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„Kann ich kurz darüber nachdenken?“
„Kate, ich brauche jetzt eine Antwort. Ich muss dem dortigen Police Department und dem Chicago FBI-Büro sagen, wo sie stehen.“
Im Herzen war ihr klar, was sie wollte. Sie wollte den Fall übernehmen. Ganz dringend wollte sie den Fall übernehmen. Und wenn sie das zur Egoistin machte… dann… ja, na und? Die Familie an erster Stelle zu setzen und sich selbst die Möglichkeit zu versagen, ein eigenes Leben zu führen, das war auch nicht das Wahre. Wenn sie diese Gelegenheit nicht wahrnahm, nur um in letzter Minute auf ihre Enkelin aufzupassen, dann würde sie sowohl gegen Melissa als auch gegen Michelle einen Groll hegen. Es tat weh, sich diese Tatsache einzugestehen, aber es war nun einmal die ungeschorene Wahrheit.
„Ja, in Ordnung, ich bin dabei. Haben Sie schon Flugdaten für mich?“
„Darum kümmert sich DeMarco“, sagte Duran. „Sie wird sich in Kürze mit Ihnen in Verbindung setzen.“
Kate beendete das Gespräch. Ihr Blick glitt zu Alan und Michelle. Sein angespannter Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass er das Gespräch mit angehört hatte.
„Wann reist du ab?“, fragte er.
„Das weiß ich noch nicht. DeMarco kümmert sich um die Flüge. Irgendwann heute Abend. Alan … es tut mir leid.“
Er sagte nichts und blickte weg, als er sich mit Michelle auf dem Sofa niederließ. „Es ist nun einmal, wie es ist“, sagte er schließlich. „Fühl dich nicht schlecht deshalb … ich habe hier ein ziemlich heißes Date.“
„Sei nicht albern, Alan. Ich rufe Melissa an und erkläre es ihr.“
„Nein. Wenn die beiden eine Pause brauchen, dann sollen sie sie haben. Wie du weißt, bin ich durchaus in der Lage, auf die Kleine hier aufzupassen.“
„Alan, darum kann ich dich nun wirklich nicht bitten!“
„Und das würdest du auch nie tun. Und genau deshalb biete ich mich freiwillig an.“
Kate kam zum Sofa herüber und setzte sich. Sie ließ ihren Kopf an seine Schulter sinken. „Weißt du eigentlich, wie unglaublich du bist?“
Er zuckte die Schultern. „Weißt du es denn?“
„Wie meinst du das?“, fragte sie, da sie den Ärger in seinem Tonfall hörte.
„Ich meine diese Sache mit dir und deiner Arbeit. Es sollte eine gelegentliche Sache sein, richtig? Und in aller Fairness muss ich sagen, dass es bisher auch so war. Aber wenn die Arbeit ruft, ist alles andere egal. Sie verlangen, dass du alles stehen und liegen lässt und sofort angerannt kommst, wann immer sie dich anrufen.“
„Das ist nun einmal Teil des Jobs.“
„Ein Job, von dem du vor zwei Jahren pensioniert wurdest. Vermisst du ihn wirklich so sehr?“
„Alan … das ist nicht fair.“
„Vielleicht nicht. Ich behaupte nicht, dass ich nachvollziehen kann, welche Anziehungskraft dieser Job auf dich ausübt. Aber ich stehe in derselben Ecke wie Melissa und Michelle. Das, was ich gewillt bin hinzunehmen, hat seine Grenzen.“
„Wenn es dir so wichtig ist, dann werde ich diesen Job nicht annehmen. Ich werde Duran anrufen und—“
„Nein. Du musst ihn annehmen. Ich möchte nicht, dass du es später an mir oder deiner Tochter auslässt, wenn du diese Gelegenheit vorüber ziehen lässt. Deshalb geh, nimm ihn an. Aber lass dir von jemandem, der sich mehr und mehr in dich verliebt, gesagt sein, dass du dich auf einige ernsthafte Gespräche gefasst machen musst, wenn du zurück bist. Mit mir, mit deiner Tochter, und vielleicht auch mit dir selbst.“
Kates erste Reaktion darauf war Ärger und Ablehnung. Doch vielleicht hatte er recht. Hatte sie nicht schließlich gerade eben noch festgestellt, dass ihre Entscheidung an Egoismus grenzte? In drei Wochen wurde sie sechsundfünfzig. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, hinsichtlich ihres Jobs einige Grenzen zu ziehen. Und wenn das bedeutete, dass ihre kleine, spezielle Vereinbarung mit Duran zum einem Ende kam, dann war das eben so.
„Alan … ich möchte, dass du ehrlich zu mir bist. Wenn ich diesen Fall übernehme und das eine Belastung für unsere Beziehung bedeutet …“
„Nein, das tut es nicht. Nicht diesmal. Aber ich weiß nicht, wie lange ich das in Zukunft noch mitmachen kann.“
Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, jedoch klingelte in diesem Augenblick ihr Telefon und unterbrach sie. Sie blickte auf das Display und sah, dass es Kristen DeMarco war, die junge Frau, die seit einem Jahr ihr Partner und bei diesem kleinen beruflichen Experiment mit dem FBI immer an ihrer Seite war.
„Das ist DeMarco“, sagte Kate. „Ich brauche die Flugdaten.“
„Schon in Ordnung“, sagte Alan, „du brauchst dafür nicht mein Einverständnis.“
Was sie nicht sagte, jedoch dachte, war: Warum habe ich dann das Gefühl, dass ich es dennoch brauche?
Es war keine Frage, mit der sie sich im Moment auseinander setzen wollte. Und, wie sie es während der letzten Monate schon so oft getan hatte, wenn sie sich solchen Fragen gegenüber sah, wendete sie ihre Aufmerksamkeit der Arbeit zu. Mit einem leichten Schuldgefühl nahm sie das Gespräch entgegen.
„Hey, DeMarco. Wie läuft’s?“
Kapitel zwei
Sowohl Kate als auch DeMarco waren in der Lage, auf dem Flug von Washington DC nach Chicago, der in aller Herrgottsfrühe ging, ein wenig zu schlafen. Doch zumindest was Kate anging, war es bestenfalls ein sehr unruhiges Nickerchen gewesen. Sie fühlte sich gerädert, als sie um 6:15 Uhr während des Landeanflugs auf Chicago erwachte. Ihre ersten Gedanken galten Melissa, Michelle und Alan. Wie ein Ziegelstein schlugen die Schuldgefühle ein, während sie Chicago im sanften Licht der Dämmerung durch das Flugzeugfenster betrachtete.
Die ersten Momente in Chicago verbrachte sie damit, sich schwere Vorwürfe zu machen. Es wurde ein bisschen besser, als sie und DeMarco durch den Terminal auf den Schalter der Autovermietung zugingen.
Jetzt, da sie nach Frankfield, einer Kleinstadt in Illinois, fuhren, waren die Schuldgefühle kaum mehr als ein Geist in ihrem Kopf, komplett mit rasselnden Ketten und knarrenden Dielen.
DeMarco saß hinterm Steuer und nippte an ihrem Starbucks-Kaffee, den sie sich im Flughafen O’Hare besorgt hatte. Sie warf Kate einen Blick zu, die aus dem Fenster starrte, und stieß sie an.
„Okay, Wise“, sagte DeMarco, „hier im Raum steht ein großer, fetter Elefant, und er stinkt. Was ist los? Du siehst furchtbar aus.“
„Sind wir schon auf dem lass-uns-unsere-Herzen-ausschütten-Level?“
„Sind wir das nicht immer?“
Kate setzte sich aufrechter hin und seufzte. „Ich habe gerade Michelle gebabysittet, als ich bemerkte, dass ich einen Anruf von Duran verpasst habe. Ich bin einfach auf und los. Und noch schlimmer ist es, dass ich sie Alan überlassen habe, weil Melissa und ihr Mann gerade dabei sind, ihre Probleme durchzukauen. Die ganze Sache wurmt mich.“
„Ich persönlich bin froh, dass du hier bist“, meinte DeMarco. „Aber du hättest einfach Nein sagen können. Du hast doch keinen wirklichen Vertrag, oder?“
„Nein, habe ich nicht. Aber nein zu sagen ist nicht so einfach, wie du vielleicht glaubst. Ich befürchte, dass ich zu viel investiere. Ich glaube, ich definiere mich über diesen Job.“
„Großmutter zu sein reicht dir nicht?“, fragte DeMarco.
„Doch, natürlich. Aber ich … ich weiß auch nicht recht.“
Ihre Worte verloren sich und DeMarco fiel in das Schweigen mit ein … zumindest einen Moment lang. „Also, dieser Fall hier“, begann sie, „sieht ziemlich unkompliziert aus, richtig? Hast du schon die Akten gelesen?“
„Hab ich. Der Tathergang scheint ziemlich klar zu sein. Doch ohne Spuren oder Hinweise oder auch nur die leisesten Vorschläge der Polizei vor Ort wird die Lösung dieses Falls eine Herausforderung sein.“
„Also … das jüngste Opfer ist eine vierundfünfzigjährige Frau. Sie war nachmittags vor zwei Tagen allein zu Hause. Es gibt keine Anzeichen von einem gewaltsamen Eindringen. Sie ist von ihrem Mann entdeckt worden, als er von der Arbeit nach Hause kam. Sieht nach einer brutalen Strangulierung aus, die tief in ihren Hals geschnitten hat.“
„Und genau das könnte ein Anhaltspunkt sein“, meinte Kate. „Womit erwürgt man jemanden, und schneidet dabei tief in ihren Hals?“
„Stacheldraht?“
„Dann wäre da mehr Blut gewesen“, hielt Kate dagegen. „Der Tatort wäre mehr als nur ein bisschen blutig.“
„Und in den Berichten steht, dass er ziemlich sauber war.“
„Das erklärt auch, warum das Police Department vor Ort solche Probleme hat. Aber irgendwo müssen wir anfangen, richtig?“
„Dann lass uns das mal genauer ansehen“, sagte DeMarco, verlangsamte das Tempo und nickte geradeaus. „Wir sind da.“
* * *Ein einzelner Polizeibeamter wartete auf sie, als sie auf die U-förmige Auffahrt fuhren. Es saß in seinem Wagen und trank aus einem Kaffeebecher. Als Kate und DeMarco sich seinem Wagen näherten, nickte er ihnen höflich zu. Er trug Uniform und aufgrund seines sternförmigen Abzeichen war klar, dass er der Sheriff war. Kates Meinung nach hielt er diese Position nicht mehr lange. Er ging locker auf die Sechzig zu, was vor allem anhand seiner Augenbrauen und seiner fast komplett grauen Haare offensichtlich war.
„Agents Wise und DeMarco“, sagte Kate und zeigte ihre FBI-Marke.
„Sheriff Bannerman“, sagte der alternde Polizist. „Schön, dass Sie da sind. Dieser Fall stellt uns alle vor ein Rätsel.“
„Könnten Sie bitte mit uns hineingehen und uns über die Details aufklären?“, bat Kate.
„Natürlich.“
Bannerman ging voran auf die spärlich dekorierte Veranda. Die Einrichtung drinnen war ebenso minimalistisch gehalten wie draußen und ließ das ohnehin schon große Haus noch größer wirken. Sobald sie durch die Haustür traten, standen sie in einem gefliesten Foyer, das in einen großen Flur überging, von wo aus eine gewundene Treppe in das obere Stock führte. Bannerman führte sie den Flur hinunter und nach rechts. Sie betraten einen großen Raum, dessen hintere Wand von einem einzigen, großen Bücherregal eingenommen wurde. Ansonsten gab es nur ein elegantes Sofa und ein Klavier.
„Das Arbeitszimmer des Opfers ist hier hindurch“, sagte Bannerman und führte sie durch den Raum in einen Bereich, der genauso gefliest war wie das Foyer. Ein einfacher Schreibtisch stand an der Wand. Rechter Hand sah man durch ein Fenster auf einen winzigen Gemüsegarten hinaus. Aus einer großen Vase in der Ecke schauten Zweige einer Baumwollpflanze hervor. Es war ein simples Arrangement und ganz offensichtlich künstlich, passte jedoch sehr gut zu dem Raum.
„Der Leichnam wurde beim Schreibtisch entdeckt, genau in diesem Stuhl“, sagte Bannerman. Dabei nickte er in Richtung des einfachen Schreibtischs. Es war allerdings die Art von einfach, die normalerweise ein beachtliches Preisschild trägt. Allein bei dem Anblick begann Kates Körper zu kribbeln.
„Das Opfer heißt Karen Hopkins. Soweit ich weiß, hat sie fast ihr ganzes Leben hier gelebt. Sie arbeitete gerade, als sie umgebracht wurde. Eine Email, die sie nie beenden konnte, war noch auf dem Bildschirm, als ihr Ehemann sie fand.“
„Im Bericht steht, dass es keine Anzeichen gewaltsamen Eindringens gibt, ist das richtig?“, fragte DeMarco.
„Das stimmt, ja. Der Ehemann hat ausgesagt, dass sogar alle Türen abgeschlossen waren, als er nach Hause kam.“
„Das heißt, der Killer hat abgeschlossen, bevor er verschwand“, meinte Kate. „Das ist nicht ungewöhnlich. Das ist eine exzellente Art, um die Ermittler in eine falsche Richtung zu locken. Trotzdem … irgendwie muss er ins Haus gekommen sein.“
„Mrs. Hopkins ist das zweite Opfer. Das erste gab es vor fünf Tagen. Eine Frau etwa gleichen Alters, die zuhause ermordet wurde, während ihr Mann bei der Arbeit war. Marjorie Hix.“
„Sie sagten, Karen Hopkins arbeitete, als sie ermordet wurde. Was hat sie denn gemacht?“, fragte Kate.
„Nach dem, was ihr Mann sagt, war es kein wirklicher Job. Nur etwas, was sie nebenbei tat, um zusätzliches Geld zu verdienen, damit sie früher in Rente gehen konnten. Online Marketing oder so etwas.“
Kate und DeMarco schauten sich ein Weilchen in dem Arbeitszimmer um. DeMarco untersuchte den Papierkorb beim Schreibtisch und die verschiedenen Papiere, die in einem Korb lagen, der am Rand der Tischplatte stand. Kate suchte mit den Augen den Boden ab. Als sie neben der Vase mit de künstlichen Pflanze stand, berührte sie instinktiv die glatten Zweige. Genau wie sie erwartet hatte, waren sie so weich, dass die Berührung beruhigend wirkte. Sie bemerkte, dass einige der Zweige abgebrochen waren und wandte ihre Aufmerksamkeit dann wieder dem Schreibtisch zu.
Respektvoll hielt Bannerman Abstand, ging zwischen dem Schreibtisch und dem Fenster auf und ab und sah in den Garten hinaus, der vor dem Fenster des Arbeitszimmers lag.
Kate stellte fest, dass der Schreibtisch an der Wand stand und nicht unter dem Fenster oder in Richtung des Eingangs. Soweit ihr bekannt war, war dies nicht weiter ungewöhnlich. Es half Menschen, die sich nur schwer konzentrieren konnten, ihre Konzentration über einen längeren Zeitraum zu halten. Allerdings bedeutete dies auch, dass das Opfer die Attacke nicht hatte kommen sehen, bis es zu spät war.
Automatisch verdächtigte sie den Ehemann. Wer auch immer Karen getötet hatte, war leise und unbemerkt ins Haus gekommen.
Oder der Killer war schon hier drinnen gewesen und sie hatte nichts geahnt.
Alle Hinweise wiesen auf den Ehemann. Dies war jedoch eine Sackgasse, denn soweit sie informiert waren, hatte er ein solides Alibi. Natürlich konnte sie sein Alibi noch einmal genauer überprüfen, aber aus Erfahrung wusste sie, dass ein Alibi im Zusammenhang mit der Arbeit für gewöhnlich wasserdicht war.
Bevor sie diese Gedanken gegenüber DeMarco oder Bannerman äußerte, betrat sie den Nebenraum. Um ins Arbeitszimmer zu gelangen, musste man diesen Raum durchqueren. Auf dem Boden lag ein hübscher, orientalischer Teppich. Das Sofa machte den Eindruck, als wurde es kaum benutzt, und das Klavier schien antik zu sein – die Art von Klavier, auf dem nie gespielt wurde, das aber schön anzusehen war.
Im Bücherregal standen verschiedene Titel, die – wie Kate meinte – wahrscheinlich nie geöffnet worden waren … es waren Bücher, die der Dekoration der Regale dienten. Nur am Ende des einen Regals sah sie welche, die augenscheinlich gelesen worden waren: einige Klassiker, ein paar Taschenbuch-Krimis und mehrere Kochbücher.
Sie suchte nach etwas ungewöhnlichem, das ihr ins Auge sprang, entdeckte jedoch nichts. DeMarco kam herein. Auf ihrem Gesicht lag ihr typischer Ausdruck, wenn sie nachdachte. Dann zuckte sie mit den Schultern.
„Was denkst du?“, fragte Kate.
„Ich glaube, wir sollten mit dem Ehemann sprechen. Auch wenn er ein wasserdichtes Alibi hat, kann er uns vielleicht Informationen geben, die uns weiterhelfen.“
Mit vor der Brust verschränkten Armen stand Bannerman im Eingang zu dem Nebenraum. „Wir haben ihn natürlich schon vernommen. Sein Alibi ist in der Tat ziemlich wasserdicht. Neun seiner Mitarbeiter sahen ihn und haben mit ihm gesprochen, während seine Frau ermordet wurde. Er hat jedoch angeboten, jegliche Fragen zu beantworten, die wir haben.“
„Wo ist er jetzt?“, fragte Kate.
„Bei seiner Schwester, etwa drei Meilen von hier.“
„Sheriff, haben Sie die Akte hinsichtlich des ersten Opfers?“
„Ja. Wenn Sie möchten, kann ich veranlassen, dass sie Ihnen geemailt wird.“
„Das wäre hilfreich.“
Bannermans Alter brachte Erfahrung mit sich. Ihm war klar, dass die Agents im Haus der Hopkins fertig waren. Ohne, dass sie es ihm sagen mussten, wandte er sich um und ging zur Tür. Kate und DeMarco folgten ihm.
Als sie zu ihren Wagen zurück gingen und Bannerman für seine Hilfe dankten, stand die Sonne am Himmel. Es war kurz nach 8 Uhr morgens und Kate hatte das Gefühl, dass sich in dem Fall schon jetzt etwas rührte.
Sie hoffte, dass das ein gutes Omen war.
Als sie in den Wagen stieg, ignorierte Kate absichtlich die grauen Wolken, die sich weiter hinten am Himmel zusammenzogen.
Kapitel drei
Bannerman hatte den Ehemann schon angerufen und den Besuch der FBI-Agents angekündigt. Als Kate und DeMarco zehn Minuten später das Haus der Schwester erreichten, saß Gerald Hopkins draußen auf der Veranda mit einer Kaffeetasse in der Hand. Kate sah, wie erschöpft der Mann war, als sie die Stufen empor stiegen, um sich vorzustellen. Sie wusste, wie Trauer aussah und sie stand niemandem gut. Aber wenn auch noch Erschöpfung hinzu kam, war es um ein Vielfaches schlimmer.
„Vielen Dank, dass Sie eingewilligt haben, uns zu empfangen, Mr. Hopkins“, sagte Kate.
„Natürlich. Ich tue alles, damit Sie denjenigen finden, der das getan hat.“
Seine Stimme klang schwach und brüchig. Kate konnte sich gut vorstellen, dass er einen Großteil der letzten zwei Tage mit Weinen zugebracht und sehr wenig Schlaf bekommen hatte. Er starrte in seine Kaffeetasse und seinen braunen Augen machten den Anschein, als fielen sie ihm jeden Augenblick zu. Kate meinte, dass der Mann ziemlich gutaussehend war, wenn er nicht den Ausdruck der Trauer trug.
„Ist Ihre Schwester hier?“, fragte DeMarco.
„Ja. Sie ist drinnen und kümmert sich … um die Arrangements.“ Er hielt inne, schien zu versuchen, einen Weinkrampf in Schach zu halten und zuckte dann leicht mit den Schultern. Er nippte an seinem Kaffee und fuhr fort. „Sie macht das toll. Sie kümmert sich um alles und kämpft für mich. Sie hält mir die neugierigen Arschlöcher in dieser Stadt vom Hals.“
„Wir wissen, dass Sie schon mit der Polizei gesprochen haben, deshalb werden wir es kurz machen“, sagte Kate. „Bitte versuchen Sie, uns die letzte Woche mit Karen zu beschreiben. Sind Sie dazu in der Lage?“
Er zuckte abermals mit den Schultern. „Ich würde sagen, es war eine Woche wie jede andere auch. Ich bin zur Arbeit gegangen, sie ist zuhause geblieben. Wenn ich wiederkam, waren wir ein ganz normales, verheiratetes Paar. Wir hatten unsere Gewohnheiten … langweilig, könnte man fast sagen. Einige Leute würden es vielleicht eine Sackgasse nennen.“
„Irgendetwas Schlimmes?“, hakte Kate nach.
„Nein. Es ist nur … ich weiß auch nicht. Während der letzten Jahre, seit alle Kinder ausgezogen sind, haben wir uns weniger Mühe gegeben. Wir haben uns noch immer geliebt, aber es war einfach öde. Langweilig, verstehen Sie?“
Hier seufzte er und zuckte nochmals mit den Schultern. „Ach Scheiße. Die Kinder. Sie sind jetzt alle auf dem Weg hierher. Henry, unser Ältester, sollte innerhalb der nächsten Stunde hier sein. Und dann muss ich … muss ich erklären …“
Er ließ den Kopf sinken und gab ein verzweifeltes Seufzen von sich, das in einen schluckaufartigen Weinkrampf überging. Kate und DeMarco traten einen Schritt zurück, um ihm etwas Raum zu geben. Es dauerte fast zwei Minuten, bis er sich wieder gefangen hatte. Als er soweit war, wischte er sich über die Augen und blickte entschuldigend auf.
„Lassen Sie sich Zeit“, sagte Kate.
„Nein, ist schon in Ordnung. Ich wünschte nur, ich wäre gegen Ende ein besserer Ehemann gewesen, wissen Sie? Ich war zwar immer da, aber ich war nicht wirklich da. Ich glaube, sie hat sich einsam gefühlt. Tatsächlich weiß ich, dass sie sich einsam gefühlt hat. Ich wollte mir aber keine Mühe mehr geben. Ist das nicht das Allerletzte?“
„Wissen Sie von irgendjemanden, mit dem sie sich in den letzten Tagen getroffen hat?“, fragte Kate. „Hatte sie irgendwelche Treffen oder Termine, sowas in der Art?“
„Keine Ahnung. Karen stand sozusagen dem Haushalt vor. Ich weiß nicht einmal, was in meinem eigenen Haus los war … oder in meinem eigenen beschissen Leben. Sie hat sich um alles gekümmert. Hat die Rechnungen bezahlt und sich um die Konten gekümmert, hat die Termine gemacht, die Kalender geführt, sich um das Essen gekümmert, hat ihren verdammten Gemüsegarten angepflanzt, hatte die Geburtstage der Familienmitglieder im Blick und wusste, wann man sich traf. Ich habe mich um gar nichts gekümmert.“
„Wäre es in Ordnung, wenn wir Einsicht in die Kalender nehmen?“, fragte DeMarco.
„Was immer Sie benötigen. Egal was. Bannerman und seine Leute haben schon Zugriff auf unsere synchronisierten Kalender. Die waren auf unseren Handys. Er kann Sie einloggen.“
„Vielen Dank, Mr. Hopkins. Wir lassen Sie jetzt in Frieden, aber bitte … wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, was von Interesse sein könnte, dann setzen Sie sich bitte mit Sheriff Bannerman oder mit uns in Verbindung.“
Er nickte, aber es war offensichtlich, dass die nächste Tränenflut im Begriff war, jeden Moment loszubrechen.
Kate und DeMarco verabschiedeten sich und gingen zurück zu ihrem Wagen. Sehr erkenntnisreich war diese Unterhaltung nicht gewesen, Kate war jedoch nun überzeugt, dass Gerald Hopkins seine Frau nicht umgebracht hatte. Solch eine Trauer konnte man nicht vorspielen. Während ihrer Karriere hatte sie mehr als genug Männer erlebt, die genau das versucht hatten, und es war nie authentisch gewesen. Gerald Hopkins war außer sich vor Trauer, und er tat ihr unendlich leid.
„Nächster Stop?“, fragte DeMarco, als sie sich hinter das Lenkrad setzte.
„Ich möchte noch einmal zu dem Hopkins-Haus fahren … und vielleicht mit den Nachbarn sprechen. Er hat den kleinen Gemüsegarten erwähnt, den sie angelegt hatte, direkt unter dem Fenster des Arbeitszimmers. Da ist ein Nachbar in Sichtweite dieses Fensters. Es ist zwar nur ein Versuch, aber vielleicht lohnt es sich.“
DeMarco nickte und ließ den Wagen an. Während sie wieder zum Haus der Hopkins fuhren, brauten sich die ersten Sturmwolken zusammen und verdeckten die Sonne.
* * *Sie begannen mit dem Nachbarn, der auf der rechten Seite der Hopkins wohnte. Sie klopften an die Haustür, doch nichts rührte sich. Nach dreißig Sekunden klopfte Kate erneut, aber das Ergebnis war das gleiche.
„Weißt du“, begann Kate, „wenn man in solchen Nachbarschaften lange genug sein Glück versucht, ist am Ende mindestens ein Teil der Bewohner zuhause.“
Sie klopfte nochmals und als noch immer niemand öffnete, gaben sie auf und durchquerten den Garten der Hopkins, um es bei dem Nachbarn auf der anderen Seite zu versuchen. Kate spähte über den Rasen, der zwischen den Häusern lag. Sie konnte gerade so eben das Haus sehen, dass man auch von Karen Hopkins‘ Arbeitszimmerfenster aus sehen konnte. Es war die Rückseite dieses Hauses. Die Vorderseite des Hauses lag allem Anschein nach an einer Straße, die von der der Hopkins abzweigte.
Als sie zu dem Haus links von den der Hopkins gingen, trafen Kate die ersten Regentropfen. Sie wollte gerade die Treppe hinauf steigen, als sie spürte, wie ihr Handy in ihrer Tasche summte. Sie zog es hervor und überprüfte das Display. Es war Melissa. Leichte Schuldgefühle überkamen sie. Sie war sicher, dass ihre Tochter anrief, um ihrem Ärger Luft zu machen, weil sie Michelle gestern Abend in Alans Obhut gelassen hatte. Und jetzt, wo Kate zu ihrer Entscheidung ein wenig Abstand gewonnen hatte, meinte sie, dass Melissa durchaus das Recht hatte, sauer zu sein.
Allerdings war dies kein Gespräch, das sie genau jetzt – wo sie die Stufen zum Nachbarhaus hinauf stiegen – führen wollte. Diesmal klopfte DeMarco an. Fast sofort wurde die Tür von einer jung aussehenden Frau geöffnet, die ein sechszehn oder achtzehn Monate altes Baby auf dem Arm hatte.
„Hallo?“, fragte die junge Frau.
„Hallo. Wir sind Agents Wise und DeMarco vom FBI. Wir ermitteln im Mord an Karen Hopkins und hatten gehofft, Informationen von den Nachbarn zu bekommen.“
„Nun ja, ich bin genau genommen keine Nachbarin“, sagte die junge Frau. „Aber so etwas Ähnliches. Ich bin Lily Harbor, die Nanny von Barry und Jan Devos.“
„Kannten Sie das Ehepaar Hopkins gut?“, fragte DeMarco.
„Eigentlich nicht. Wir waren zwar per Du und haben uns beim Vornamen genannt, aber ich habe nicht öfter als vielleicht ein- oder zweimal die Woche mit ihnen gesprochen. Und selbst dann hat man sich nur gegrüßt, wenn man sich zufällig begegnete.“
„Haben Sie sich ein Bild davon machen können, was für Leute sie waren?“
„Anständig, meiner Meinung nach.“ Sie hielt inne, da der kleine Junge auf ihrem Arm begann, an ihren Haaren zu ziehen und ein wenig zu jammern. „Aber wie ich schon sagte, ich kannte sie nicht besonders gut.“
„Kennen die Devos‘ sie gut?“
„Ich denke schon. Barry und Gerald leihen sich hin und wieder Dinge voneinander aus. Benzin für den Rasenmäher, Grillkohle, solche Sachen. Aber ich glaube nicht, dass sie wirklich Zeit miteinander verbringen. Sie sind höflich zueinander, aber befreundet sind sie nicht.“
„Wissen Sie von irgendjemandem hier in der Gegend, der sie gut kannte?“, fragte Kate.
„Nein, eigentlich nicht. Die Leute hier legen Wert auf ihre Privatsphäre. Hier gibt es keine Nachbarschaftspartys, wissen Sie? Aber … ich fühle mich ein wenig schlecht, dies zu sagen, aber dennoch … wenn Sie irgendetwas wissen möchten über die Leute aus der Gegend, egal über wen, dann sollten Sie vielleicht mit Mrs. Patterson sprechen.“






