- -
- 100%
- +
„Ich bin sicher, dass Sie die Neuigkeiten hinsichtlich eines Mädchens in Deton gehört haben“, sagte Kate. „Ein Mädchen namens Mercy Fuller.“
Der Ausdruck auf seinem Gesicht sagte Kate alles, was sie wissen musste. Ohne ein Wort gesagt zu haben, hatte er zugegeben, dass er Mercy kannte. Er nickte und wandte dann seinen Blick hinter sich in den Wohnwagen, vielleicht in der Hoffnung um Hilfe von seinem großen Bruder.
„Können Sie mir das bestätigen?“, fragte Kate.
„Ja, ich hab’s gehört. Sie wird vermisst. Und ihre Eltern wurden umgebracht, richtig?“
„Richtig. Mr. Branch, könnten wir bitte hereinkommen und einen Moment mit Ihnen sprechen?“
„Na ja, dies ist nicht mein Haus. Mein Bruder wohnt hier. Und ich weiß nicht, ob er …“
„Ich weiß nicht, ob Sie wissen, wie so etwas hier abläuft“, sagte Kate. „Wir möchten hereinkommen und uns mit Ihnen unterhalten. Das können wir entweder hier tun, oder wir können es – angesichts dessen, was uns über Sie zu Ohren gekommen ist – es auf der Wache in Deton tun. Sie haben die Wahl.“
„Oh“, sagte er. Er sah schwer besorgt aus, wie ein bedrohtes Tier, das nach einem Ausweg sucht. „Na ja, wenn das so ist, kann ich wohl—“
Dann unterbrach er sich selbst, indem er ihnen die Tür vor der Nase zuschlug. Nach dem lauten Knall der ins Schloss fallenden Tür und ein kurzes Zurückschrecken vor dieser unerwarteten Handlung, vernahm Kate schnelle Schritte im Haus.
„Er haut ab“, sagte Kate.
Doch noch bevor Kate die Tür wieder geöffnet hatte, war DeMarco schon von der Veranda gesprungen und sprintete zur Rückseite des Hauses. Kate zog die Waffe, drückte die Tür auf und trat ein.
Aus dem hinteren Teil des Wohnwagens konnte sie weitere Schritte hören und dann das Geräusch einer weiteren Tür, die geöffnet wurde. Eine Hintertür, dachte Kate. Hoffentlich kann DeMarco ihm den Weg abschneiden.
Kate raste durch das Haus, und fand sich in ihrer Annahme bestätigt. Ein leichter Geruch nach Marihuana hing in der Luft, gemischt mit dem Gestank von verschüttetem Bier. Als sie die Küche durchquerte, gelangte sie in einen Flur, von dem zwei Schlafzimmer abzweigten. Dort hinten, am Ende des Flurs, bebte die Tür noch in ihren Angeln, weil jemand soeben hindurch gestürmt war. Sie rannte zur Tür und drückte sie auf, bereit, sich, falls nötig, gegen einen Angriff zu verteidigen. Aber sie hatte die Furcht in Jeremys Augen gesehen. Er würde nicht angreifen, sondern hatte vor, sich aus dem Staub zu machen. Und wenn er es bis zum Waldrand schaffte, der kaum fünf Meter von der Hintertür entfernt lag, könnte ihm das glatt gelingen.
Sie sah ihn, wie er sich den Bäumen näherte, aber dann sah sie auch DeMarco, die ihn von der linken Seite des Hauses einholte. Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Waffe zu ziehen oder zu rufen, dass Jeremy stehenbleiben solle. Kate war erstaunt, wie schnell ihr Partner laufen konnte – sie war weitaus schneller als der Teenager.
Sie holte ihn ein, gerade, als er die ersten Bäume am Waldrand erreichte. DeMarco streckte den Arm aus, griff nach seiner Schulter, und riss ihn herum, so dass er sie ansah. Durch den Schwung begann Jeremy sich ein Kreisel zu drehen und vollführte eine dreihundertsechzig-Grad-Drehung, bevor er das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte.
Kate hastete die wackeligen Stufen der hinteren Veranda hinab, rannte zu DeMarco, und half ihr, Jeremy Branch Handschellen anzulegen.
„Wenn Sie weglaufen“, sagte Kate, „gehen wir davon aus, dass Sie etwas zu verbergen haben. Damit haben Sie uns auch soeben die Entscheidung abgenommen. Wir nehmen Sie mit auf die Wache.“
Darauf hatte Jeremy Branch nichts zu erwidern. Er keuchte hörbar, als DeMarco ihm mit den Händen auf dem Rücken gefesselt auf die Füße half. Als sie zum Wagen gingen, sah er verwirrt aus, als stehe er neben sich. Und als er nervös zurück zum Wohnwagen blickte, war Kate sich sicher, dass sie darin verdächtige Hinweise finden würden, die für Jeremy und seinen Bruder eine Menge Ärger bedeuten konnten, auch unabhängig von dem Mercy Fullers Verschwinden.
* * *Die Suche im Haus dauerte nicht lang. Während DeMarco draußen blieb, untersuchte Kate die Räume und hatte innerhalb von fünfzehn Minuten mehr als genug gefunden, womit sich die Branch-Brüder eine Menge Ärger einhandelten.
In einem der Schlafzimmer wurden über zweihundert Gramm Kokain und ein halbes Dutzend Ecstasy-Pillen gefunden. Im anderen Schlafzimmer befanden sich mehrere kleine Tütchen mit Gras, ein weiteres Dutzend Ecstasy-Pillen, und einige Behälter mit verschreibungspflichtigen Schmerzmedikamenten. Der große Kick war, als Kate unter dem Bett des zweiten Schlafzimmers ein kleines schwarzes Notizbuch fand. Die Aufstellung darin gab an, wer wie viel Geld schuldete, und wofür.
Sie war der Meinung, dass das erste Schlafzimmer, das sie untersucht hatte, Jeremy Branchs war. Das hatte sie anhand des recht provokativen Bildes herausgefunden, das auf seinem Nachttisch stand. Darauf waren er selbst und eine fast unbekleidete Mercy Fuller zu sehen. Aber es gab keine Tagebücher, keinen Laptop, nichts, was darauf hinwies, dass er etwas mit ihrem Verschwinden oder dem Tod ihrer Eltern zu tun hatte.
Eine interessante Sache fand sie allerdings. Etwas, das zumindest eine Frage beantwortete. In dem kleinen Badezimmer, das von Jeremys Schlafzimmer abzweigte, fand sie eine Zahnpasta in Reisegröße, ein Deodorant für Frauen und eine kleine, neue Zahnbürste. Scheinbar hatte Mercy diese Dinge gekauft, um sie hierzulassen, um verbergen zu können, dass sie mit dem Jungen intim geworden war, bevor sie nach Hause ging.
Sie verließ das Haus und watete durch das hohe Gras zum Wagen. „Die ganzen Produkte in Reisegröße habe ich in Jeremys Badezimmer gefunden. Scheinbar hat Mercy sie hiergelassen.“
„Das ist … süß, sage ich mal.“
„Oder eher etwas besessen?“, schlug Kate vor. „Jetzt kennen wir jedenfalls den Grund dafür, warum er abgehauen ist.“
Vom Rücksitz erklang Jeremys verängstigte Stimme. „Das ganze Zeug gehört meinem Bruder.“
„Und er lagert es also in Ihrem Schlafzimmer?“
„Ja, er verkauft es und… und…“
„Sparen Sie sich die Worte, bis wir auf der Wache sind“, sagte Kate. „Um ehrlich zu sein, sind die Drogen derzeit nur nebensächlicher Natur.“
„Ich habe nichts mit Mercy oder ihren Eltern zu tun, ich schwöre es.“
„Das hoffe ich doch“, sagte Kate, als sie losfuhr. „Aber wir werden wohl einfach abwarten müssen.“
Kapitel fünf
Als sie diesmal die Polizeiwache in Deton betraten, war der große Empfangstresen am Eingang zum Großraumbüro von einer Frau besetzt, die aussah, als habe man sie irgendwann einmal dorthin gesetzt und seitdem dort sitzenlassen. Sie war locker um die sechzig Jahre alt und als sie zu Kate, DeMarco und Jeremy Branch aufblickte, setzte sie ein einstudiertes Lächeln auf. Als sie allerdings merkte, worum es ging, verflüchtigte sich das Lächeln und sie versuchte, professioneller zu wirken.
„Sie sind die Agents?“, fragte sie.
„Ja, Ma’am“, sagte DeMarco. „Können wir Mr. Branch hierlassen?“
„Im Vernehmungsraum. Ich benachrichtige den Sheriff und lasse ihn wissen, dass Sie hier sind. Bitte folgen Sie mir.“
Die ältere Frau führte sie am Großraumbüro vorbei und denselben Flur hinunter, den sie schon mit Barnes entlang gegangen waren. Sie öffnete die Tür zum zweiten Raum rechts. Er sah genauso aus wie der, in dem sie früher am Tag die Besprechung mit Officer Foster gehabt hatten. Darin befand sich ein einzelner, alter Schreibtisch mit jeweils einem Stuhl auf jeder Seite.
„Setzen Sie sich“, sagte DeMarco und gab Jeremy einen leichten Schubs in Richtung des Tischs.
Jeremy widersetzte sich nicht, sondern leistete der Anweisung Folge. Als er saß, verschränkte er seine in Handschellen steckenden Hände vor sich und starrte sie an.
„Was hatten Sie für eine Beziehung zu Mercy Fuller?“, fragte Kate.
„Ich kannte sie kaum.“
„Ich habe ein Foto auf Ihrem Nachttisch gesehen, das einen anderen Eindruck erweckt.“
„Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzählte, dass sie solch eine … freundschaftliche Beziehung zu den meisten anderen Jungs hatte?“
„Ich würde erwidern, dass Sie damit eine ziemlich gewagte Behauptung aufstellen. Vor allem in einer Kleinstadt wie dieser, über ein Mädchen, das gerade beide Eltern verloren hat.“
Jeremy seufzte und zuckte mit den Schultern. Seine Unbekümmertheit ging Kate stark auf die Nerven, aber sie gab sich Mühe, professionell zu bleiben.
„Ich sagte Ihnen schon … ich weiß überhaupt nichts über die Familie.“
„Sie lügen“, sagte Kate. „Die Sache ist folgende … Sie können weiterlügen, aber dies ist eine kleine Stadt, Kumpel. Ich kann Ihre Lügen im Handumdrehen entlarven. Und wenn ich herausfinde, dass Sie mich belügen, dann werde ich mich mit Ihren Drogen befassen. Vielleicht werde ich einige der Leute ausfindig machen, die ihr wenig schlauer Bruder in seinem Notizbuch unter seinem Bett aufgelistet hat. Vielleicht erzähle ich denen, dass Sie mir gesagt haben, wo ich das Büchlein finde.“
Bei dem Gedanken weiteten sich seine Augen, und Jeremy rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Kate fragte sich, ob sie seinen Bruder benutzen konnte, um noch mehr herauszufinden, und wer von den beiden wohl unter Druck am ehesten nachgab.
Aber scheinbar musste sie nicht diese Richtung einschlagen. Sie konnte es buchstäblich sehen, als Jeremy entschied, dass ihm seine eigene Selbsterhaltung am wichtigsten war.
„In Ordnung. Ich kenne sie. Aber wir waren kein Paar oder so. Wir haben uns nur hin und wieder getroffen.“
„Dann war es eine sexuelle Beziehung?“
„Ja. Und mehr auch nicht.“
„Hat es Sie nicht gestört, dass sie erst fünfzehn ist?“
„Irgendwie schon. Ich hatte vor, Schluss zu machen, wenn ich achtzehn werde. Damit ich mir keinen Ärger einhandle, wissen Sie?“
„Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?“, fragte DeMarco.
„Vor ungefähr einer Woche.“
„Ist sie zu Ihnen gekommen?“
„Ja, wir hatten diese Routine. Wenn sie zu mir kommen wollte, hat sie mir getextet und ich habe sie drüben an der Waterlick Road abgeholt. Ihren Eltern hat sie dann erzählt, dass sie bei einer Freundin ist. Ich habe sie also abgeholt und wir sind zu mir gefahren.“
„Wie lange ging das schon so?“, fragte Kate.
„Vier oder fünf Monate. Hören Sie, ich weiß, es hört sich mies an, aber ich kannte sie wirklich nicht so gut. Es ging nur um Sex. Mehr nicht. Ich war ihr Erster … und sie war neugierig, wissen Sie? Sie war nicht verrückt nach Sex, aber wir haben uns schon oft getroffen.“
„Ich dachte, Sie sagten, sie sei zu den meisten Jungs so freundlich gewesen“, sagte DeMarco.
Die einzige Reaktion auf seine Lüge, die er hervorgebracht hatte, war, mit den Schultern zu zucken.
„Wie sieht es mit den Eltern aus“, bohrte Kate weiter. „Was können Sie uns über sie erzählen?“
„Nichts. Ich kannte ihren Vater. Ich meine, es ist eine Kleinstadt, da kennt man sozusagen jeden. Außerdem scherzte sie immer, wenn ihr Vater herausbekam, dass wir fi— Sex haben“, sagte er, da er es scheinbar unpassend fand, das f-Wort in Gegenwart zweier Frauen auszusprechen, „bringt er mich um.“
„Und Sie haben ihr geglaubt?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht. Ein Kerl denkt nie gern an den Vater eines Mädchens, mit der er ins Bett geht. Ich wusste nie, was ich von den Eltern halten sollte. Ich meine, sie hasste sie. Verachtete sie geradezu, wissen Sie?“
„Tatsächlich?“
„Angesichts dessen, wie sie von ihnen sprach, ja, ich glaube schon. Wenn ich nur…“
Hier hielt er inne und schien sich an etwas zu erinnern. Dann blickte er Kate und DeMarco an, als versuche er, herauszufinden, wie weit er gehen konnte.
„Was?“, fragte Kate.
„Also. Es war wahrscheinlich nicht in Ordnung, dass wir zwanzig Mal oder so miteinander geschlafen haben, obwohl ich sie gar nicht so gut kannte. Aber ich fand es immer merkwürdig, wie sie über ihre Eltern sprach.“
„Wie denn?“
Bevor er antworten konnte, klopfte es an der Tür. Sheriff Barnes steckte den Kopf herein und ein schneller Blick wechselte zwischen ihm und Jeremy. Kate meinte, dass dies wohl nicht das erste Mal war, dass Jeremy sich in diesem Raum befand.
„Jeremy Branch?“, fragte er. „Was zum Teufel macht er hier?“
„Wollen Sie es ihm selbst sagen, oder soll ich?“, fragte DeMarco. Sie gab Jeremy einige Sekunden Zeit, und als er nicht anfing zu sprechen, legte sie Barnes die Fakten dar. „Er hatte eine sexuelle Beziehung mit Mercy Fuller … noch bis vor einer Woche. Er hat uns gerade erzählt, dass er es seltsam fand, dass Mercy so schlecht über ihre Eltern gesprochen hat. Dass sie sie gehasst hat.“
„Du hast mit ihr geschlafen?“, fragte Barnes. „Verdammt, Sohn … wie alt bist du?“
„Siebzehn. Ich werde erst in einem Monat achtzehn.“
„Fahren Sie fort“, sagte Kate und brachte ihn wieder auf den Punkt zurück. „Erzählen Sie uns noch einmal, was Mercy so alles über ihre Eltern gesagt hat.“
„Einfach, dass sie nie irgendetwas durfte. Dass sie ihr nicht vertraut haben. Ich glaube, mit ihrer Mutter hatte sie einen Riesenstress, weil mindestens zweimal gesagt hat ‚Ich will die Schlampe einfach nur umbringen‘. Sie hat ihre Mutter gehasst.“
„Hat sie je von dem Verhältnis ihrer Eltern zueinander gesprochen?“, fragte Kate.
„Nein, darüber hat sie nicht oft gesprochen. Sie kotzte sich eine Weile aus, wurde richtig wütend, und dann hatten wir meistens Sex. Ich … ich weiß auch nicht. Ich hätte nie gedacht, dass sie es wirklich tut.“
„Was tut?“, fragte Barnes.
Jeremy blickte sie an, als hätte sie rein gar nichts begriffen. „Im Ernst? Sehen Sie … wie ich schon sagte, sie wirkt unschuldig, abgesehen davon, dass sie ziemlich nymphomanisch ist, aber wenn Sie den Killer ihrer Eltern suchen … dann finden Sie sie. Ich garantiere Ihnen, Mercy hat ihre Eltern umgebracht und dann die Stadt verlassen.“
Kapitel sechs
Bisher hatte noch niemand gegenüber dem Schreibtisch Platz genommen; Kate, DeMarco und Barnes standen noch immer. Doch als Jeremy diese forsche Aussage machte, ging Sheriff Barnes langsam zu dem Stuhl herüber und setzte sich direkt dem Teenager gegenüber. Mit einer Mischung aus Traurigkeit und Wut in den Augen fuchtelte er mit dem Finger vor Jeremys Gesicht herum.
„Ich bin seit sechzehn Jahren Sheriff in dieser Stadt, und ich kannte Wendy und Alvin Fuller ziemlich gut. Und soweit ich weiß, ist Mercy Fuller eine anständige junge Frau. Definitiv nicht ein Stück Dreck wie du, das sich immer wieder in Schwierigkeiten bringt. Und da du also hier sitzt und solche Anschuldigungen hervorbringst, möchte ich für dich hoffen, dass du eine verdammt gute Geschichte auf Lager hast, anhand derer du sie belegen kannst.“
Jeremy nickte; er hatte es zweifellos mit der Angst zu tun bekommen. „Die habe ich.“
Barnes verschränkte die Arme, lehnte sich zurück und blickte Jeremy höhnisch an. Als Jeremy anfing zu reden, blickte er die ganze Zeit auf Sheriff Barnes an. Hätte Kate raten sollen, dann hatte es wohl mit Jeremys Angst zu tun, dass Barnes sich vielleicht jeden Moment über den Tisch herüber auf ihn werfen könnte, um ihn zu erwürgen.
„Wir hatten seit ungefähr drei oder vier Wochen miteinander rumgemacht, als sie zum ersten Mal erwähnte, von zuhause weglaufen zu wollen. Sie fragte mich, ob ich mitkomme. Sie sagte, sie wollte nach North Carolina oder so. Ich habe sie damit aufgezogen, weil ich keinen Sinn darin sehe, nur einen Staat weiter zu ziehen. So hat sie mir auch nicht gefallen. Mein Bruder machte immer Witze darüber, dass ein Mädchen besessen wird von dem ersten Typen, mit dem sie schläft. Bei ihr war das wohl auch so. Jedenfalls, keine Chance, dass ich mit ihr weglaufe. Aber so, wie sie darüber redete, war klar, dass sie darüber wirklich nachdachte.“
„Glauben Sie, sie wollte weglaufen, weil sie ihre Eltern nicht leiden konnte?“, fragte Kate.
„Ich glaube schon. Ich meine, das ist der einzige Grund, der mir einfällt, warum jemand von zuhause weglaufen will. Ich meine … meine Eltern sind auch Arschlöcher, aber ich bin nie weggelaufen.“
„Nein“, sagte Barnes, „du bist einfach zwei Meilen weiter in den Wohnwagen deines Bruders gezogen. Vielleicht hatte Mercy diese Option nicht.“
„Trotzdem“, sagte Kate, um sicherzustellen, dass Barnes sie nicht vom Thema ableitete, „glauben Sie, sie meinte es wirklich ernst, wenn sie über das Weglaufen sprach? Anstatt nur Ihren Kopf mit Fantasien zu füllen, damit Sie bei ihr bleiben?“
„Nein. Aber sie hat immer wieder davon gesprochen, dass ihre Mutter durchdrehen würde auf der Suche nach ihr – nicht weil sie Mercy wirklich finden wollte, sondern weil sie dachte, dass Mercy ihr einen Schritt voraus war.“
„Wissen Sie von irgendeiner Form von Missbrauch bei ihr zuhause?“, fragte DeMarco.
„Ich glaube nicht, dass es da etwas gab. Jedenfalls nicht in letzter Zeit. Einmal hat sie erzählt, wie ihre Mutter ausgeflippt ist und ihr voll ins Gesicht geschlagen hat. Da war sie elf oder zwölf gewesen.“
„Und Sie sagen, dass sie nie direkt gesagt hat, dass sie sie umbringen wird?“, hakte Kate nach.
„Doch, ein paar Male. Sie sagte „Ich kann’s kaum erwarten, sie umzubringen“. Und dann hat sie davon gesprochen, ob sie es mit einem Messer macht oder mit einer Pistole. Sie redete gern darüber. Aber ich habe ihr gesagt, sie soll die Klappe halten. Wenn Mercy und ich zusammen waren, ging es nur um Sex. Ich wollte mir das nicht anhören, wie sie davon fantasierte, ihre Eltern zu töten, jedenfalls nicht, bevor wir zur Sache gekommen waren, wissen Sie?“
Als Jeremy aufhörte zu sprechen und alle drei anblickte, dachte Kate über das Gesagte nach. Er hatte hinsichtlich Mercys Promiskuität gelogen. Sie fragte sich, ob alles andere, was er gesagt hatte, auch gelogen war.
Sie lehnte sich zu Sheriff Barnes herüber und flüsterte, „Können wir uns einen Moment draußen unterhalten?“
Er nickte, erhob sich und musste dabei praktisch seine Augen von Jeremy losreißen. Er verließ den Raum nicht ruhig, sondern er stürmte hinaus. Er ging er schnurstracks in sein Büro, bevor er auch nur ein Wort zu Kate oder DeMarco, die ihm folgten, sagte. Er hielt die Tür für sie offen.
„Scheiße“, stieß er hervor.
„Glauben Sie, er sagt die Wahrheit?“, fragte Kate.
„Ich glaube, es sind genug Fetzen an Wahrheit dabei, um die Geschichte glaubhaft zu machen. Diese Sache, dass Wendy Fuller Mercy geschlagen hat … das ist wirklich passiert. Mercy hat damals die Polizei verständigt. Sie schien dabei nicht gerade traurig. Das ist etwa fünf Jahre her, aber ich kann mich gut daran erinnern. Sie war rachsüchtig. Sie wollte, dass ihre Mutter einen Haufen Ärger am Hals hatte. Am Ende lief es aber darauf hinaus, dass wir uns mit der Familie zusammengesetzt haben, und damit war die Sache erledigt. Damals hatte Wendy ein Alkoholproblem. Soweit ich weiß, ist sie seit zwei Jahren trocken. Aber was diesen Mist angeht, dass Mercy ihre Eltern hasst … ich bin mir da einfach nicht sicher.“
„Alles, was er uns erzählt hat, ist das genaue Gegenteil von dem, was Anne Pettus gesagt hat. Sie sagte, Mercy liebt ihre Eltern … und dass sie sich richtig gut verstehen.“
„Was mich beschäftigt“, begann Barnes, „ist, dass Jeremy Branch und sein älterer Bruder nichts als Unruhestifter sind. Seinen Bruder habe ich zweimal mit Drogen aufgegriffen und einmal wegen unsittlichen Verhaltens auf dem Rücksitz seines Wagens auf einem der Nebenstraßen. Jeremy hatte ich bisher nur einmal auf der Wache – wegen Diebstahls. Aber ich war mir immer sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis er auch ein ‚Stammkunde‘ wird.“
„Hätte er irgendeinen Grund zu lügen, als er sagte, er halte Mercy für den Killer?“; fragte DeMarco.
„Ich weiß es einfach nicht. Aber es macht schon Sinn, oder? Das Mädchen hat die Nase voll von ihren Eltern, bringt sie um, läuft weg.“
Kate nickte. Vor ihrem inneren Auge sah wie das Szenario vor sich, wie Mercy sich ihren nichtsahnenden Eltern näherte und beide umbrachte, noch bevor einer von ihnen die Chance hatte zu begreifen, was gerade passierte.
„Seit wann lebt Jeremy bei seinem Bruder?“, fragte Kate.
„Ich weiß nicht. Richtig dort wohnen tut er dort seit etwa einem Jahr. Aber auch vorher hat er immer wieder bei seinem Bruder mitgewohnt. Sein Bruder heißt Randy Branch – ein fünfundzwanzigjähriger permanenter Verlierer. Ihre Eltern haben sich vor etwa zehn Jahre scheiden lassen. Sobald er konnte, suchte sich Randy eine eigene Bleibe, diese miese Bruchbude draußen am Waldrand. Eine Zeitlang pendelte Jeremy zwischen seinem Bruder und seiner Mutter hin und her, aber dann zog sie zu ihrer Familie nach Alabama. Und danach hat sich sein Vater scheinbar überhaupt nicht mehr gekümmert.“
„Aber er lebt hier in der Gegend?“
„Ja, draußen an der Waterlick Road.“
„Wissen Sie, ob Jeremy je bei ihm übernachtet?“
„Aus erster Hand weiß ich das nicht, aber ich habe Gerüchte gehört. Eines davon besagt, dass Randy verruchte Partys schmeißt. Orgien, soweit ich weiß. Und er lässt Jeremy nicht dabei sein. An solchen Wochenenden übernachtet Jeremy bei seinem Vater.“ Er hielt inne und fügte dann fast skeptisch hinzu, „Glauben Sie, dass es Mercy war?“
„Glauben Sie es denn?“
Er zuckte die Schultern. „Ich will es nicht glauben, aber es beginnt, danach auszusehen. Um ehrlich zu sein, ich habe diese Möglichkeit schon in Betracht gezogen, bevor Sie hier ankamen.“
„Wir sollten Jeremy noch etwas länger hier behalten“, sagte Kate. „Können Sie veranlassen, dass uns in der Zwischenzeit jemand die Adresse und Kontaktinformation von Jeremys Vaters besorgt?“
„Ja, ich setze Foster darauf an“, sagte Barnes und griff zum Telefon. „Er wird froh sein, seiner Akte etwas hinzufügen zu können.“
Kate und DeMarco verließen das Büro und gingen zum Großraumbüro zurück. Leise sagte DeMarco: „Glaubst du, Jeremy Branch sagt die Wahrheit?“
„Ich kann es einfach nicht sagen. Seine Geschichte macht auf jeden Fall Sinn und verbindet viele Punkte miteinander. Aber ich weiß auch, angesichts all der Drogen, die ich bei ihm gefunden habe, hat er allen Grund der Welt, seine Spuren zu verwischen und die Aufmerksamkeit auf jemand anderen zu lenken.“
„Ich frage mich, ob er nicht selbst mit dem Morden zu tun hat“, sagte DeMarco. „Ein älterer Junge, der wollte, dass ein junges Mädchen ihm weiterhin hörig ist. Wenn sie ihre Eltern wirklich so sehr hasste, und er verrückt genug wäre, wäre er dann nicht auch verdächtig?“
Dieser Gedankengang klang vielversprechend; auch Kate hatte schon daran gedacht. Sie zog ihn noch immer in Betracht und hoffte, dass ein Besuch bei Jeremys Vater ihnen mehr Informationen lieferte.
„Agents?“
Beide wandten sich um und sahen Barnes aus seinem Büro treten. Er gab Kate einen Zettel und nickte. „Dies ist die Adresse von Floyd Branch. Doch seien Sie gewarnt … er kann ein ziemlicher Bastard sein. Polizeimarken und dergleichen beeindrucken ihn nicht sonderlich.
„Es ist mitten am Tag“, sagte Kate. „Sind Sie sicher, dass er überhaupt zuhause ist?“
„Ja. Er hat eine Garage, in der er an kleinen Motoren und dergleichen arbeitet.“ Barnes überprüfte die Uhrzeit und lächelte. „Es ist gleich 15:30 Uhr. Ich wette, dass er schon angefangen hat zu trinken. Wenn ich Sie wäre, würde ich so bald wie möglich hinfahren … bevor er vollkommen besoffen ist. Möchten Sie Verstärkung? Er ist ein ziemlicher Hillbilly. Ich kann es nicht anders beschreiben. Er wird zwei Frauen sehen und Sie nicht ernst nehmen.“
„Klingt ja herzallerliebst“, meinte Kate. „Aber klar. Kommen Sie mit, Sheriff. Je mehr von uns, desto besser.“
Sie glaubte nicht wirklich daran, dass es so laufen würde, aber sie kannte die Art Mann, die Barnes beschrieb. Gerade im Süden war sie vielen von ihnen begegnet. Dort gab es ländliche Gegenden, in denen die Männer einfach noch nicht auf dem aktuellen Stand der Welt waren. Nicht nur, dass sie keinen Respekt vor Frauen hatten, sondern sie sahen sie nicht einmal als gleichwertig an. Selbst, wenn sie eine Marke und eine Waffe trugen.
Gemeinsam verließen sie die Wache und stiegen in den vom FBI geliehenen Wagen, in dem DeMarco aus Washington DC hergefahren war. Wow, und all das war nur heute Vormittag, dachte sie.
Sie musste an Allen denken, und an die Pläne, die er für sie gehabt hatte – in die Berge zu fahren, Wein zu trinken, auszuschlafen, und andere Dinge im Bett, die mit schlafen nichts zu tun hatten.
Und obwohl es sie traurig stimmte, all dies zu verpassen, gab sie doch zu, jetzt genauso aufgeregt zu sein, da der Fall sich langsam vor ihnen ausbreitete. Sie musste noch an der Balance zwischen ihrem Privatleben und ihrer besonderen Stellung beim FBI arbeiten, aber im Moment fühlte sie sich, als liefe alles genau so, wie es sein sollte.






