worden waren.
Sie machte den Fernseher wieder aus, da die Seifenoper sie zu nerven begann. Dann lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und dachte an ihren letzten Fall, die Serienmörderin in Georgia.
Arme Morgan, dachte sie.
Morgan Farrell war mit einem reichen aber gewalttätigen Mann verheiratet gewesen. Als er im Schlaf brutal ermordet worden war, war Morgan sich sicher gewesen, diejenige gewesen zu sein, die ihn erstochen hatte, obwohl sie sich an die Tat gar nicht hatte erinnern können.
Sie war sich sicher, dass sie es verdrängt oder vergessen hatte, wegen ihres Alkohol- und Medikamentenproblems.
Und sie war stolz auf das gewesen, was sie glaubte, getan zu haben. Sie hatte Riley sogar angerufen, um ihr das zu sagen…
„Ich habe den Mistkerl umgebracht.“
Morgan war unschuldig, wie sich später herausstellte. Eine andere wahnsinnige Frau hatte Morgans Ehemann umgebracht – und weitere ebenso gewalttätige Ehemänner.
Die Frau, die selbst unter ihrem verstorbenen Ehemann gelitten hatte, war danach auf eine Rachemission gegangen, um andere Frauen von ihrer Pein zu befreien. Riley konnte sie gerade noch rechtzeitig davon abbringen, einen unschuldigen Mann umzubringen, dessen einziges Vergehen es gewesen war, seine verstörte, wahnsinnige Frau zu lieben.
Riley spielte in ihrer Erinnerung durch, was geschehen war nachdem sie die Frau zu Boden gerungen und ihr Handschellen anlegt hatte…
„Adrienne McKinney, Sie sind verhaftet.“
Doch nun fragte Riley sich…
Was, wenn alles anders ausgegangen wäre?
Was, wenn Riley nicht nur den unschuldigen Mann hätte retten können, sondern auch der Frau ihren Fehler erklären und sie dann einfach hätte wieder laufen lassen können?
Sie hätte weiter gemordet, dachte Riley.
Und die Männer, die sie ermordet hätte, hätten ihren Tod verdient gehabt.
Was für eine Gerechtigkeit hatte sie damals also wirklich geschaffen?
Riley verlor bei dem Gedanken den Mut, und sie musste wieder an die Worte ihres Vaters denken…
„Es ist ein wahnsinnig unnützes Leben, das du da führst.“
Auf der einen Seite versuchte sie verzweifelt, das Leben einer Mutter und Frau zu führen, zwei Töchter großzuziehen und einen Mann zu lieben, den sie hoffte, eines Tages zu heiraten. Manchmal schien dieses Leben tatsächlich zu gelingen, und sie wusste auch, dass sie niemals aufgeben würde, es weiter zu versuchen.
Doch sobald sie alleine war, schien dieses normale Leben irgendwie so unecht.










