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Bald darauf kamen sie an der Adresse an, die man ihnen gegeben hatte. Riley parkte das Auto vor einem alten und eleganten Wohnhaus aus rotem Backstein. Sie stiegen aus dem Auto, liefen zum Eingang und klingelten bei der entsprechenden Wohnungsnummer. Als eine Frauenstimme sich über die Gegensprechanlage meldete, sagte Riley: „Ms. Tovar, ich bin Agentin Riley Paige vom FBI und hier mit meiner Partnerin, Jenn Roston. Wir würden gerne reinkommen und mit Ihnen sprechen, wenn sie nichts dagegen haben.“
Die Stimme stammelte: „FBI? Ich – ich hatte nicht erwartet…“
Nach einer Pause drückte die Frau den Buzzer und ließ Riley und Jenn rein. Riley und Jenn stiegen die Treppen hoch in den zweiten Stock und klopften an die Wohnungstür. Die Tür ging auf und brachte eine Frau Mitte Zwanzig zum Vorschein, die vor ihnen in einem Morgenmantel und Hausschuhen stand. Von Lori Tovars ausgemergeltem Gesicht konnte Riley nicht ablesen, ob sie bis vor kurzem geschlafen oder geweint hatte. Die Frau warf nicht mal einen richtigen Blick auf ihre Ausweise, dann bat sie Riley und Jenn einzutreten und sich zu setzen.
Als sie zu einer Sitzgruppe aus Sofas und Sesseln hinüberschritten, schaute Riley sich in der geräumigen Wohnung um. Im Gegensatz zum ehrwürdigen äußeren Erscheinungsbild des Hauses, was das Interieur der Wohnung schnittig und modern und es war offensichtlich, dass die Wohnung vor einigen Jahren saniert worden war.
Ebenso kam Riley die Wohnung merkwürdig leer und streng vor. Das Mobiliar sah teuer und geschmackvoll einfach aus, doch es gab nicht viel davon, und auch gab es nur wenige Bilder oder Dekorationen. Alles schien so…
Vorläufig, dachte Riley.
Es fühlte sich beinahe so an, als wären die Menschen, die hier lebten, nie wirklich angekommen.
Als Lori Tovar sich gegenüber von Riley und Jenn setzte, sagte sie: „Die Polizei hat mir so viele Fragen gestellt. Ich habe ihnen alles gesagt, was ich wusste. Ich kann mir nicht vorstellen…was Sie noch von mir wissen wollen könnten.“
„Lassen sie uns ganz am Anfang beginnen“, sagte Riley. „Wie haben Sie herausgefunden, was ihrer Mutter zugestoßen ist?“
Lori holte abrupt Luft.
Sie sagte: „Es war gestern, am späten Nachmittag. Ich bin einfach vorbeigekommen, um nach ihr zu schauen.“
„Haben Sie sie oft besucht?“, fragte Jenn.
Lori seufzte und sagte: „So oft es ging. Ich – Ich war so ziemlich die Einzige, die sie noch hatte. Dad hat sie vor ein paar Jahren verlassen und meine Brüder und Schwester leben alle zu weit weg. Gestern bin ich früh aus der Arbeit rausgekommen – ich bin eine Krankenschwester im South Hill Krankenhaus hier in Springett – also beschloss ich vorbeizufahren und zu sehen, wie es ihr geht. In letzter Zeit war sie ziemlich traurig.“
Lori starrte einen Moment lang ins Leere und fuhr dann fort: „Als ich dort angekommen war, habe ich die Haustür unverschlossen vorgefunden, was mich besorgte. Dann ging ich rein.“
Sie verstummte. Riley lehnte sich ein wenig zu ihr vor und sagte mit sanfter Stimme: „Haben Sie sie sofort entdeckt? Sobald Sie ins Haus gekommen sind, meine ich?“
„Nein“, sagte Lori. „Ich habe nach ihr gerufen, als ich reinkam, aber sie antwortete mir nicht. Ich bin hochgegangen, um zu schauen, ob sie ein Nickerchen machte, aber sie war nicht in ihrem Schlafzimmer. Ich habe gedacht – gehofft – dass sie mit ihren Freunden ausgegangen war. Ich bin wieder runtergekommen und…“
Lori runzelte nachdenklich die Stirn.
„Ich schaute ins Esszimmer und bemerkte, dass einer der Esstischstühle weg war. Das erschien mir merkwürdig. Ich habe einen Fleck am Küchentresen bemerkt und habe in die Küche geschaut und…“
Sie zuckte heftig zusammen und sprach angespannt weiter.
„Und dort lag sie auf dem Boden. Was danach geschah ist wie im Traum. Ich erinnere mich vage daran, den Notruf gewählt zu haben, dann gefühlt eine sehr lange Zeit gewartet zu haben, obwohl es wahrscheinlich nur ein paar Minuten waren. Dann war die Polizei da und…“
Ihre Stimme verstummte erneut.
Dann sprach sie ruhiger und sagte: „Ich weiß nicht, wieso ich in so einen Schockzustand geraten bin. Ich habe schreckliche Dinge in meiner Arbeit gesehen, besonders in der Notaufnahme. Schreckliche Wunden, viel Blut, Menschen, die in grauenhaften Schmerzen starben, oder sich wünschten zu sterben, bevor wir ihre Schmerzen lindern konnten. Ich habe immer damit umgehen können. Selbst als ich meine erste Leiche gesehen hatte, habe ich nicht so heftig reagiert. Ich hätte besser damit umgehen sollen.“
Jenn schaute verdutzt zu Riley rüber. Riley vermutete, dass Jenn von der scheinbaren Distanz in Loris Stimme überrascht war. Doch Riley konnte es ziemlich gut verstehen.
Über die Jahre hatte Riley es mit vielen Menschen zu tun gehabt, die mit noch frischen traumatischen Erfahrungen konfrontiert waren. Sie wusste, dass diese Frau immer noch versuchte die Realität dessen, was geschehen war, zu verarbeiten. Lori hatte bisher immer noch nicht ganz die Tatsache fassen können, dass ihre Mutter ermordet worden war, und nicht irgendein Notaufnahmepatient, den sie nie zuvor gesehen hatte.
Am allerwenigsten hatte Lori akzeptiert, dass ihr eigener Stoizismus Grenzen hatte.
Riley fragte sich, ob es wohl Menschen in Loris Leben gab, die ihr helfen würden, mit all dem klarzukommen.
Sie sagte zu Lori: „Soweit ich weiß, sind sie verheiratet.“
Lori nickte benommen.
„Roy ist Inhaber einer Wirtschaftsprüfungskanzlei hier in Springett. Er hatte mir angeboten, heute mit mir zuhause zu bleiben, aber ich habe ihm gesagt, dass ich auch alleine klarkomme und dass er zur Arbeit gehen soll.“
Dann fügte sie mit einem kleinen Schulterzucken hinzu: „Das Leben geht weiter.“
Riley schreckte hoch, als sie Lori dieselben Worte sagen hörte, die sie selbst laut ausgesprochen hatte, nachdem Blaine gestern das Haus verlassen hatte. Zu hören, wie jemand anders das sagte, war verstörend. Sie begriff, was für ein vollkommenes Cliché der Ausdruck war. Schlimmer noch, es stimmt nicht einmal.
Rileys ganzes Leben war um die schreckliche Tatsache herum aufgebaut, dass jedes Leben früher oder später mit dem Tod endete.
Wieso bestanden Menschen also auf dieser Redewendung?
Wieso hatte sie selbst sie gerade erst gestern verwendet?
Ich nehme an, es ist bloß eine dieser Lügen, an denen wir uns festkrallen.
Lori schaute hin und her zwischen Jenn und Riley und sagte: „Die Polizei hat mir gesagt, dass es vor einigen Wochen ein weiteres Opfer gegeben hatte – einen Mann, drüben in Petersboro.“
„Das stimmt“, sagte Jenn.
Lori fügte hinzu: „Sie haben gesagt, dass aus seiner Esszimmergarnitur ebenfalls ein Stuhl abhanden gekommen sei, genau wie bei Mom. Ich verstehe es nicht. Was bedeutet das? Wieso würde irgendjemand einen anderen Menschen wegen einem Esszimmerstuhl umbringen?“
Riley antwortete nicht, Jenn auch nicht.
Wie konnten sie diese Frage auch beantworten?
War es möglich, dass sie tatsächlich nach einem Irren fahndeten, der Menschen wegen ihrer Möbel umbrachte? Es erschien zu absurd, um es glauben zu können. Doch sie wussten noch so wenig zu diesem Zeitpunkt ihrer Ermittlungen.
Jenn stellte die nächste Frage.
„Hatte ihre Mutter zufällig einen Justin Selves aus Petersboro gekannt?“
„War das das andere Opfer?“, fragte Lori.
Jenn nickte.
Loris Augen wurden schmal und sie sagte: „Der Name kommt mir nicht bekannt vor. Ich weiß nicht, ob sie Freunde oder Bekannte außerhalb von Springett hatte. Ich habe ihr immer wieder gesagt, dass sie nicht genug rauskäme. Sie verbrachte nicht genug Zeit mit Leuten.“
Riley sagte: „So wie ich verstehe, hat sie also nicht außerhalb des Hauses gearbeitet.“
Lori sagte: „Nein, sie lebte von den Zahlungen ihrer Scheidungsvereinbarung.“
Jenn fragte: „Ist ihre Mutter… mit jemandem ausgegangen?“
Lori kicherte traurig.
„Um Gottes Willen, nein. Ich glaube, sie hätte es mir gesagt. Sie hat das Haus selten verlassen, außer um ab und zu in die Kirche zu gehen. Oh, und sie ist auch zu den Bingoabenden an der Kirche gegangen. Die hat sie nie verpasst. Jeden Freitag gibt es einen Spieleabend in der Westminster Presbyterian Kirche. Sie hat mich mal mit Cupcakes bewirtet, die sie eines Abends dort gewonnen hatte. Sie hatte sich sehr darüber gefreut.“
Lori schüttelte den Kopf und sagte: „Sie verbrachte zu viel Zeit alleine. Das Haus war zu groß für sie. Ich habe ihr immer wieder gesagt, sie solle in eine kleinere Wohnung ziehen. Sie wollte nicht auf mich hören.“
„Was passiert nun mit dem Haus?“, fragte Jenn.
Lori seufzte und sagte: „Meine Schwester, meine Brüder und ich werden es erben. Das wird ihnen wohl nicht viel bedeuten. Da sie alle so weit weg wohnen, wird es jetzt wohl eigentlich mir gehören.“
Dann wurden ihre Augen schmal, so als ob ihr auf einmal ein besonders dunkler Gedanke gekommen war.
„Das Haus wird mir gehören“, wiederholte sie. „Und Roy.“
Sie erhob sich hastig aus ihrem Sessel.
„Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich jetzt gerne keine weiteren Fragen mehr beantworten.“
Riley spürte, dass sich Loris geistige Verfassung plötzlich verändert hatte. Sie schaute sich erneut in der großen, aber merkwürdig leeren Wohnung um und erinnerte sich dann an das geräumige Haus, in dem das Opfer ermordet wurde. Und da begann ihr etwas klar zu werden.
Jenn beugte sich vor und sagte: „Ma’am, wenn Sie uns nur noch ein paar Minuten Ihrer Zeit geben könnten —“
„Nein“, unterbrach Lori. „Nein. Ich würde jetzt gerne allein sein.“
Riley konnte sehen, dass auch Jenn die Veränderung in Loris Verhalten bemerkt hatte. Riley wusste auch, dass ihre Partnerin auf Antworten drängen würde – womöglich auf eine zu aggressive Art und Weise.
Riley erhob sich und sagte: „Wir danken Ihnen für ihre Zeit, Ms. Tovar. Unser herzliches Beileid.“
Die Frau seufzte und sagte: „Danke.“ Dann fügte sie erneut hinzu: „Das Leben geht weiter.“
Wenn das nur stimmen würde, dachte Riley. Oder zumindest nicht so kurzweilig wäre.
Als sie und ihre Partnerin die Wohnung verließen und die Stufen hinunterstiegen, beschwerte Jenn sich: „Wieso sind wir gegangen? Da war was, was sie uns nicht sagen wollte.“
Ich weiß, dachte Riley.
Doch sie hatte keinerlei Absicht Lori Tovar dazu zu zwingen ihnen zu sagen, was es war.
„Ich erkläre es dir im Auto“, sagte Riley.
Kapitel fünf
Als Riley von Lori Tovars Wohnhaus davonfuhr, stellte sie fest, dass ihre junge Partnerin immer noch aufgeregt war. Jenn war bereits den ganzen Tag ziemlich aufbrausend gewesen und Riley hatte zunehmend weniger Geduld mit ihrer Einstellung.
„Wozu die Eile?“, grummelte Jenn. „Wieso hast du uns so hastig dort rausbefördert?“
Als Riley nicht sofort antwortete, fragte Jenn: „Und wo fahren wir überhaupt hin?“
„Etwas essen“, sagte Riley schulterzuckend. „Ich habe seit dem Frühstück nichts gegessen, ich hab Hunger. Du nicht?“
„Ich finde wir sollten zurückfahren“, sagte Jenn. „Lori Tovar hat uns nicht alles gesagt, was sie weiß.“
Riley lächelte düster.
„Was meinst du, was sie uns nicht gesagt hat?“, fragte sie.
„Ich weiß es nicht“, sagte Jenn. „Das ist was ich herausfinden möchte. Du etwa nicht? Manchmal können Zeugen wichtige Details verschweigen. Vielleicht weiß sie etwas von einer Verbindung zwischen ihrer Mutter und einem möglichen Verdächtigen – etwas, was sie uns aus irgendeinem Grund nicht sagen wollte.“
Riley entgegnete: „Oh, es gab da ganz gewiss etwas, was sie uns nicht sagen wollte. Aber es war nichts, was wir wissen müssten. Es hatte nichts mit dem Fall zu tun.“
„Woher weißt du das?“, fragte Jenn.
Riley unterdrückte einen Seufzer. Sie sagte sich, dass sie nicht genervt darüber sein sollte, dass Jenn nicht dieselben Signale bemerkt hatte, wie sie. Riley selbst hätte sie in Jenns Alter wahrscheinlich ebenfalls übersehen. Trotzdem musste Jenn lernen, die Leute besser zu einzuschätzen. Oft war sie überstürzt im Beschuldigen.
Sie sagte: „Sag mal, Jenn – wie war dein Eindruck von Lori Tovars Wohnung?“
Jenn zuckte mit den Schultern. „Sie sah ziemlich teuer aus. Die Art Wohnung, in der ein erfolgreicher Wirtschaftsprüfer und seine Frau leben würden. Aber sehr schlicht. Kontemporär, so würde man es wohl nennen können.“
„Würdest du sagen, dass Lori und ihr Mann dort besonders niedergelassen zu sein schienen?“
Jenn überlegte einen Moment und sagte dann: „Jetzt wo du es sagst, wahrscheinlich nicht. Es schien fast so, als ob – ich weiß nicht, als hätten sie vielleicht nicht besonders viel außer der Grundausstattung gekauft. Ich meine, ich glaube, dass sie die Wohnung nicht wirklich individuell gestaltet haben. So, als hätten sie erwartet, dass sie nicht besonders lange dort wohnen würden.“
Riley sagte: „Und was meinst du, wieso könnte das so sein?“
Als Jenn nicht antwortete, bohrte Riley nach: „Welche Pläne könnte ein solches Paar für die nahe Zukunft denn haben, deiner Meinung nach?“
„Kinder kriegen“, sagte Jenn.
Es folgte eine Pause, dann fügte Jenn hinzu: „Oh, ich glaube ich verstehe. Sie hatten nicht vor, Kinder zu bekommen, solange sie noch in dieser Wohnung lebten. Sie wollten irgendwo anders hinziehen, was besser für eine Familie passt. Lori hatte gehofft, dass sie das Haus ihrer Mutter bekommen würde. Und jetzt…“
Riley nickte und sagte: „Und jetzt bekommt sie genau das, was sie sich gewünscht hatte.“
Jenn japste entsetzt.
„Mein Gott! Ich kann mir nicht vorstellen, wie schuldig sie sich fühlen muss!“
„Zu schuldig, um jemals in dem Haus leben zu können, denke ich“, sagte Riley. „Sie und ihre Geschwister werden das Haus wahrscheinlich verkaufen müssen, zusammen mit all den wundervollen Kindheitserinnerungen. Und Lori und ihr Ehemann werden noch länger mit dem Kinderkriegen warten müssen, bis sie ein anderes Traumhaus gefunden haben. Das wird sehr schwer für sie sein.“
„Kein Wunder, dass sie nicht darüber reden wollte“, sagte Jenn.
„Eben“, sagte Riley. „Und es geht uns wirklich auch nichts an.“
„Es tut mir leid“, sagte Jenn. „Ich bin wirklich blöd gewesen.“
„Du musst einfach nur lernen, aufmerksamer zu Menschen zu sein“, sagte Riley. „Und das beinhaltet mehr als bloß Informationen aus ihnen herauszuquetschen. Es bedeutet, in der Lage zu sein, ihre Situation nachzufühlen. Es bedeutet, ihre Gefühle zu respektieren.“
„Ich werde versuchen, daran zu denken“, sagte Jenn leise.
Riley fühlte sich erbaut davon, dass Jenn nicht versuchte sich zu verteidigen. Es schien überhaupt so, als hätte ihre Partnerin ihre komische Laune von vorhin überwunden. Vielleicht, dachte Riley sich, würden sie doch ganz gut zusammenarbeiten.
Riley fuhr ins Downtown Springett hinein und parkte auf der Hauptstraße. Sie und Jenn stiegen aus und liefen, bis sie ein nettes kleines Restaurant gefunden hatten. Sie gingen hinein, setzten sich in eine ziemlich leere Ecke und bestellten Sandwiches.
Während sie auf ihr Essen warteten, fragte Jenn: „Wo stehen wir jetzt also?“
„Ich wünschte, ich wüsste es“, sagte Riley.
„Uns fehlen die Zeugen“, sagte Jenn. „Es wäre hilfreich, wenn jemand – ein neugieriger Nachbar, vielleicht – den Mörder gesehen hätte, als er zum Haus gekommen ist, oder zumindest sein Auto gesehen hätte. Wir brauchen irgendeine Beschreibung. Aber während du dich im Haus umgeschaut hast, habe ich die beiden Polizeichefs gefragt, ob sie die Nachbarn der Opfer vernommen hatten. Das haben sie, und niemand von denen hat irgendetwas gesehen. Es gab auch keine Sicherheitskameras an den passenden Stellen.“
Riley wusste das bereits aus den Polizeiberichten, die sie gelesen hatte.
Jenn fuhr fort: „Was wir wissen ist, dass in beiden Fällen nicht eingebrochen wurde. Was sagt uns das?“
„Ich bin mir nicht sicher“, sagte Riley. „Lori Tovar zufolge hatte ihre Mutter vielleicht auch nur vergessen, die Tür abzuschließen. Der Mörder könnte sie überraschend überfallen haben, sobald er drin war.“
Jenn sagte: „Am ersten Tatort war es anders. Justin Selves wurde direkt neben der Eingangstür überfallen und umgebracht. Vielleicht ist der Mörder zur Tür gekommen und hat geklingelt oder geklopft, Selves hat ihm die Tür aufgemacht und ihn direkt reingelassen.“
„Dasselbe konnte Joan Cornell passiert sein“, stimmte Riley zu.
Jenn sagte: „Ja, vielleicht hat sie sogar eine Weile mit dem Mörder geplaudert, bevor er sie umgebracht hat. Also hast du wohl Recht, dass die Opfer ihren Mörder bereits kannten und ihm vertraut haben.“
„Vielleicht“, sagte Riley. „Aber es ist trotzdem möglich, dass es ein komplett Fremder war, wahrscheinlich bloß kein zufälliger Einbrecher. Vergiss nicht, viele Psychopathen sind überaus charmante Personen. Vielleicht haben die zwei Opfer ihm vertraut, sobald sie ihn zum ersten Mal an der Tür gesehen haben. Vielleicht erschien er ihnen wie ein ganz liebenswerter Mann, der vorgab eine Umfrage zu machen oder so. Also haben sie ihn einfach reingelassen.“
Jenn sagte: „Naja, dieser Mörder geht sehr gewagt vor, soviel ist sicher. Einfach so am helllichten Tage in diese Häuser rein zu spazieren ist ziemlich dreist. Meinst du wir sollten uns den ersten Tatort auch mal ansehen?“
„Ich glaube nicht, dass wir dort irgendetwas herausfinden werden“, sagte Riley. „Es ist ganze zwei Wochen her und zu der Zeit dachte die Polizei noch, dass es ein schief gelaufener Einbruch war. Dort wurde mittlerweile alles aufgeräumt.“
„Du hast recht, dort wird es nichts mehr zu sehen geben“, sagte Jenn. „Nichts, was die Fotos nicht bereits abbilden.“
Riley sagte: „Was wir aber wissen, ist das Selves‘ Sohn die Leiche entdeckte. Wir sollten auf jeden Fall mit ihm sprechen.“
Riley öffnete die Polizeiberichte auf ihrem Computer und fand die Telefonnummer des Sohns. Dann rief sie ihn von ihrem Handy aus an und stellte den Anruf auf laut, so dass Jenn auch mithören konnte.
Der junge Mann hieß Ian und schien überaus begierig danach, mit ein paar FBI Agentinnen zu sprechen.
„Was mit Dad passiert ist, hat mich in den letzten Wochen verrückt gemacht“, sagte er. „Besonders jetzt, wo die Polizei heute morgen anrief und mit mitteilte, dass dasselbe jemand anderem drüben in Springett widerfahren sei. Diesmal wurde eine Frau ermordet. Ich kann es nicht glauben. Was zur Hölle geht da vor sich?“
„Wir hoffen, dass Sie uns dabei helfen können, das herauszufinden“, sagte Riley. „Wir würden ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Gibt es einen Ort, an dem wir uns treffen könnten? Wir befinden uns selbst gerade in Springett.“
„Naja, ich bin Student an der Temple University und habe gerade Vorlesungen auf dem Campus. Ich nehme nicht an, dass sie durch ganz Philly fahren wollen, nur um mit mir zu sprechen. Können wir einfach Skypen?“
Das klang Riley nach einer guten Idee. Ein paar Momente später saßen Riley und Jenn nebeneinander an ihrem Tisch und sprachen mit Ian Selves von Angesicht zu Angesicht. Die Bedienung brachte ihre Sandwiches, doch sie schoben sie erst einmal zur Seite.
Riley bemerkte sofort, dass Ian das angenehme Gesicht eines Bücherwurms hatte, welches sie an einige der Labortechniker erinnerte, mit denen sie in der Verhaltensanalyseeinheit oft zusammenarbeitete. Er sah um die Achtzehn oder Neunzehn aus und Riley schätzte, dass er wohl Physik oder Informatik im zweiten Jahr studierte.
Jenn stellte ihm dieselbe Frage, die Riley zu Beginn ihrer Befragung an Lori Tovar gerichtet hatte. „Wie haben Sie erfahren, was mit ihrem Vater passiert ist?“
Ian sagte: „Naja, Sie wissen wahrscheinlich, dass Dad ein Kundenberater in einer Bank in Petersboro war. Einmal die Woche haben wir uns während seiner Mittagspause zum Mittagessen getroffen. Er fuhr von der Arbeit nach Hause und ich kam vorbei und holte ihn ab und dann fuhren wir dort hin, wo wir essen wollten.“
Riley freute sich über Ians Klarheit. Im Gegensatz zu Lori Tovar hatte er zwei Wochen gehabt, um das, was passiert war, zu verarbeiten, und er konnte ruhig darüber sprechen.
Ein besserer Zeuge, dachte sie.
Ian fuhr fort: „Ich habe vor dem Haus gehalten und gehupt, aber Dad ist nicht rausgekommen. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Also bin ich ausgestiegen und rüber zur Haustür gelaufen und habe geklopft. Er hat nicht aufgemacht.“
Ian schüttelte den Kopf.
„Da fing ich wirklich an, mir Sorgen zu machen. Wenn Dad andere Pläne gemacht hätte, hätte er mir das ganz bestimmt gesagt. Ich begriff, dass irgendetwas wirklich passiert sein musste. Also öffnete ich die Tür und…“
Ian erschauderte sichtbar bei dem Gedanken.
„Da lag er, direkt auf dem Boden.“
Jenn fragte: „Was haben Sie dann gemacht?“
„Naja, ich glaube ein paar Minuten lang war ich in Panik. Aber sobald ich mich zusammenreißen konnte, habe ich 9-1-1 angerufen. Dann habe ich meine Mom angerufen. Sie arbeitet in einem Damenmodegeschäft – Rochelle’s Boutique. Ich habe ihr gesagt, dass Dad etwas zugestoßen sei. Sie hat sofort begriffen, dass ich meinte, dass Dad tot war. Ich habe ihr nicht gesagt, wie und wieso. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich es ja auch selbst noch nicht wirklich begriffen.“
Ian seufzte und fuhr fort. „Sie hatte einen Nervenzusammenbruch am Telefon. Ich wusste, dass es wirklich schlimm wäre, wenn sie direkt nach Hause kommen würde. Ich habe ihr gesagt, dass sie nach der Arbeit zu ihrer Schwester fahren und dort auf mich warten solle, bis ich wirklich alles erklären könnte. Also war sie nicht zuhause, als die Polizei kam und alle möglichen Fragen stellte und als der Gerichtsmediziner den Leichnam wegbrachte. Ich glaube, das war wahrscheinlich auch besser so.“
Ja, ich bin mir sicher, das war es, dachte Riley sich.
Sie war beeindruckt von der Fähigkeit des jungen Mannes einen kühlen Kopf zu behalten inmitten solch eines traumatischen Geschehnisses.
Jenn fragte ihn: „Wann haben sie gemerkt, dass ein Esszimmerstuhl fehlte?“
Ian sagte: „Naja, wie sie wissen, haben die Cops gedacht, dass es sich um einen misslungenen Einbruch handelte. Dass der Typ vielleicht nicht erwartet hatte, dass jemand zuhause sei, und dann überrascht war, dass mein Dad doch da war.“
Er strich sich übers Kinn und fügte hinzu: „Also haben mich die Cops an Ort und Stelle gefragt, ob irgendwelche Wertgegenstände fehlten. Ich bin durchs ganze Haus gelaufen und habe alles überprüft, was mir in den Kopf kam – Computer, Fernseher, Moms Schmuck, das Silberbesteck und das Porzellan, all solche Sachen. Schließlich habe ich den fehlenden Stuhl bemerkt.“
Er schielte ungläubig.
“Die Cops haben mir diesen Morgen gesagt, dass dem anderen Opfer auch ein Stuhl geklaut wurde. Das macht keinen Sinn. Wieso würde jemand einen anderen Menschen wegen einem Stuhl umbringen?“
Riley dachte an Lori Tovar, die dieselbe Frage gestellt hatte. Sie hatte immer noch keine Ahnung, was die Antwort war.
Jenn fragte Ian: „Das andere Opfer hieß Joan Cornell. Hat Ihr Vater jemals diesen Namen erwähnt?“
Ian schüttelte den Kopf.
„Ich glaube nicht, aber ich bin mir nicht sicher. Er war ziemlich extrovertiert. Mom ist zurückhaltender, eine echte Stubenhockerin. Aber Dad ist oft ausgegangen und hat sich mit Freunden getroffen, hat Bridge und Softball gespielt, war in einem Bowlingverein und nahm an einem Aerobic Kurs teil. Er kannte also viele Leute. Er mag den Namen einmal erwähnt haben, und ich habe es vergessen.“
In Rileys Kopf begann sich eine Idee zu formen.
„Hat er jemals Bingo gespielt?“, fragte sie.
Ians Augen weiteten sich ein wenig.
„Jetzt wo Sie es erwähnen, ja“, sagte er. „Es war an irgendeiner Kirche. Er war eigentlich kein Kirchgänger, deshalb glaube ich, dass er einfach wegen der Spiele dort hinging.“
„Hatte er gesagt, um welche Kirche es sich handelte?“, fragte Jenn.
Er schwieg einen Moment lang und sagte dann: „Nein, ich kann mich nicht daran erinnern, dass er das jemals erwähnt hätte. Aber eines Tages hat er mir gesagt, dass er dort nicht mehr hingehen wollte.“
„Hat er gesagt, wieso?“, fragte Riley.
„Nein.“
Riley und Jenn tauschten einen flüchtigen Blick.
Jenn fragte: „Wie lange ist das her, das er ihnen das sagte?“
Ian zuckte mit den Schultern und sagte: „Ich glaube, es war ein paar Tage bevor er ermordet wurde.“
„Danke für Ihre Zeit“, sagte Riley. „Sie haben uns sehr geholfen.“
„Und unsere aufrichtige Anteilnahme für Ihren Verlust“, fügte Jenn hinzu.
„Danke“, sagte Ian. „Ich verarbeite es ganz ok, glaube ich, aber für Mom ist es wirklich schwer. Ich bin ihr einziges Kind und es ist richtig schwierig für sie jetzt alleine in diesem Haus zu leben. Ich habe ihr angeboten ein Urlaubssemester einzulegen und bei ihr zu sein, aber sie will nichts davon hören. Ich mache mir viele Sorgen um sie.“





