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Nur unwesentlich beruhigt stand sie auf, um die Kinder zu wecken.
Dylan war bereits aus dem Haus und Cassie nahm an, dass er mit dem Rad unterwegs war. Sie betrat sein Zimmer mit der Hoffnung, er würde dies nicht als Verletzung seiner Privatsphäre betrachten, schüttelte sein Bett aus und sammelte verstreute Klamotten ein.
Sein Regal war mit einer Vielzahl von unterschiedlichsten Büchern vollgestopft, einige schienen auch vom Radfahren zu handeln. In einem Aquarium auf dem Bücherregal schwammen zwei Goldfische und auf einem großen Tisch in der Nähe des Fensters befand sich ein Hasenstall. Ein grauer Hase aß ein Frühstück aus Salatblättern und Cassie sah ihm fröhlich zu.
Dann verließ sie sein Zimmer, um an Madisons Tür zu klopfen.
„Gib mir zehn Minuten“, hörte sie das Mädchen schläfrig rufen. Also begab sich Cassie in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten.
Dort sah sie, dass Ryan unter dem Salzstreuer Bargeld und eine Notiz hinterlassen hatte. „Bin bei der Arbeit. Macht euch einen schönen Tag! Ich werde abends wieder zurück sein.“
Cassie steckte eine Scheibe Brot in den hübschen Toaster mit Blumenmuster und füllte den Wasserkessel. Während sie Kaffee kochte, betrat auch Madison in einem pinken Bademantel gähnend die Küche.
„Guten Morgen“, begrüßte Cassie sie.
„Morgen. Ich bin froh, dass du hier bist. Alle anderen stehen so früh auf“, beschwerte sie sich.
„Trinkst du Kaffee? Tee? Saft?“
„Tee bitte.“
„Toast?
Madison schüttelte den Kopf. „Danke, aber ich habe noch keinen Hunger.“
„Worauf hast du heute Lust? Dein Dad hat uns angewiesen, etwas zu unternehmen“, sagte Cassie und schenkte Madison wie gewünscht Tee mit einem Schuss Milch ein.
„Lass uns in die Stadt gehen“, sagte Madison. „Dort ist am Wochenende immer was los.“
„Gute Idee. Weißt du, wann Dylan zurück sein wird?“
„Normalerweise ist er etwa eine Stunde unterwegs.“ Madison legte ihre Hände um die Teetasse und blies auf die dampfende Flüssigkeit.
Cassie war beeindruckt, wie unabhängig die Kinder zu sein schienen. Offensichtlich waren sie es nicht gewohnt, überbehütet zu werden. Das Dorf war vermutlich klein und sicher genug, sodass die Kinder es als Erweiterung ihres eigenen Zuhauses betrachteten.
Kurz darauf kam auch Dylan zurück und um neun Uhr waren alle angezogen und bereit für den Ausflug. Cassie wollte den Wagen zu nehmen, aber Dylan riet ihr davon ab.
„Am Wochenende ist es schwer, einen Parkplatz zu finden. Für gewöhnlich laufen wir ins Dorf, das sind nur zweieinhalb Kilometer. Zurück nehmen wir dann den Bus. Er fährt alle zwei Stunden, wir müssen es also richtig timen.“
Der Spaziergang zum Dorf hätte nicht malerischer sein können. Der Blick auf das Meer und die hübschen Häuser begeisterte Cassie und irgendwo in der Ferne konnte sie sogar Kirchenglocken hören. Die Luft war frisch und kühl und sie genoss den Geruch des Meeres.
Madison sprang vor ihr her und zeigte auf die Häuser von Leuten, die sie kannte, was so ziemlich auf jeden zuzutreffen schien.
Einige Autos fuhren vorbei und winkten ihnen zu und eine Frau hielt sogar ihren Range Rover an, um sie mitzunehmen.
„Nein danke, Mrs. O’Donoghue, wir laufen gerne“, rief Madison. „Aber vielleicht kommen wir auf dem Rückweg auf das Angebot zurück!“
„Ich werde nach euch Ausschau halten“, versprach die Frau lächelnd, bevor sie weiterfuhr. Madison erklärte, dass die Frau mit ihrem Mann landeinwärts lebte, wo sie einen kleinen Biohof führten.
„Im Dorf gibt es einen Laden, der ihre Produkte verkauft. Manchmal gibt es dort auch selbstgemachtes Karamell“, sagte Madison.
„Dann werden wir auf jeden Fall dort hingehen“, versprach Cassie.
„Ihre Kinder sind richtige Glückspilze. Sie gehen aufs Internat in Cornwall. Ich wünschte, ich könnte auch dorthin“, sagte Madison.
Cassie runzelte die Stirn und fragte sich, warum Madison ihr perfektes Leben verlassen wollte. Vielleicht hatte die Scheidung sie verunsichert und sie wünschte sich eine größere Gemeinschaft?
„Bist du glücklich in deiner jetzigen Schule?“, fragte sie sicherheitshalber.
„Oh ja, es ist toll dort. Naja, außer dem Lernen eben“, sagte Madison.
Cassie war erleichtert, dass es keine versteckten Probleme zu geben schien und Madison nicht etwa gemobbt wurde.
Die Läden im Dorf waren genauso anheimelnd, wie sie es sich erhofft hatte. Einige verkaufen Angelausrüstung, warme Kleidung und Sportequipment. Cassie probierte ein Paar hübscher Handschuhe an, als sie sich an ihre kalten Hände auf der Veranda erinnerte. Aber aufgrund ihrer Finanzen entschied sie sich, dass es besser war, zu warten und sich ein billigeres Paar zu kaufen.
Der Geruch von frischgebackenem Brot lotste sie über die Straße zur Bäckerei. Nach einigem Hin und Her mit den Kindern kaufte sie schließlich ein Sauerteigbrot und Pecan Pie.
Die einzige Enttäuschung des Morgens war der Süßigkeiten-Laden.
Als Madison erwartungsvoll zur Tür marschierte, blieb sie niedergeschlagen stehen.
Der Laden war geschlossen und an der Tür hing ein handgeschriebener Zettel. „Liebe Kunden – wir sind übers Wochenende auf einem Familiengeburtstag! Wir werden am Dienstag wieder zurück sein, um Ihnen Ihre liebsten Köstlichkeiten zu servieren.“
Madison seufzte traurig.
„Normalerweise kümmert sich ihre Tochter um den Laden, wenn sie weg sind. Aber sieht so aus, als wären sie alle zu der dummen Party gegangen.“
„Scheint so. Aber Kopf hoch, wir können nächste Woche zurückkommen.“
„Das ist noch so lange hin.“ Mit gesenktem Kopf drehte sich Madison weg und Cassie biss sich nervös auf die Lippe. Sie wollte unbedingt, dass dieser Ausflug von Erfolg gekrönt war und hatte sich bereits Ryans freudiges Gesicht ausgemalt, wenn seine Kinder ihm von einem tollen Tag erzählten. Sie hatte sich vorgestellt, wie er sie dankbar ansehen oder ihr gar ein Kompliment machen würde.
„Wir kommen nächste Woche zurück“, wiederholte sie, wusste aber, dass dies ein neunjähriges Mädchen, das sich bereits auf Pfefferminz-Zuckerstangen gefreut hatte, nur geringfügig trösten konnte.
„Und vielleicht finden wir in den anderen Läden ja auch etwas Süßes“, fügte sie hinzu.
„Komm schon, Maddie“, sagte Dylan ungeduldig, nahm ihre Hand und zog sie von dem Laden weg. Cassie entdeckte das Geschäft, von dem Madison ihr erzählt hatte und der Frau gehörte, die ihnen eine Mitfahrgelegenheit angeboten hatte.
„Lasst uns noch hier reingehen und danach entscheiden wir uns, wo wir etwas zu Mittag essen“, sagte sie.
Cassie dachte an die gesunden Abendessen und Snacks und entschied sich für ein paar Tüten mit klein geschnittenem Gemüse, Birnen und Trockenfrüchten.
„Können wir Maronen kaufen?“, fragte Madison. „Die schmecken super, wenn sie über dem Feuer geröstet werden. Letzten Winter haben wir das mit meiner Mum gemacht.“
Es war das erste Mal, dass eines der Kinder ihre Mutter erwähnte und Cassie wartete nervös, ob die Erinnerung Madison verärgern würde. Oder vielleicht war dies ein Zeichen, dass sie über die Scheidung sprechen wollte? Zu ihrer Erleichterung machte das Mädchen einen ausgeglichenen Eindruck.
„Natürlich, das ist eine sehr schöne Idee.“ Cassie legte eine Tüte Maronen in den Korb.
„Schau mal, dort ist das Karamell!“
Madison deutete aufgeregt zu den Süßwaren und Cassie vermutete, dass der Moment vorbei war. Aber jetzt, wo das Eis gebrochen war und sie ihre Mutter erwähnt hatte, würde sie vielleicht erneut darüber reden wollen. Cassie machte sich eine mentale Notiz, die Signale zu beobachten. Sie wollte keine Gelegenheit verpassen, den Kindern durch diese schwierige Zeit zu helfen.
Das Karamell war auf einem Tisch in der Nähe der Kasse mit anderen Süßwaren ausgestellt. Es gab außerdem kandierte Äpfel, Pfefferminzbonbons, Turkish Delight und sogar kleine Zuckerstangen.
„Was hättet ihr gerne, Dylan und Madison?“, fragte sie.
„Einen kandierten Apfel, bitte. Und Karamell und eine Zuckerstange“, sagte Madison.
„Einen kandierten Apfel, zwei Zuckerstangen, Karamell und Turkish Delight“, fügte Dylan hinzu.
„Ich glaube, zwei Süßigkeiten pro Person sind genug, sonst habt ihr beim Mittagessen keinen Appetit mehr“, sagte Cassie, die sich daran erinnerte, dass übermäßiger Zuckerkonsum in dieser Familie verpönt war. Sie nahm zwei kandierte Äpfel und zwei Tüten Karamell vom Display.
„Glaubt ihr, euer Vater hätte gerne etwas?“ Ihr wurde warm ums Herz, als sie Ryan erwähnte.
„Er mag Nüsse“, sagte Madison und zeigte auf die gerösteten Cashew-Kerne. „Die isst er am liebsten.“
Cassie legte eine Tüte in ihren Korb und ging zur Kasse.
„Hallo“, begrüßte sie die Kassiererin, ein molliges, blondes, junges Mädchen mit einem Namensschild, auf dem ‚Tina‘ stand. Sie lächelte und begrüßte Madison beim Vornamen.
„Hallo Madison. Wie geht’s deinem Vater? Ist er wieder zuhause oder noch immer im Krankenhaus?“
Cassie sah Madison besorgt an. Hatte man versäumt, ihr davon zu erzählen? Aber Madison runzelte verwirrt die Stirn.
„Er war nicht im Krankenhaus.“
„Oh, tut mir leid, das muss ich missverstanden haben. Als er zuletzt hier war, hat er gesagt …“, begann Tina.
Madison unterbrach sie und starrte die Kassiererin neugierig an, während diese den Einkauf abrechnete.
„Du bist fett geworden.“
Entsetzt über die Taktlosigkeit ihres Kommentars, fühlte Cassie, wie ihr Gesicht krebsrot wurde – genau wie Tinas.
„Es tut mir so leid“, murmelte sie entschuldigend.
„Keine Ursache.“
Cassie sah, wie niedergeschlagen Tina aussah. Was war in Madison gefahren? Hatte ihr niemand beigebracht, solche Sachen nicht laut auszusprechen? War sie zu klein, um zu realisieren, wie verletzend Worte sein konnten?
Ihr war klar, dass weitere Entschuldigungen die Situation nicht verbessern konnten, also nahm sie das Wechselgeld und schob das Mädchen aus dem Laden, bevor ihr noch mehr einfiel.
„Es ist nicht höflich, so etwas zu sagen“, erklärte sie, als sie außer Hörweite waren.
„Warum?“, fragte Madison. „Es ist die Wahrheit. Sie ist viel fetter als noch im August.“
„Es ist immer besser, solche Beobachtungen für sich zu behalten, vor allem wenn andere Leute zuhören. Vielleicht hat sie ein Drüsenproblem oder nimmt Medikamente, von denen sie zunimmt, wie zum Beispiel Kortison. Oder vielleicht bekommt sie ein Baby und will noch nicht, dass die Leute davon wissen.“
Sie schielte zu Dylan, um zu sehen, ob er zuhörte, doch er wühlte in seinen Taschen und schien beschäftigt zu sein.
Madison runzelte die Stirn, während sie darüber nachdachte.
„Okay“, sagte sie. „Ich werde beim nächsten Mal daran denken.“
Cassie atmete erleichtert aus, weil ihre Logik verstanden worden war.
„Hättest du gerne einen kandierten Apfel?“
Cassie gab Madison den Apfel, den sie in ihre Tasche steckte, und gab den anderen Dylan. Aber er winkte ab.
Cassie sah ihn ungläubig an und beobachtete dann, wie er eine Zuckerstange des Ladens auspackte, den sie eben besucht hatten.
„Dylan …“, begann sie.
„Ah, ich wollte auch so eine“, beschwerte sich Madison.
„Ich habe dir eine mitgebracht.“ Dylan griff in die tiefen Taschen seines Mantels und zog zu Cassies Entsetzen weitere Zuckerstangen heraus.
„Hier“, sagte er.
„Dylan!“ Cassie fühlte, wie ihr die Luft wegblieb und ihre Stimme klang hoch und gestresst. Ihr Kopf drehte sich, als sie versuchte, die Situation zu verstehen. Handelte es sich um ein Missverständnis?
Nein. Dylan hatte unmöglich für die Süßigkeiten bezahlt. Nach Madisons peinlichem Kommentar hatte sie die beiden eilig aus dem Laden geschoben. Dylan hatte unmöglich Zeit gehabt, für die Zuckerstangen zu bezahlen, vor allem weil die Verkäuferin nicht sehr geschickt darin gewesen war, die altertümliche Kasse zu bedienen.
„Ja?“ Er sah sie fragend an und Cassie wurde unwohl, als seine hellblauen Augen keinerlei Emotion zu zeigen schienen.
„Ich denke – ich denke, dass du möglicherweise vergessen hast, dafür zu bezahlen.“
„Ich habe nicht bezahlt“, sagte er beiläufig.
Cassie starrte ihn schockiert an.
Dylan hatte gerade unverblümt zugegeben, gestohlen zu haben.
Nie hätte sie sich ausgemalt, dass Ryans Sohn so etwas tun würde. Dies war außerhalb ihres Erfahrungsgebiets und sie hatte keine Ahnung, wie sie reagieren sollte. Ihr Eindruck einer perfekten Familie war weit von der Realität entfernt. Wie hatte sie sich nur so täuschen können?
Ryans Sohn hatte gerade ein Verbrechen begangen. Und noch schlimmer: Er schien weder Reue, noch Scham oder Verständnis für die Tragweite seiner Handlung zu zeigen. Er betrachtete sie ruhig und unaufgeregt.
Kapitel sechs
Während Cassie schockiert und entsetzt darüber nachdachte, wie sie mit Dylans Diebstahl umgehen sollte, bemerkte sie, dass Madison diesbezüglich bereits eine Entscheidung getroffen hatte.
„Ich esse nix Geklautes“, kündigte das Mädchen an. „Du kannst sie zurückhaben.“
Sie hielt Dylan die Zuckerstange hin.
„Warum gibst du sie mir zurück? Ich habe dir eine mitgebracht, weil du eine Zuckerstange haben wolltest, der erste Laden keine hatte und Cassie zu geizig war, dir eine zu kaufen.“
Dylan sprach mit beleidigter Stimme, als hätte er ein Dankeschön dafür erwartet, den Tag gerettet zu haben.
„Ja, aber ich will nichts Gestohlenes.“
Madison drückte ihm die Zuckerstange in die Hand und verschränkte die Arme.
„Schön – aber ich werde sie dir nicht erneut anbieten.“
„Ich habe nein gesagt.“
Mit nach vorne gedrücktem Kinn marschierte Madison davon.
„Du bist entweder für mich oder gegen mich. Du weißt, was Mum immer sagt“, rief Dylan ihr nach. Cassie, die sich wegen der erneuten Erwähnung der Mutter Sorgen machte, hörte die Drohung in seiner Stimme.
„Okay, genug jetzt.“
Mit wenigen, schnellen Schritten erreichte Cassie Madison, packte sie am Arm und brachte sie dann zurück. Schließlich starrten sie sich alle auf dem gepflasterten Fußgängerweg an. Sie zitterte vor Angst. Die Situation geriet immer weiter außer Kontrolle, die Kinder begannen zu streiten und sie hatte die Sache mit dem Diebstahl noch nicht geregelt. Egal, wie traumatisiert die Kinder auch waren oder welche Emotionen sie unterdrückten – es ging um ein Verbrechen.
Es entsetzte sie noch mehr, zu wissen, dass der Laden Freunden der Familie gehörte. Die Besitzerin wollte sie sogar mitnehmen! Man sollte niemanden beklauen, der einem eine Mitfahrgelegenheit angeboten hatte. Naja, man sollte überhaupt niemanden beklauen, aber definitiv nicht die Frau, die noch am selben Morgen großzügig und hilfreich gewesen war.
„Wir sollten uns hinsetzen.“
Zu ihrer Linken befand sich eine Teestube, die auf den ersten Blick voll wirkte, doch sie entdeckte, dass ein Paar gerade seine Sitznische verlassen hatte. Schnell schob sie die Kinder durch die Tür.
Eine Minute später saßen sie in der warmen Stube, die köstlich nach Kaffee und knusprigem Buttergebäck roch.
Cassie starrte auf die Speisekarte und fühlte sich hilflos, denn jede vergehende Sekunde zeigte den Kindern, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie mit der Situation umgehen sollte.
Idealerweise sollte sie Dylan vermutlich dazu zwingen, zurückzugehen und für die Süßigkeiten zu bezahlen. Doch was, wenn er sich weigerte? Außerdem kannte sie die Strafen für Ladendiebstahl in England nicht. Er könnte Ärger kriegen, wenn die Richtlinien des Ladens eine Berichterstattung bei der Polizei erforderten.
Cassie dachte erneut an die Geschehnisse und bemerkte, dass es eine andere Sichtweise geben könnte.
Sie erinnerte sich daran, dass Madison kurz vor Dylans Diebstahl das gemeinsame Rösten von Maronen mit ihrer Mutter erwähnt hatte. Vielleicht hatte der stille Junge die Worte seiner Schwester mitangehört und sich an das Trauma erinnert, das die Familie mitgemacht hatte.
Vielleicht hatte er seine unterdrückten Emotionen mit einer offensichtlich verbotenen Tat ausdrücken wollen. Je mehr Cassie darüber nachdachte, desto plausibler wurde diese Erklärung.
In diesem Fall wäre es besser, die Situation sensibler zu lösen.
Sie blickte zu Dylan, der durch die Speisekarte blätterte und keine Miene verzog.
Auch Madison schien ihren Wutausbruch vergessen zu haben. Mit der Verweigerung der gestohlenen Süßigkeiten und dem Streit mit Dylan schien die Sache für sie abgehakt zu sein. Sie war nun darin vertieft, die Beschreibungen der verschiedenen Milchshakes zu lesen.
„Okay“, sagte Cassie. „Dylan, bitte gib mir all die Süßigkeiten, die du genommen hast. Leere deine Taschen.“
Dylan wühlte in seiner Jackentasche und zog vier Zuckerstangen und eine Packung Turkish Delight heraus.
Cassie betrachtete den kleinen Haufen vor ihr.
Er hatte nicht viel genommen, dies war also kein Diebstahl in großem Stil. Die Tatsache, dass er etwas gestohlen hatte, war das Problem – und, dass er keine Reue zu zeigen schien.
„Ich werde die Süßigkeiten konfiszieren, denn es ist nicht richtig, etwas mitzunehmen, ohne zu bezahlen. Die Verkäuferin könnte zur Rechenschaft gezogen werden, wenn das Geld nicht stimmt und auch du hättest einiges an Ärger bekommen können. All diese Läden haben Kameras.“
„Okay“, sagte er gelangweilt.
„Ich werden deinem Vater davon erzählen und er wird entscheiden, wie es weitergeht. Bitte mach das nicht nochmal, auch wenn du helfen möchtest, die Welt für unfair hältst oder wegen Familienangelegenheiten wütend bist. Das könnte ernsthafte Konsequenzen für dich haben. Verstanden?“
Sie nahm die Süßigkeiten und verstaute sie in ihrer Handtasche.
Madison, die selbst nicht verwarnt worden war, blickte weitaus besorgter drein als Dylan. Dieser sah sie lediglich verwirrt an, nickte dann kurz und sie vermutete, dass mehr nicht aus ihm herauszubringen war.
Sie hatte getan, was sie konnte. Nun war es ihre Aufgabe, Ryan davon zu erzählen und es ihm zu überlassen, die Geschichte weiterzuverfolgen.
„Möchtest du einen Milchshake, Madison?“, fragte sie.
„Mit Schokolade kannst du nichts falsch machen“, erklärte Dylan und damit war die Spannung gebrochen und alles wieder beim Alten.
Cassie war unglaublich erleichtert, die Situation überstanden zu haben. Sie bemerkte, dass ihre Hände zitterten, also steckte sie sie unter den Tisch, damit die Kinder nichts davon sahen.
Sie hatte Streitereien immer gemieden, da diese Erinnerungen an ihre Zeit als unwilliges, hilfloses Opfer mit sich brachten. Sie erinnerte sich an Bruchstücke – laute Stimmen, wütendes Schreien, das Zerbrechen von Geschirr. In ihrem Versteck unter dem Esstisch hatten die Scherben ihre Hände und ihr Gesicht zerschnitten.
Wenn sie die Wahl hätte, würde sie sich in jedem Konflikt am liebsten verstecken.
Jetzt war sie froh, ihre Autorität ruhig aber bestimmt ausgeübt zu haben, ohne den Tag in ein Desaster zu verwandeln.
Die Managerin der Teestube eilte zu ihnen, um ihre Bestellung aufzunehmen und Cassie begann zu realisieren, wie klein die Stadt war, denn auch sie kannte die Familie.
„Hallo Dylan, hallo Madison. Wie geht es euren Eltern?“
Cassie zuckte zusammen, da sie offensichtlich nicht auf dem neuesten Stand zu sein schien und sie mit Ryan noch nicht besprochen hatte, wie sie darauf reagieren sollte. Als sie nach den richtigen Worten suchte, sagte Dylan: „Es geht ihnen gut, danke Martha.“
Cassie war dankbar über Dylans kurze Antwort, obwohl seine Gelassenheit sie überraschte. Sie hatte aufgebrachtere Reaktionen von ihm und Madison erwartet. Vielleicht hatte Ryan ihnen aufgetragen, nicht darüber zu sprechen, wenn jemand nicht Bescheid wusste. Vermutlich war das der Grund, schließlich schien die Frau in Eile zu sein und ihre Frage war nur eine höfliche Formalität gewesen.
„Hallo Martha, ich bin Cassie Vale“, sagte sie.
„Du klingst, als kämst du aus den Staaten. Arbeitest du für die Ellis-Familie?“
Wieder zuckte Cassie zusammen.
„Ich helfe nur aus“, sagte sie, da sie trotz ihres informellen Einverständnisses mit Ryan vorsichtig sein musste.
„Es ist so schwer, gute Hilfskräfte zu finden. Wir selbst haben gerade Not am Mann. Erst gestern wurde eine unserer Kellnerinnen ausgewiesen, weil sie nicht die richtigen Papiere hatte.“
Sie sah Cassie an, die schnell zum Tisch blickte. Was meinte die Frau? Verdächtigte sie Cassie, kein Arbeitsvisum zu haben, weil sie mit amerikanischem Akzent sprach?
Wollte sie ihr mitteilen, dass sich die Behörden in der Nachbarschaft umsahen?
Schnell gaben sie und die Kinder ihre Bestellungen auf und die Managerin eilte davon.
Kurze Zeit später erschien eine gestresst wirkende Bedienung, die offensichtlich aus dem Ort zu sein schien, und brachte Pasteten und Pommes.
Cassie wollte nicht länger als nötig sitzen bleiben, um der Managerin keine Gelegenheit zu geben, ihr Gespräch fortzuführen, da das Restaurant sich mittlerweile geleert hatte. Sobald sie aufgegessen hatten, ging sie zum Tresen, um zu bezahlen.
Sie verließen die Teestube auf demselben Weg, den sie auch gekommen waren. An einem Zoogeschäft machten sie Halt, um Fischfutter für die Tiere zu kaufen, die Dylan Orange und Lemon genannt hatte. Außerdem brauchte sein Hase, Benjamin Bunny, frische Streu.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle hörte Cassie Musik und sie bemerkte eine Gruppe von Leuten, die sich auf dem gepflasterten Marktplatz versammelt hatten.
„Was machen die Leute dort?“, fragte Madison, die die Aktivitäten ebenfalls bemerkt hatte.
„Können wir schauen gehen, Cassie?“, fragte Dylan.
Sie überquerten die Straße und entdeckten, dass Straßenkünstler ihre Zelte aufgeschlagen hatten.
In der nördlichen Ecke des Platzes spielte eine Live-Band, die aus drei Musikern bestand und auf der gegenüberliegenden Seite wurden Ballontiere hergestellt. Eltern mit kleinen Kindern standen bereits Schlange.
In der Mitte führte ein Magier, der Frack und Zylinder trug, seine Tricks vor.
„Oh, wow. Ich liebe Zaubertricks“, flüsterte Madison.
„Ich auch“, stimmte Dylan ihr zu. „Ich möchte mehr darüber lernen und erfahren, wie sie funktionieren.“
Madison verdrehte die Augen.
„Ganz einfach. Zauberei!“
Als sie ankamen, hatte der Magier gerade einen Trick vollendet, die Menge staunte und applaudierte und ging dann weiter. Der Zauberer drehte sich zu ihnen.
„Willkommen, liebe Leute. Vielen Dank, dass ihr an diesem wundervollen Nachmittag euren Weg zu mir gefunden habt. Aber sag mal, kleines Fräulein, ist dir nicht ein bisschen kalt?“
Er winkte Madison zu sich.
„Kalt? Mir? Nein.“ Sie machte einen Schritt nach vorne und lächelte vorsichtig.
Er streckte seine leeren Hände aus, ging auf sie zu und klatschte dann neben Madisons Kopf.
Sie keuchte. Als er seine Hände nach unten hielt, sah sie einen kleinen Spielzeugschneemann.
„Wie hast du das gemacht?“, fragte sie.
Er gab ihr das Spielzeug.
„Er war die ganze Zeit auf deiner Schulter und ist mir dir gereist“, erklärt er und Madison lachte sowohl begeistert als auch ungläubig.
„Also, dann wollen wir mal sehen, wie schnell eure Augen sind. Und so funktioniert’s. Ihr wettet gegen mich – egal, wie viel. Und ich bewege vier Karten hin und her. Wer erraten kann, wo die Königin gelandet ist, verdoppelt sein Geld. Wer falsch liegt, geht mit leeren Händen von dannen. Also, wer möchte wetten?“
„Ich! Kann ich etwas Geld haben?“, fragte Dylan.
„Klar. Wie viel möchtest du denn verlieren?“ Cassie wühlte in ihrer Jackentasche herum.
„Fünf Pfund, bitte. Dann kann ich zehn gewinnen.“
Cassie, die die Menge bemerkt hatte, die sich hinter ihnen versammelte, gab Dylan das Geld.
„Das sollte kein Problem für dich sein, junger Mann. Ich kann sehen, dass du schnelle Augen hast. Aber vergiss nicht – die Königin ist eine hinterlistige Dame, die schon viele Schlachten gewonnen hat. Sieh gut zu, wenn ich die vier Karten austeile. Ich lege sie mit dem Bild nach oben ab, damit jeder es sehen kann. Das ist fast schon zu einfach. Es ist, als würde ich Geld hergeben. Die Herz-Königin, das Pik-Ass, die Kreuz-Neun und der Bube in Karo. Schließlich sagt man ja über die Ehe: Sie beginnt mit Herzen und endet mit Hacke und Pickel.“
Das Publikum hinter ihnen lachte.
Die Aussage des Zauberers über eine zerbrochene Ehe bereitete Cassie Sorgen und sie betrachtete nervös die Kinder, doch Madison schien den Witz nicht verstanden zu haben und Dylans Aufmerksamkeit war auf die Karten gerichtet.
„Jetzt drehe ich sie um.“
Eine Karte nach der anderen wurde verdeckt.
„Und jetzt bewege ich sie.“
Geschwind, aber nicht zu schnell, mischte er die vier Karten. Es war eine Herausforderung, der Königin zu folgen, doch als er stoppte, war sich Cassie ziemlich sicher, dass sich die Königin ganz rechts befinden musste.






