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Als sie zwanzig Minuten später das Haus verließen, befand sich Barnes noch immer auf der Veranda. Er saß in einem alten, zerfledderten Sessel und rauchte eine Zigarette.
„Etwas gefunden?“, fragte er.
„Nichts“, antwortete DeMarco.
„Obwohl ich mich frage“, fügte Kate hinzu, „haben Sie oder ihre Kollegen von der State Police einen Laptop oder ein Handy im Zimmer der Tochter gefunden?“
„Nein. Tja, apropos Laptop … das ist nicht gerade überraschend. Vielleicht haben Sie schon anhand des Zustands des Hauses vermutet, dass die Fullers nicht unbedingt Leute waren, die sich einen Laptop für ihre Tochter leisten konnten. Was das Handy anbelangt, der Handyvertrag der Familie besagt tatsächlich, dass Mercy Fuller ihr eigenes Handy besitzt. Aber bisher konnten wir es nicht orten.“
„Vielleicht ist es abgeschaltet“, meinte DeMarco.
„Wahrscheinlich“, sagte Barnes. „Allerdings – und das war auch mir bis vor kurzem neu – kann man ein Handy orten, selbst wenn es aus ist, bis zu der Stelle, an der es abgeschaltet wurde… also dem letzten Ort, an dem es eingeschaltet war. Und die Kollegen von der State Police haben herausgefunden, dass das zuletzt hier, in diesem Haus, der Fall war. Aber, wie Sie schon so treffend sagten, ist es nicht auffindbar.“
„Wie viele Ihrer Leute bearbeiten aktiv diesen Fall?“, fragte Kate.
„Gegenwärtig sind es drei, die auf der Wache Befragungen vornehmen und Belege hinsichtlich der letzten Einkäufen sichten, wo sie sich zuletzt aufgehalten haben, solche Dinge eben. Einer von der State Police ist noch da, um auszuhelfen, aber er ist nicht sonderlich glücklich darüber.“
„Und Sie haben einen in Ihren Reihen, der – abgesehen von Ihnen selbst – den Fall leitet?“
„Das ist richtig. Wie ich schon sagte, das ist Officer Foster. Der Mann hat ein Gedächtnis wie ein Schließfach.“
„Könnten Sie uns bitte zu einer kurzen Nachbesprechung auf die Wache geleiten“, bat Kate. „Aber nur mit Ihnen selbst und Office Foster. Ich möchte es beim engten Kreis belassen.“
Barnes nickte grimmig, stand auf und schnippte seine Zigarettenkippe in den Garten. „Sie wollen über Mercy als Verdächtige sprechen, ohne dass es allzu viele Leute mitbekommen. Ist das richtig?“
„Ich glaube, es wäre unklug, diese Möglichkeit von der Hand zu weisen, ohne sie eingehend überprüft zu haben“, sagte Kate. „Und Sie haben recht. Je weniger Leute davon Wind bekommen, desto besser.“
„Ich rufe Foster auf der Fahrt zur Wache an.“
Er ging die Stufen hinab und starrte dabei die Reporterin und ihren Kameramann böse an. Das veranlasste Kate, sich zu fragen, ob er innerhalb der letzten zwei Tage mit den Nachrichten-Crews aneinander geraten war.
Als sie und DeMarco in den Wagen stiegen, warf sie der Nachrichten-Crew einen misstrauischen Blick zu. Sie wusste, dass ein Mord wie dieser kleine Gemeinden wie Deton schwer erschütterten. Und dass Nachrichten-Crews genau deshalb nicht davor Halt machten, ihre Story zu bekommen.
Kate fragte sich, ob es hier um mehr ging, als auf den ersten Blick ersichtlich war – und, wenn dem so war, was genau sie zu tun hatte, um an alle Fakten zu kommen.
Kapitel drei
Die Deton Police Station entpuppte sich als das, was Kate sich ungefähr vorgestellt hatte. Sie lag an einem Ende des Ortskerns entlang des Highways, ein schmuckloses Gebäude aus Ziegelstein, auf dessen Giebel die amerikanische Flagge wehte. Ein paar Polizeiwagen parkten seitlich davon. Die niedrigen Kennzahlen reflektierten die Größe des Ortes selbst.
Das Großraumbüro nahm den meisten Platz ein. Ein großer Schreibtisch stand vorne, verwaist. Tatsächlich machte die ganze Wache einen verwaisten Eindruck. Sie folgten Barnes einen schmalen Flur entlang, an dem nur fünf Räume lagen, zur Rückseite des Gebäudes. An der Tür einer dieser Räume war ein Schild angebracht, auf dem Sheriff Barnes stand. Barnes führte sie in den letzten Raum auf dem Flur. Er war sehr klein und als eine Art Konferenzraum ausgestattet. Darin hielt sich ein Beamter auf, der an einem Tisch saß und einen Stapel Dokumente durchging.
„Agents, dies ist Officer Foster“, sagte Barnes.
Officer Barnes war ein junger Mann, der auf die Dreißig zugehen mochte. Sein Haar trug er kurzgeschoren und er schaute etwas mürrisch drein. Kate sah sofort, dass er ein sehr sachlicher Mann war. Er würde keine Witze machen, um die Spannung zu zerstreuen und sich wohl nicht die Mühe machen, die Agents, die jetzt vor ihm saßen, durch Small-Talk besser kennenzulernen.
Kate mochte ihn auf Anhieb.
„Seit wir den Anruf von Pastor Poulson erhalten haben, sind bei Officer Foster alle Fäden zusammengelaufen“, erklärte Barnes. „Er hat jede Information, die wir erhalten haben, gehört oder gesehen und sie den Akten zugefügt. Welche Fragen Sie auch immer haben sollten, er kann sie Ihnen wahrscheinlich beantworten.“
„Das ist doch mal ein hohes Lob“, sagte Foster, „aber ja, ich werde definitiv mein Möglichstes tun.“
„Also“, begann Kate, „was für Informationen haben wir hinsichtlich der Personen, mit denen alle drei Fullers direkt vor den Morden gesprochen haben – abgesehen von Gesprächen untereinander.“
„Alvin Fuller hat mit einem alten Freund aus High-School-Zeiten gesprochen, als er an der Citgo am Highway 44 bezahlte“, sagte Foster. „Er war auf dem Weg von der Arbeit nach Hause und als dort anhielt, um ein Sixpack Bier zu kaufen, sind sie sich über den Weg gelaufen. Der Freund sagt, sie haben sich über Arbeit und Familie unterhalten. Es war sehr oberflächliches, ein Gespräch der Höflichkeit halber. Der Freund sagte, dass Alvin nicht irgendwie seltsam gewirkt habe.“
„Bezüglich Wendy Fuller, die letzte Person, mit der sie, abgesehen von ihrer Familie, gesprochen hat, war eine Kollegin. Wendy arbeitete in einem kleinen Versandlager ein wenig außerhalb. Die Kollegin gab an, das letzte, worüber sie gesprochen hatten, war Wendys Sorge, weil Mercy begann, starkes Interesse an Jungs zu zeigen. Anscheinend hatte Mercy sich vor nicht allzu langer Zeit zum ersten Mal geküsst, und Wendy machte sich Sorgen, was das bedeuten könnte. Aber abgesehen davon war alles so, wie sonst auch.“
„Und wie sieht es mit Mercy aus?“, fragte DeMarco.
„Die letzte Person, mit der sie gesprochen hat, war ihre beste Freundin, ein Mädchen aus dem Ort namens Anne Pettus. Wir haben zweimal mit Anne gesprochen, nur um sicherzugehen, dass sie beide Male die gleiche Geschichte erzählt. Sie sagt, in der letzten Unterhaltung ging es um einen Jungen namens Charlie. Nach dem, was Anne sagt, war dieser Charlie nicht Mercys Freund. Anne hat uns auch etwas verraten, was nicht mit dem übereinstimmt, was ihre Eltern über sie wissen.“
„Eine Lüge?“, fragte Kate.
„Ja. Wendys Kollegin sagte, dass sie über Mercys ersten Kuss gesprochen haben. Aber Anne Pettus sagt, dass das so nicht richtig ist. Wie es scheint, liegt Mercys erster Kuss schon eine ganze Weile zurück.“
„Hat sie promiskuitiv?“
„Das hat Anne so nicht gesagt. Sie sagte nur, dass sie genau wisse, dass Mercy schon sehr viel mehr mit Jungen gemacht hat als sie nur zu küssen.“
„Hinsichtlich ihres Verschwindens, in welche Richtung weist die bisherige Beweislage?“, fragte Kate. „Dass sie entführt wurde, oder dass sie abgehauen ist?“
„Sofern Sie nicht noch etwas in dem Haus finden, gibt es bisher keinerlei Beweise, die auf eine Entführung hinweisen. Im Gegenteil, wir haben Beweise, die uns zu der Annahme verleiten, dass sie freiwillig gegangen ist.“
„Welche Art von Beweisen?“
„Anne sagt, dass Mercy sich eine kleine Summe Bargeld zusammengespart hat. Sie wusste sogar, wo Mercy das Geld aufbewahrte: ganz unten in ihrer Sockenschublade. Wir haben nachgesehen: 300 Dollar lagen dort versteckt. Das widerspricht wiederum der Hypothese, dass sie davongelaufen ist, denn sie hätte das Geld mitgenommen, richtig? Allerdings hat Mercy ihre Kreditkarte zuletzt benutzt, um damit den Tank aufzufüllen. Das war zwei bis drei Stunden, bevor die Leichen ihrer Eltern entdeckt wurden. Zwei Tage zuvor hat sie bei Target in Harrisonburg Kosmetika in der Größe gekauft, wie man sie gern mit auf Reisen nimmt: Zahnbürste, Zahnpasta, Deodorant. Die Kreditkartenaufstellung bestätigt das, ebenso Anne Pettus, mit der zusammen sie an dem Tag eingekauft hat.“
„Hat Anne sie zufällig gefragt, warum sie Kosmetika in Reisegröße kauft?“, fragte Kate.
„Ja, das hat sie. Mercy sagte, sie hätte nicht mehr viel zuhause und hasste es, sich wie ein Kind zu fühlen, dass ihre Eltern bitten musste, ihr so etwas zu kaufen.“
„Es ist nichts über einen Freund bekannt?“, fragte Kate.
„Nicht nach dem, was Anne berichtet. Und die schien so ziemlich alles über Mercy zu wissen.“
„Ich möchte mit Anne sprechen“, sagte Kate. „Meinen Sie, sie willigt ein, oder wird sie uns Steine in den Weg legen?“
„Sie wird ganz sicher einwilligen“, sagte Foster.
„Er hat recht“, fügte Barnes hinzu. „Anne hat uns sogar zwischendurch mehrfach angerufen, und fragte, ob wir neue Erkenntnisse haben. Sie ist sehr hilfsbereit. Das gilt auch für ihre Eltern, die uns mit ihr haben sprechen lassen. Wenn Sie möchten, rufe ich an und arrangiere ein Treffen.“
„Das wäre großartig“, sagte Kate.
„Sie ist ein starkes Mädchen“, sagte Foster. „Aber unter uns gesagt, ich glaube, dass sie uns etwas verheimlicht. Vielleicht nicht Großes. Ich glaube, sie will nur sicher sein, nichts Schlechtes über ihre vermisste, beste Freundin zu sagen.“
Das ist verständlich, dachte Kate.
Kate wusste aber auch, dass die Tatsache, dass die beiden die besten Freundinnen waren, Grund genug dafür war, etwas zu verheimlichen.
* * *Es war nachvollziehbar, dass Annes Eltern ihr erlaubt hatten, von der Schule zuhause zu bleiben. Als Kate und DeMarco das Haus der Pettus‘ erreichten, das in einer Straße stand, die der der Fullers ähnelte, warteten die Eltern schon drinnen an der Haustür. Kate konnte beide durch die Glastür erkennen, als sie den Wagen auf der U-förmigen Auffahrt parkte.
Mr. und Mrs. Pettus traten auf die Veranda hinaus, um die Agents zu begrüßen. Der Vater hatte die Arme verschränkt. Ein trauriger Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Die Mutter sah müde aus, mit geröteten Augen und einer erschöpften Haltung.
Nachdem sich alle vorgestellt hatten, kamen Mr. und Mrs. Pettus direkt zur Sache. Sie waren weder unhöflich noch aufdringlich, sondern einfach besorgte Eltern, die ihre Tochter davor bewahren wollten, unnötig durch die Hölle zu gehen.
„Es scheint ihr mit jedem Mal, das sie darüber redet, besser zu gehen“, sagte Mrs. Pettus. „Ich glaube, mit der Zeit wird sie mehr und mehr verstehen, dass ihre beste Freundin nicht unbedingt tot ist. Je mehr sie sich mit der Möglichkeit befasst, dass sie einfach vermisst wird, desto mehr wird sie helfen wollen.“
„Trotzdem“, fügte Mr. Pettus hinzu, „muss ich Sie bitten, die Befragung so kurz wie möglich zu halten, und ein Element der Hoffnung durchscheinen zu lassen. Wir werden uns natürlich nicht in die Befragung einschalten, aber seien Sie gewarnt, sobald wir etwas hören, dass unsere Tochter aufregt, ist Ihre Zeit mit ihr um.“
„Das ist absolut verständlich“, sagte Kate. „Und Sie haben mein Wort, dass wir behutsam vorgehen werden.“
Mr. Pettus nickte und öffnete ihnen schließlich die Haustür. Als sie eintraten, sah Kate Anne Pettus sofort. Sie saß auf der Couch und hatte ihre Hände zwischen die Knie ineinandergelegt. Wie ihre Mutter sah auch sie müde und erschöpft aus. In dem Moment wurde sich Kate bewusst, dass Mädchen im Teenager-Alter ihren besten Freundinnen sehr nahe standen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was dieses junge Mädchen gerade durchmachen musste.
„Anne“, sagte Mrs. Pettus, „dies sind die Agents, die sich angekündigt haben. Möchtest du noch immer mit ihnen sprechen?“
„Ja, Mom. Ich bin okay.“
Während Kate und DeMarco links und rechts von Anne Platz nahmen, nickten beide Eltern ihnen kurz zu. Wie Kate bemerkte, sah Anne erst dann aus, als sei ihr das alles sehr unangenehm, als sich ihre Eltern sich hinter sie stellten.
„Anne“, sagte Kate, „wir werden uns kurz fassen. Sind im Bild über alles, was du der Polizei schon erzählt hast, daher werden wir dich nicht bitten, all diese Dinge zu wiederholen. Nun ja, mit einer Ausnahme. Ich würde gern mehr über die Shopping-Tour erfahren, die du mit Mercy nach Harrisonburg unternommen hast. Mercy kaufte diverse Dinge in Reisegröße, richtig?“
„Ja. Ich fand das schon seltsam. Sie sagte, sie hätte davon nichts mehr zuhause. Zahnpasta, eine kleine Zahnbürste, Deo, solche Dinge. Ich fragte sie, warum sie sie sich selbst kaufte und nicht ihre Eltern, aber sie ist nicht darauf eingegangen.“
„Meinst du, dass sie glücklich war zuhause?“
„Ja, schon. Aber… na ja, sie ist fünfzehn. Sie liebt ihre Eltern, aber sie hasst die Gegend hier. Sie will schon aus Deton weg, seit sie zehn Jahre alt ist.“
„Hast du eine Ahnung, warum?“, fragte DeMarco.
„Es ist öde hier“, sagte Anne. Dabei warf sie ihren Eltern einen entschuldigenden Blick zu. „Ich bin ein bisschen älter als Mercy; ich bin sechszehn und habe einen Führerschein, und sie und ich fahren manchmal hierhin und dorthin. Shopping. Ins Kino. Aber man muss eine Stunde fahren, um irgendwohin zu kommen. Deton ist tot.“
„Weißt du, wo sie hinwollte?“
„Nach Palm Springs“, sagte Anne mit einem Lachen. „Sie hat eine Sendung über Palm Springs gesehen, in der die Leute dort Party gemacht haben, und fand es hübsch dort.“
„Hatte sie irgendein bestimmtes College im Auge, auf das sie gehen wollte?“
„Ich glaube nicht. Ich meine, als sie diese kleine Veranstaltung für uns in der Schule hatten, hat sie sich etwas genauer mit dem Material der UVA und Wake Forest beschäftigt. Aber … na ja, ich weiß nicht.“
„Kannst du uns irgendetwas über Charlie erzählen?“, fragte Kate. „Wir haben seinen Namen in ihrem Tagebuch entdeckt und wissen, dass sie sich zumindest nahe genug standen, um zwischen den Unterrichtsstunden einen Kuss auszutauschen. Aber die Polizei hat uns mitgeteilt, dass du sagtest, sie habe keinen Freund.“
„Nein, sie hat keinen.“
Kate merkte sofort, dass sich Annes Ton bei diesem Kommentar leicht versteifte. Auch ihre Haltung schien angespannter. Dies schien ein sensibles Thema zu sein. Aber angesichts der Tatsache, dass sie erst sechszehn war und ihre Eltern hinter standen, konnte Kate sie nicht der Lüge bezichtigen. Sie würde eine andere Strategie wählen müssen. Vielleicht umgaben ihre Freundin irgendwelche dunklen Geheimnisse, die Anne einfach nicht laut aussprechen wollte.
„Sie und Charlie sind also nur befreundet?“, fragte Kate.
„So ungefähr. Also, ich glaube, dass sie sich vielleicht wirklich mögen, aber nicht wirklich ein Paar sein wollten. Verstehen Sie?“
„Soweit du weißt, haben sie und Charlie noch etwas anderes getan als nur zu küssen?“
„Wenn es so war, dann hat mir Mercy nichts davon erzählt. Und sie erzählt mir alles.“
„Weißt du, ob sie vor ihren Eltern Geheimnisse hatte?“
Wieder konnte Kate an Annes Gesicht sehen, dass dem Mädchen die Frage unangenehm war. Es war kaum merklich, fast nicht auszumachen, aber Kate erkannte es, weil dies ihr bei unzähligen anderen Fällen begegnet war – vor allem, wo Teenager involviert waren. Umher flitzende Augen, unwohl auf dem Stuhl herumrutschen, zu schnelles Antworten, ohne darüber nachzudenken, oder zu langes Zögern.
„Falls es so ist, hat sie mir auch davon nichts gesagt.“
„Wie sieht es mit einem Job aus?“, fragte Kate. „Hat sie irgendwo gearbeitet?“
„Nicht in letzter Zeit. Vor ein paar Monaten hat sie ungefähr zehn Stunden pro Woche Kids aus der Middle School Nachhilfe gegeben. In Algebra, glaube ich. Aber das wurde dann nicht mehr angeboten, weil es nicht genügend Kids gab, die Interesse an der Hilfe hatten.“
„Hat ihr das Spaß gemacht?“, fragte DeMarco.
„Ich glaube schon.“
„Keine Horrorgeschichten vom Nachhilfegeben?“
„Keine, von denen sie mir erzählt hat.“
„Aber du bist überzeugt, dass Mercy dir alles über ihr Leben erzählt, richtig?“
Wieder war Anne die Frage unangenehm. Kate fragte sich, dass dies vielleicht das erste Mal war, dass sie schonungslos befragt wurde – dass etwas in Frage gestellt wurde, was sie als die Wahrheit hingestellt hatte.
„Ich glaube schon“, sagte Anne. „Wir waren … wir sind beste Freundinnen. Und ich sage sind, weil sie noch lebt. Ich weiß es. Denn, wenn sie tot ist…“
Der Kommentar hing einen Moment lang im Raum. Kate sah, dass die Emotionen in Annes Gesicht echt waren. Es war klar, dass das Mädchen kurz davor stand, in Tränen auszubrechen. Und wenn es soweit kam, war sich Kate sicher, würden ihre Eltern sie bitten zu gehen. Das hieß, dass ihnen nicht viel Zeit blieb – und das wiederum hieß, dass Kate jetzt ihre Samthandschuhe ablegen und sie hart anfassen musste, wenn sie noch Antworten bekommen wollte.
„Anne, wir wollen dieser Sache auf den Grund gehen. Und wir gehen genau wie du davon aus, dass Mercy noch lebt. Aber, da will ich ganz ehrlich mit dir sein, in Vermisstenfällen ist die Zeit unser Feind. Je mehr Zeit verstreicht, desto kleiner die Chance, sie zu finden. Also bitte … wenn es irgendetwas gibt, womit du den Behörden von Deton gegenüber bisher nicht herausgerückt bist … dann ist es wichtig, dass du es jetzt uns sagst. Ich weiß, in einer Kleinstadt ist es wichtig, was andere denken—“
„Ich denke, das reicht“, unterbrach Mr. Pettus. Er erhob sich und schritt zur Tür. „Es gefällt mir nicht, dass Sie meiner Tochter unterstellen, dass sie Ihnen etwas verheimlicht. Und man sieht ihr doch an, dass sie mit den Nerven am Ende ist.“
„Mr. Pettus“, begann DeMarco, „wenn Anne—“
„Wir waren mehr als entgegenkommend, sie von den Behörden befragen zu lassen, aber jetzt reicht es. Bitte gehen Sie … jetzt.“
Während sie sich erhoben, tauschten Kate und DeMarco einen entmutigten Blick aus. Kate hatte ungefähr drei Schritte getan, als Annes Stimme sie innehalten ließ.
„Nein … warten Sie.“
Alle vier Erwachsenen im Raum wandten sich zu Anne um. Tränen rannen über ihre Wangen und ein ernsthafter Ausdruck lag in ihren Augen. Sie blickte kurz ihre Eltern an und wandte dann die Augen ab, als schäme sie sich.
„Was ist?“, fragte Mrs. Pettus ihre Tochter.
„Mercy hat einen Freund. Mehr oder weniger. Aber es ist nicht Charlie. Es ist dieser andere Typ … und sie hat nie jemandem von ihm erzählt, denn wenn ihre Eltern davon erfahren, drehen sie durch.“
„Wer ist es?“, fragte Kate.
„Es ist dieser Typ, der draußen Richtung Deerfield wohnt. Er ist älter … siebzehn.“
„Und sie waren ein Paar?“, fragte DeMarco.
„Ich glaube nicht, dass es etwas Festes war. Sie haben sich einfach öfter gesehen. Aber wenn sie zusammen waren, glaube ich, dann … na ja, ich glaube, es ging nur um das Körperliche. Mercy gefiel es, dass dieser ältere Kerl ihr Aufmerksamkeit schenkte, verstehen Sie?“
„Und warum würden ihre Eltern das nicht gutheißen?“, fragte Kate.
„Na ja, zuerst einmal wegen des Altersunterschieds. Mercy ist fünfzehn und er ist fast achtzehn. Aber er ist ein schlimmer Finger. Er hat die High-School geschmissen und hängt mit üblen Leuten rum.“
„Wissen Sie, ob die beiden Sex gehabt haben?“, fragte Kate.
„Das hat sie mir nie erzählt. Aber ich glaube schon, denn immer, wenn ich darüber Witze gemacht und sie aufgezogen habe, ist sie ganz still geworden.“
„Anne“, sagte Mr. Pettus, „warum hast du das der Polizei nicht erzählt?“
„Weil ich nicht will, dass die Leute schlecht von Mercy denken. Sie … sie ist meine beste Freundin. Sie ist lieb und nett und … dieser Typ ist Abschaum. Ich verstehe nicht, was sie in ihm gesehen hat.“
„Wie heißt er?“, fragte Kate.
„Jeremy Branch.“
„Du sagtest, er habe die Schule abgebrochen. Weißt du, wo er arbeitet?“
„Ich glaube, er arbeitet gar nicht. Hin und wieder arbeitet er wohl in der Landschaftspflege, Bäume beschneiden und den Holzfällern zu Hand gehen. Aber Mercy sagte, dass er eigentlich nur bei seinem älteren Bruder herumsitzt und die meiste Zeit trinkt. Und ich glaube, dass er Drogen verkauft, aber das weiß ich nicht mit Sicherheit.“
Anne tat Kate fast leid. Nach dem Gesichtsausdruck der Eltern zu urteilen, war es klar, dass Anne eine ernsthafte Standpauke erwartete, sobald Kate und DeMarco gegangen waren. Mit diesem Gedanken im Kopf ging Kate zu Anne herüber und setzte sich dorthin, wo ihr Vater vor einer Minute noch gesessen hatte.
„Ich weiß, das ist dir nicht leicht gefallen“, sagte Kate zu ihr. „Aber du hast das Richtige getan. Du hast uns einen Hinweis gegeben und anhand dessen können wir vielleicht der Sache auf den Grund gehen. Danke, Anne.“
Und damit nickte sie Annes Eltern kurz zu und verließ das Haus. Auf dem Weg zum Wagen zog DeMarco ihr Telefon hervor. „Weißt du, wo Deerfield liegt?“, fragte sie.
„Etwa zwanzig Minuten entfernt, noch tiefer in die Wälder hinein“, sagte Kate. „Und wenn du glaubst, dass Deton klein ist, dann hast du noch nichts gesehen.“
„Ich rufe Sheriff Barnes an und sehe zu, eine Adresse zu bekommen.“
Und genau das tat sie, sobald sie wieder im Wagen saßen. Plötzlich spürte Kate eine Welle der Energie über sich hinweg spülen. Sie hatten eine Spur, das örtliche Police Department auf ihrer Seite und den größten Teil des Tages noch vor sich. Als sie die Auffahrt der Familie Pettus‘ hinter sich ließen, konnte sie nicht umhin, sich hoffnungsvoll zu fühlen.
Kapitel vier
Obwohl Barnes genauste Angaben zu der Adresse gemacht hatte, fragte sich Kate, ob er sich vertan hatte oder ob etwas bei der Kommunikation verloren gegangen war. Fünf Minuten, nachdem sie den Ortskern von Deerfield, hinter sich gelassen hatte, erblickte sie endlich die Adresse in schwarzen Buchstaben geschrieben an einem Briefkasten an der Straße. Dahinter lagen, wie generell in Deerfield, Virginia, nichts als offene Felder und Wald.
Knapp einen halben Meter vom Briefkasten entfernt konnte sie die Umrisse dessen erkennen, was sie für eine Auffahrt hielt. Das Unkraut verdeckte fast die Zufahrt. Sie fuhr auf die Auffahrt und fand sich auf einem Schotterweg wieder, der weiter vorn in einer Lichtung mündete. Sie nahm an, dass dies der Garten war, in dem aber schon sehr lange nicht mehr gemäht worden war. Dort parkten drei Wagen, von denen man zwei komplett abschreiben konnte. Sie standen am Ende der Auffahrt.
Einige Meter von den Wagen entfernt, entlang der Baumlinie des Waldes dahinter, der sehr groß wirkte, stand ein überbreiter Wohnwagen. Äußerlich war er dekoriert wie ein Haus und hätte ein nettes Plätzchen sein können, wenn er in Schuss gehalten worden wäre. Aber die vordere Veranda hing leicht schräg, ein Teil des Geländers war ganz abgefallen. Eine lose Regenrinne hing rechts am Haus und dahinter erstreckte sich der wüst aussehende Garten.
Kate und DeMarco parkten hinter den Schrottautos und gingen langsam auf das Haus zu. Das Gras, das zum Großteil aus Unkraut bestand, reichte Kate bis zu den Knien.
„Ich fühlte mich wie auf irgendeiner merkwürdigen Safari“, sagte DeMarco. „Hast du eine Machete?“
Ihre Augen auf die Tür gerichtet, kicherte Kate nur. Aufgrund von Anne Pettus‘ Aussage und genereller Stereotypen meinte sie schon zu wissen, was sie drinnen vorfinden würden: Jeremy Branch und seinen älteren Bruder, die herumsaßen und nichts taten. Das Haus würde wahrscheinlich muffig und moderig riechen, vielleicht sogar nach Marihuana. Um das billige Mobiliar herum, das auf einen recht guten Fernseher ausgerichtet war, würden Bierflaschen liegen. Sie hatte es schon unzählige Male gesehen, vor allem bei jungen Leuten, die in ländlichen Gegenden wohnten und Sozialgelder kassierten.
Sie stiegen auf die Veranda und klopften an die Tür. Von drinnen drang Musik, Heavy Metal, allerdings relativ leise gestellt. Dann vernahm sie schwere Schritte, die sich der Tür näherten. Als sie wenige Sekunden darauf geöffnet wurde standen sie einem jungen Mann in ärmellosem T-Shirt und Khaki-Short gegenüber. Er war unrasiert, sein war linker Arm komplett tätowiert und beide Ohren waren gepierct.
Erst lächelte er bei dem Anblick zweier Frauen auf seiner Veranda, doch dann sank die Realität ein. Es waren nicht nur zwei Frauen, sondern zwei professionell gekleidete Frauen mit ernstem Gesichtsausdruck.
„Wer sind Sie?“, fragte er.
DeMarco zeigte ihm ihre FBI-Marke und trat dabei einen Schritt auf die Tür zu. „Agents DeMarco und Wise“, sagte sie. „Wir wollen Jeremy Branch sprechen.“
Der junge Mann sah ehrlich verwirrt und fast ein wenig ängstlich aus. Er trat einen kleinen Schritt von der Tür zurück und blickte vorsichtig zwischen ihnen hin und her. „Das … tja, das bin ich. Aber was wollen Sie von mir?“






