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„Das ist deine Entscheidung“, sagte Riley.
„Ich gehe auf mein Zimmer“, antwortete ihre Tochter.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ April das Zimmer und schloss die Tür, sodass Riley alleine auf ihrem Bett zurückblieb.
Einen Moment lang überlegte sie, ob sie April nicht nachgehen sollte, doch…
Was gibt es da noch zu sagen?
In diesem Moment gab es nichts. Mit dem Kopf verstand Riley, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, so vorzugehen. Sie konnte April die Pistole nicht noch einmal anvertrauen. Weiteres Schimpfen und Bestrafung wären jetzt sicherlich sinnlos.
Nichtsdestotrotz fühlte sich Riley so, als hätte sie irgendwie versagt. Sie war sich nicht sicher, wieso. Vielleicht, dachte sie, war es das, dass sie April überhaupt erst eine Waffe anvertraut hatte. Doch, fragte sie sich, gehörte das nicht zum Mutter-sein dazu? Früher oder später musste man Kindern mehr Verantwortlichkeiten überlassen. Sie würden an einigen davon scheitern, aber andere davon meistern.
Das ist einfach ein Teil des Erwachsenwerdens.
Sicherlich konnten keine Eltern all die Verfehlungen und Niederlagen ihres Kindes im Vornherein kennen.
Vertrauen war immer ein Risiko.
Trotzdem hatte Riley das Gefühl, dass ihr Verstand sich in Kreisen drehte, um irgendwie eine Rationalisierung für ihr eigenes Erziehungsversagen zu finden.
Ein plötzlicher schmerzhafter Stich in ihrem Rücken stoppte ihr Grübeln.
Meine Wunde.
Ihr Rücken schmerzte immer noch von Zeit zu Zeit dort, wo ein psychopathischer Mörder auf sie mit einem Eispickel eingestochen hatte. Die Spitze war erschreckend tief eingedrungen – tiefer als ein normales Messer es vermutlich getan hätte. Es war jetzt über zwei Wochen her und sie hatte deswegen eine Nacht im Krankenhaus verbringen müssen. Danach hatte sie die Anweisungen bekommen, sich zuhause auszuruhen.
Obwohl Riley körperlich wie auch emotional von der ganzen Sache ganz schön mitgenommen gewesen war, hatte sie gehofft mittlerweile wieder auf der Arbeit sein zu können und an einem neuen Fall zu arbeiten. Doch ihr Boss, der Abteilungsleiter Brent Meredith, hatte darauf bestanden, dass sie sich mehr Zeit für ihre Genesung nahm, als ihr lieb gewesen wäre. Er hatte auch Rileys Partner Bill freigestellt, weil er auf den Mann, der Riley attackiert hatte, geschossen hatte und ihn dabei getötet hatte.
Sie fühlte sich auf jeden Fall bereit, zurück an die Arbeit zu gehen. Sie dachte nicht, dass ein schmerzhaftes Stechen hin und wieder sie bei der Arbeit behindern würde. Obwohl die Kinder und Gabriela sie die gesamte Zeit über umsorgt hatten, hatte sie nicht das Gefühl gehabt, dass sie gerade einen guten Draht zu ihnen hatte. Ihre permanente Sorge bereitete ihr bloß Schuldgefühle und gab ihr das Gefühl eine inadäquate Mutter zu sein.
Sie wusste, dass sie Jilly und Gabriela nun einiges an Erklärungen zu der Pistole schuldete.
Sie erhob sich und ging über den Flur zu Jillys Zimmer.
* * *Ihr Gespräch mit Jilly verlief genau so schwierig, wie es Riley erwartet hatte. Ihre jüngere Tochter hatte dunkle Augen, die von ihrer vermuteten italienischen Abstammung kamen und ein aufbrausendes Temperament wegen ihren schwierigen Kindheitsjahren, bevor Riley sie adoptiert hatte.
Jilly war sichtlich aufgebracht, dass Riley April eine Pistole besorgt hatte und dass ihre Schwester Schießtraining hinter ihrem Rücken bekommen hatte. Natürlich versuchte Riley vergebens ihre jüngere Tochter davon zu überzeugen, dass eine Pistole in ihrem Alter außer Frage stand. Und außerdem hatte es ja auch mit April nicht gut geklappt.
Riley konnte sehen, dass nichts, was sie sagte, einen Eindruck hinterließ und gab bald auf.
„Später“, sagte sie zu Jilly. „Wir werden später erneut darüber sprechen.“
Als Riley Jillys Zimmer verließ, hörte sie wie sich die Tür hinter ihr schloss. Eine ganze Weile lang stand Riley bloß im Flur rum. Ihre beiden Töchter hatten sich in ihren Zimmern eingesperrt und schmollten. Dann seufzte sie und ging zwei Etagen tiefer in den Wohnbereich von Gabriela.
Gabriela saß auf ihrem Sofa und blickte durch die großen Glasschiebetüren in den Hinterhof hinaus. Als Riley eintrat, lächelte Gabriela und tätschelte den Platz neben sich. Riley setzte sich und begann ganz von Anfang an die Geschichte mit der Pistole zu erklären.
Gabriela wurde nicht wütend, doch sie schien verletzt zu sein.
„Sie hätten es mir sagen sollen“, sagte sie. „Sie hätten mir vertrauen sollen.“
„Ich weiß“, sagte Riley. „Es tut mir leid. Ich glaube ich habe einfach… zurzeit Probleme mit der ganzen Erziehungssache.“
Gabriela schüttelte den Kopf und sagte: „Sie versuchen zu viel zu tun, Señora Riley. Sowas wie eine perfekte Mutter gibt es nicht.“
Diese Worte erwärmten Riley das Herz.
Das ist genau, was ich hören musste, dachte sie.
Gabriela fuhr fort: „Sie sollten mir mehr vertrauen. Sie sollten sich mehr auf mich verlassen. Ich bin schließlich hier, um ihr Leben einfacher zu machen. Das ist meine Arbeit. Ich bin auch hier, um meinen Teil der Erziehungsarbeit zu übernehmen. Ich denke, dass ich mit den Mädchen gut kann.“
„Oh, und wie“, sagte Riley und ihre Stimme wurde ein bisschen heiser. „Das bist du wirklich. Du weißt gar nicht, wie dankbar ich bin dich in unserem Leben zu haben.“
Riley und Gabriela saßen einen Moment schweigend da und lächelten einander an. Auf einmal fühlte Riley sich sehr viel besser.
Dann klingelte es an der Tür. Riley umarmte ihre Haushälterin und ging in den ersten Stock, um die Tür zu öffnen.
Für einen kurzen Moment war Riley entzückt zu sehen, dass ihr gutaussehender Freund, Blaine, vor ihr stand. Doch sie bemerkte etwas trauriges in seinem Lächeln, einen melancholischen Blick in seinen Augen.
Das hier wird kein angenehmer Besuch sein, begriff sie.
Kapitel zwei
Etwas stimmte nicht, das wusste Riley. Statt hereinzukommen und sich wie zuhause zu fühlen, wie er es normalerweise tat, stand Blaine bloß vor ihrer Eingangstür da. Sein angenehmes Gesicht hatte einen unbestimmten erwartungsvollen Ausdruck.
Riley wurde mutlos. Sie hatte eine ziemlich genaue Ahnung, was Blaine auf dem Herzen lag. Sie hatte es tatsächlich schon seit Tagen kommen sehen. Für einen kurzen Moment verspürte sie den Wunsch die Tür einfach zu schließen und so zu tun, als wäre er gar nicht vorbeigekommen.
„Komm rein“, sagte sie.
„Danke“, antwortete Blaine, als er ins Haus eintrat.
Als sie sich im Wohnzimmer hinsetzten, fragte Riley: „Möchtest du etwas trinken?“
„Äh, nein, ich glaube nicht. Danke.“
Er erwartet nicht, dass sein Besuch lange dauern wird, dachte Riley.
Dann schaute er sich um und bemerkte: „Es ist ja unglaublich still im Haus. Sind die Mädchen heute Nachmittag irgendwo anders?“
Es wäre Riley beinahe rausgeplatzt: „Nein, sie wollen einfach nur nichts mehr mit mir zu tun haben.“
Doch das schien unpassend unter den gegebenen Umständen. Wenn zwischen ihnen alles normal gewesen wäre, hätte Riley sich gerne über die Strapazen des Mutterseins ausgelassen und hätte von Blaine erwarten können, dass er freudig miteinstimmen würde und sogar ihre Laune mit ein paar ermunternden Worten heben könnte.
Dies war aber nicht einer dieser Momente.
„Wie fühlst du dich?“, fragte Blaine.
Einen Moment lang kam Riley die Frage ziemlich komisch vor und sie wollte beinahe sagen: „Ziemlich nervös. Und du?“
Doch dann begriff sie, dass er über ihre Wunde sprach. Während ihres Genesungsprozesses war er extrem aufmerksam und freundlich zu ihr gewesen. An vielen Abenden hatte er köstliches Essen aus dem feinen Restaurant, das er besaß und leitete, mitgebracht.
Doch genau diese Aufmerksamkeit war für sie ein Anhaltspunkt gewesen, dass etwas Unangenehmes folgen würde. Er war natürlich immer ein herzlicher und rücksichtsvoller Mann gewesen. Aber in den letzten Wochen hatte sich eine verräterische Traurigkeit über seine Freundlichkeit gelegt – ein Hauch einer unausgesprochenen und unerklärten Entschuldigung vielleicht.
Sie sagte: „Es geht mir sehr viel besser, danke.“
Blaine nickte und sagte dann langsam und überlegt: „Ich nehme an, du wirst also zur Arbeit zurückkehren.“
Da ist es, dachte Riley.
„Ich weiß nicht“, sagte sie. „Es liegt an meinem Boss. Er hat mir bisher keinen neuen Fall zugeteilt.“
Blaine schielte auf sie und sagte: „Aber fühlst du dich bereit, zur Arbeit zurückzukehren?“
Riley seufzte. Sie erinnerte sich an das Gespräch, dass sie geführt hatten, kurz nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Sie hatte ihm gesagt, dass sie erwartete innerhalb der nächsten Woche zurück bei der Arbeit zu sein und er hatte nicht versucht seine Besorgnis darüber zu verstecken. Sie hatten damals aber nicht versucht die Sache zu klären.
Stattdessen hatte Riley seine Hand gedrückt und gesagt: „Ich nehme an, wir sollten uns über einige Dinge unterhalten.“
Seitdem war mehr als eine Woche vergangen.
Dieses Gespräch ist überfällig, dachte sie.
Sie sagte: „Blaine, ich fühle mich jetzt schon seit Tagen bereit, wieder zu arbeiten. Ich bin mehr als bereit. Es tut mir leid. Ich weiß, dass es nicht das ist, was du hören möchtest.“
Blaine starrte einen Moment lang zu Boden.
„Riley, denkst du nie darüber nach…?“
Er verstummte.
„Worüber?“, fragte Riley und versuchte eine Note der Verbitterung aus ihrer Stimme rauszuhalten. „Einen anderen Beruf zu ergreifen?“
„Ich weiß nicht“, sagte Blaine mit einem Schulterzucken. „Du könntest sicher andere Dinge beim FBI machen, die nicht so… risikoreich sind. Du bist jetzt seit – was? – beinahe zwanzig Jahren eine Außendienstagentin? Ich weiß, dass du großartige Arbeit geleistet hast und ich bewundere deine Hingabe und deinen Mut. Aber warst du nicht lange genug in diesem Dienst? Denkst du nicht, dass du mehr verdienst?“
Er hörte wieder auf zu sprechen.
Riley sagte: „Mehr – Sicherheit, meinst du? Etwas weniger Gefährliches?“
Blaine nickte.
Riley wusste nicht, was sie sagen sollte. Natürlich hatte sie eine gewisse Auswahl an Aufgabenbereichen, sogar innerhalb der Verhaltensanalyseeinheit. Doch das würde große Veränderungen mit sich bringen. Sie konnte sich nicht vorstellen im Büro zu arbeiten und bloß die Beweislage durchzugehen, für die andere Agenten ihr Leben riskiert hatten. Obwohl sie es genossen hatte ab und zu mal Vorlesungen an der Akademie zu halten, dachte sie, dass es schwer sein würde in Vollzeit zu lehren. Rekruten ihre Fälle zu erklären würde sie bloß daran erinnern, womit sie sich nicht länger beschäftigen konnte. Sie konnte sich kein Leben vorstellen, in dem sie dem Bösen nicht von Angesicht zu Angesicht begegnete, trotz aller Gefahren.
Es würde bedeuten all das aufzugeben, worin sie wirklich gut war.
Doch wie konnte sie Blaine das erklären?
Dann sagte Blaine: „Ich hoffe du verstehst – es bin nicht ich, um den ich mir Sorgen mache.“
Riley verspürte einen scharfen Stich, als sie begriff.
„Ich weiß“, sagte sie.
Sie wusste wirklich, dass er das absolut ehrlich meinte. Und das sagte viel über Blaine selbst aus. Rileys Arbeit hatte Gefahren in sein eigenes Leben gebracht und er war ihnen mutig begegnet. Letzten Dezember war ein Verbrecher, der sich unbedingt an Riley rächen wollte, in ihr Haus eingedrungen, als sie nicht da gewesen war, und hatte versucht April und Gabriela umzubringen. Blaine war zu ihrer Rettung gekommen und wurde selbst schwer verletzt. Riley schüttelte es immer noch vor Grauen, wann immer sie daran dachte.
Blaine fügte hinzu: „Ich mache mir nicht einmal um dich Sorgen, oder zumindest größtenteils nicht um dich.“
„Ich weiß“, sagte Riley erneut.
Er musste es nicht erklären. Sie wusste, dass er sich um ihre Kinder Sorgen machte – um Rileys zwei Töchter und seine eigene jugendliche Tochter, Crystal.
Und sie wusste, er hatte allen Grund dazu, besorgt zu sein.
Egal wie viel Mühe sie sich gab, sie konnte nicht für ihre Sicherheit garantieren solange sie dieses Leben führte. In Wirklichkeit war wegen der Kriminellen, denen sie begegnet war, selbst wenn sie diese besiegt hatte, die Sicherheit aller um sie herum bedroht. Mehr als einmal waren Figuren aus ihrer Vergangenheit wieder aufgetaucht mit dem Versuch sich an ihr zu rächen.
Blaine öffnete etwa den Mund, so als würde er nach den richtigen Worten suchen.
Stattdessen sprach Riley: „Blaine, ich verstehe es. Wir müssen dieses Gespräch nicht führen. Wir haben es jetzt schon eine ganze Weile geführt, wir haben bloß nicht immer alles laut ausgesprochen. Ich verstehe es. Das tue ich wirklich.“
Sie schluckte laut und fügte hinzu: „Es wird nicht klappen – zwischen dir und mir.“
Im selben Moment, da sie die Worte aussprach, wurde sie von dem Verlustgefühl fast überwältigt.
Blaine nickte.
„Es tut mir leid“, sagte Riley.
„Dir muss nichts leidtun“, sagte Blaine.
Riley musste sich zurückhalten, um nicht zu sagen: „Oh, das tut es. Das tut es wirklich.“
Schließlich war es wegen ihrer eigenen Lebensentscheidungen, das Blaine sich so fühlte. Blaine hatte sein Bestes gegeben, um ihre Entscheidungen zu akzeptieren. Doch am Schluss war er wirklich nicht in der Lage gewesen, es zu tun. Und Riley wusste, dass sie niemanden dafür verantwortlich machen konnte, außer sich selbst.
Sie und Blaine schwiegen beide eine Weile. Sie saß auf der Couch und er ihr gegenüber in einem Sessel. Sie erinnerte sich, wie sie zum ersten Mal Händchen gehalten hatte, als sie auf dieser Couch hier gesessen hatten. Es war ein magischer Moment gewesen, in dem sie gedacht hatte, dass ihr Leben sich plötzlich zum Besseren gewendet hatte.
Sie wünschte, dass sie jetzt auch seine Hand ergreifen könnte. Doch sie wusste, dass die Distanz zwischen ihnen viel größer war, als die paar Zentimeter zwischen den zwei Möbelstücken.
In jedem Fall schienen sie eine Entscheidung getroffen zu haben. Sie war sich nicht sicher, welche Entscheidung genau das war, und sie bezweifelte auch, dass Blaine das wusste. Doch irgendetwas zwischen ihnen war beendet. Und es war unmöglich es wieder zurückzuholen.
Sie begannen sich zu unterhalten, ungeschickt und zurückhaltend, über dies und das. Blaine versicherte Riley, dass ihre Familie in seinem Restaurant immer auf ein kostenloses Essen herzlich willkommen war und dass er sich freuen würde sie alle zu sehen.
Und natürlich würden sie in engem Kontakt wegen ihrer Töchter bleiben. April und Crystal waren schließlich beste Freundinnen und sie würden einander oft besuchen. Das hier war nicht wie eine Scheidung. Sie würden sich immer nahestehen.
Blaine lächelte schwach und fügte hinzu: „Vielleicht wird sich also gar nicht so viel verändern.“
Riley blinzelte sich eine Träne aus den Augen und sagte: „Vielleicht.“
Doch das stimme nicht, und das wusste sie.
Dann sagte Blaine, dass er wohl zurück an die Arbeit sollte, also erhoben sich beide und küssten einander verlegen auf die Wange, bevor Blaine das Haus verließ.
Riley murmelte: „Es ist Zeit für einen Drink.“
Sie ging in die Küche und schenkte sich ein Glas Bourbon ein, ging dann zurück ins Wohnzimmer und setzte sich hin. Das Haus war gespenstisch still und Riley fühlte sich zutiefst allein gelassen. Und natürlich war sie wirklich allein, auch mit drei anderen Menschen in der Nähe. Für eine kurze Weile weinte sie leise.
Nachdem sie sich ihre Tränen weggewischt hatte und begann an ihren Bourbon zu nippen, versuchte sie die Erinnerungen an fröhlichere Tage aus ihrem Kopf zu verbannen. Doch irgendwie schaffte sie es nicht. Sie dachte an den Abend, an dem sie und Blaine sich zum ersten Mal auf einer Tanzfläche geküsst hatten, während eine Band auf seine Bitte hin ihr Lieblingslied spielte. Sie erinnerte sich an die Nacht, in der sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten.
Und sie dachte auch an die zwei Wochen, die sie, Blaine und ihre drei Mädchen zusammen in einem gemieteten Haus an der Küste von Sandbridge Beach verbracht hatten. Sie hatten sich damals wirklich wie eine Familie gefühlt. Insbesondere erinnerte sie sich an den beruhigenden, leisen Klang der Wellen an dem Abend, an dem Blaine ihr Architekturpläne gezeigt hatte, um sein eigenes Haus zu erweitern, sodass sie alle zusammen darin wohnen konnten.
Sie hatten wirklich aufrichtig darüber nachgedacht zu heiraten.
Das war erst vor etwa einem Monat.
Doch es kommt mir jetzt so weit weg vor.
Eine andere, unangenehmere Erinnerung, drängte sich nun in ihren Kopf. Es war als Blaine ihr an dem Morgen, nachdem sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, sagte: „Ich glaube, ich muss mir eine Waffe kaufen.“
Und natürlich hatte er dieses Bedürfnis wegen Riley verspürt und den Gefahren, die eine Beziehung mit ihr nach sich zog. Sie waren zum Waffenladen gegangen und hatten ihm eine Smith and Wesson 686 gekauft, und im Anschluss hatte Riley ihm seinen ersten Schießunterricht in der Schießhalle direkt vor Ort gegeben.
Riley lächelte ein bitteres Lächeln und dachte: Ich hoffe, er passt besser mit der Waffe auf, als April es mit ihrer getan hat.
Doch wozu brauchte er nun noch diese Waffe, jetzt, wo es vorbei war zwischen ihnen?
Was würde er damit machen?
Sie einfach irgendwo im Haus wegsperren und vergessen, dass er sie überhaupt besaß?
Oder würde er sie verkaufen?
Als sie über diese Fragen nachdachte, spürte sie, wie eine unerwartete Emotion in ihr hochkam. Ihr Atem und Puls wurden schneller und sie begriff überrascht: Ich bin wütend.
Sie kämpfte mit Selbstvorwürfen und Selbstzweifeln, seitdem Blaine hier gewesen war – eigentlich sogar schon vor seinem Besuch, als sie sich zumindest teilweise schuldig für Aprils Unfall mit der Pistole fühlte.
Doch war alles, was in ihrem Leben schief lief, wirklich ihre Schuld?
Riley knurrte leise, während sie einen weiteren Schluck Bourbon nahm.
So viele Enttäuschungen, dachte sie.
Sie war es leid sich an all diesen Enttäuschungen selbst die Schuld zu geben – einschließlich an dem Scheitern ihrer Ehe mit Ryan. War es wirklich ihre Schuld gewesen, dass Ryan ein untreuer, selbstsüchtiger Arsch gewesen war, ebenso wie ein schlechter Ehemann und Vater? Und war es ihre Schuld, dass April der Verantwortung, die eine Waffe mit sich brachte, nicht gewachsen war, oder das Jilly auf sie wütend war, dass sie selbst keine Waffe bekommen hatte?
Und war es wirklich ihre Schuld, dass Blaine sie nicht als die akzeptieren konnte, die sie wirklich war, dass er ihre Beziehung nicht fortführen wollte, außer sie verwandelte sich in jemanden, die sie unmöglich sein konnte? Als sie diese Hoffnungen hatte ein neues Leben mit ihm und seiner Tochter zu beginnen, hatte sie wirklich zu viel von ihm erwartet? Bedeutete wahre Verbundenheit nicht immer das Gute gemeinsam mit dem Schlechten zu akzeptieren?
Was es möglich, dass Blaine sie verriet und nicht andersherum?
Jetzt, wo Riley darüber nachdachte, gab es da doch etwas, was sie sich vorzuwerfen hatte. Es war ein einziger Fehler, den sie ihr gesamtes eben immer und immer wieder machte.
Ich vertraue den Menschen.
Und früher oder später brachen alle Menschen dieses Vertrauen, egal wie sehr sie sich ihrerseits bemühte all ihre Forderungen und Erwartungen zu erfüllen.
Dann hörte Riley Geräusche aus der Küche kommen. Gabriela war hochgekommen und hatte begonnen, das Abendessen zuzubereiten. Riley musste sich eingestehen, dass Gabriela die eine Person war, die sie nie enttäuscht hatte und nie ihr Vertrauen missbraucht hatte.
Und doch gab es Grenzen in ihrer Beziehung mit Gabriela. Obwohl Gabriela wie ein weiteres Familienmitglied war, war Riley doch Gabrielas Arbeitgeberin. Und daher konnten sie sich auch nur durch diesen Umstand begrenzt nahekommen, selbst freundschaftlich.
Gabriela begann in der Küche eine guatemalische Melodie zu summen und Riley konnte fühlen, wie ihre Wut begann abzuebben. Sie dachte sich, dass bald sie, Gabriela und die Kinder sich gemeinsam zu einem wundervollen Abendessen einfinden würden.
Selbst wenn sie kaum ein Wort miteinander reden würden, war das etwas Schönes.
Sie nahm einen weiteren Schluck Bourbon und murmelte: „Das Leben geht weiter.“
* * *Früh am nächsten Morgen wurde Riley vom Geräusch ihres vibrierenden Handys auf dem Nachttisch geweckt. Verschlafen griff sie nach dem Handy, wurde jedoch augenblicklich wach, als sie sah, dass der Anruf von ihrem Boss, Brent Meredith kam.
„Habe ich Sie geweckt, Agentin Paige?“, fragte Meredith in seiner tiefen, bebenden Stimme.
Riley wollte es beinahe verneinen, entschied sich jedoch schnell dagegen. Es war immer besser Meredith die Wahrheit zu sagen, selbst über so scheinbar bedeutungslose Kleinigkeiten. Es hatte das gruselige Vermögen selbst die kleinste Unaufrichtigkeit zu spüren. Und er mochte es wirklich nicht, belogen zu werden. Riley hatte das auf die harte Tour lernen müssen.
„Ja, aber das ist in Ordnung, Sir“, sagte Riley. „Was kann ich für Sie tun?“
„Ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht bereit sind, wieder in die Arbeit einzusteigen“, sagte Meredith.
Riley setzte sich im Bett auf, von Sekunde zu Sekunde immer wacher.
Was soll ich antworten? fragte sie sich.
Selbst nach dem gestrigen Abendessen war die Stimmung zwischen ihr und ihren beiden Töchtern immer noch angespannt. Die Mädchen waren immer noch beleidigt und distanziert. War es wirklich der passende Moment, um wieder an die Arbeit zu gehen? Sollte sie sich nicht etwas Zeit nehmen, um zu versuchen, die Dinge hier zuhause zu richten?
„Gibt es einen neuen Fall?“, fragte sie.
„Sieht ganz danach aus“, sagte Meredith. „Es hat in den vergangenen Wochen zwei Morde in der Vorstadt von Philadelphia gegeben. Wegen einiger Auffälligkeiten an beiden Tatorten, denkt die dortige Polizei, dass die Fälle etwas miteinander zu tun haben müssen und bittet uns um unsere Hilfe. Ich weiß, dass Sie sich von ihrer Verletzung erholten und ich will nicht – “
„Ich bin dabei“, unterbrach Riley ihn.
Die Worte waren draußen, bevor sie überhaupt wusste, dass sie sie ausgesprochen hatte.
„Es freut mich das zu hören“, sagte Meredith. Dann fügte er hinzu: „Agent Jeffreys ist immer noch beurlaubt. Ich werde Agentin Roston mit Ihnen zusammen auf den Fall ansetzen.“
Riley wollte beinahe wiedersprechen. Genau jetzt wollte sie wirklich ihren Langzeitpartner und besten Freund, Bill Jeffreys mit dabei haben, doch dann erinnerte sie sich an ihr letztes Telefonat. Er hatte ziemlich angespannt geklungen, und er hatte allen Grund dazu. Bill hatte auf den Mann geschossen, der Riley mit einem Eispickel angegriffen hatte – er hatte auf ihn geschossen und ihn getötet.
Es war nicht die erste Person, die Bill oder Riley über die Jahre bei der Ausübung ihrer Dienstpflichten getötet hatten, doch Bill nahm es dieses Mal mehr mit als sonst. Es war das erste Mal, das er Gewalt mit möglicher Todesfolge angewendet hatte, seitdem er letzten April versehentlich einen unschuldigen Mann angeschossen hatte. Der Mann hatte überlebt, aber Bill wurde immer noch von diesem Fehler verfolgt.
„Agentin Roston wird schon passen“, sagte Riley zu Meredith. Die junge Afro-Amerikanische Agentin war in den letzten Monaten zu Rileys Protegé geworden. Riley hatte eine hohe Meinung von ihr.
„Ich werde ein Flugzeug für Sie von Quantico nach Philly bereitstellen, sobald Sie beide hier sind“, sagte Meredith. „Wir treffen uns auf der Landebahn.“
Sie legten auf und Riley saß noch einige Momente auf dem Bett und starrte ihr Telefon an.
Habe ich die richtige Entscheidung getroffen? fragte sie sich.
Sollte sie wirklich einfach so davonfliegen, wenn hier Zuhause gerade alles so unsicher war?
Die Frage rief dieselbe Wut hervor, die sie schon gestern gespürt hatte.
Erneut ärgerte sie sich, so viel über die Wünsche und Bedürfnisse anderer nachdenken zu müssen – besonders da sie so oft vergaßen, an sie zu denken.
Sie könnte hier bleiben und ihr Bestes geben, um Jilly und April zu besänftigen, indem sie sich für Dinge entschuldigte, die eigentlich überhaupt nicht ihre Schuld waren, oder sie könnte da rausgehen und sich nützlich machen. Und in diesem Moment hatte sie einen Job zu tun – einen Job, den, wenn überhaupt, dann nur wenige so gut wie sie machen konnten.
Sie schaute auf die Uhr und sah, dass es immer noch sehr früh am Morgen war. Sie wusste, dass Gabriela bereits wach sein würde, um das Frühstück zuzubereiten, dass die Kinder aber immer noch schliefen. Riley war nicht danach, den Kindern ihre Entscheidung zu erklären, doch sie wusste, dass Gabriela es verstehen würde, wenn sie runtergehen und es ihr sagen würde. Riley konnte für den Weg etwas zu Essen mitnehmen und losfahren, und Gabriela würde es den Mädchen sagen, bevor sie sie zur Schule schickte.






