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Mehr Gas, sagt Ahmed und hebt leicht die Füße an, so als würde das Wasser schon im Wagen stehen.
Die Räder drehen kurz durch, greifen schließlich, der Wagen macht einen Sprung, und dann sind wir draußen aus dem Fluss.
Auf der anderen Seite ist die Piste besser und ich habe wieder die Nerven, mich mit Ahmed zu unterhalten.
Warum sprechen Sie so gut Englisch, frage ich ihn.
Oxford, sagt er mit einer Engelsmiene.
Ich schaue ihn groß an, komme aber nicht dazu, nachzufragen, weil er gleich nachsetzt.
Ein Scherz, sagt er. Ich habe nie eine Universität von innen gesehen. Was ich an Fremdsprachen kann, habe ich von Touristen aufgeschnappt.
Nicht übel, sage ich.
Fast perfekt, sagt Ahmed und schmunzelt aus der Windschutzscheibe hinaus, dorthin, wo quer vor uns auf der Straße ein Baum liegt. Zum Glück ist er nicht besonders groß. Wir steigen aus und wuchten den Stamm zur Seite. Als wir zurückgehen zum Wagen, wischt sich Ahmed die Hände an seinem Kaftan ab.
Ist witzig, sagt er.
Was, frage ich.
Sie haben fast das gleiche Gesicht wie Ihr Bruder und auch eine ganz ähnliche Stimme, und trotzdem schauen Sie ganz anders aus und hören sich ganz anders an. Sie mögen Ihren Bruder nicht besonders, stimmt’s?
Ganz offensichtlich hat Ahmed als Reiseführer mehr als nur passables Englisch gelernt. Wenn man seit fast fünfzig Jahren mit Fremden durch diese Einöde fährt, kommt man wahrscheinlich mit den absonderlichsten Spielarten der menschlichen Psyche in Kontakt, und wenn man dann noch, so wie Ahmed zweifelsohne, über einen ungewöhnlichen Instinkt verfügt, gibt es wohl nur wenige Gesichter, hinter die man nicht blicken kann. Auch etwas, das er mit meinem Bruder gemeinsam hat.
Dass ich ihm nicht antworte, scheint Ahmed nicht weiter zu stören, ganz im Gegenteil, er macht einfach weiter mit seiner Fragerei.
Warum sind Sie eigentlich nicht gemeinsam unterwegs, ich meine, Ihr Bruder und Sie?
Etwas mit seinem Handy, sage ich. Ich konnte ihn nicht erreichen.
Ahmed nickt, und ich sehe ihm an, dass er mir kein Wort glaubt.
Ist ja auch egal, sagt er. Ich bin auch lieber allein.
Wieder kommen wir an einen Fluss. Dieses Mal ist das Wasser seichter und wir schaffen es ohne Probleme auf die andere Seite.
Jetzt ist es nicht mehr weit, sagt Ahmed und zeigt auf eine Handvoll Lehmhäuser vor uns. Wir stellen den Wagen ab und gehen zu Fuß weiter.
Wir folgen dem Fluss, balancieren über Steine und stapfen über eine lang gezogene Sandbank wie durch Schnee. Schwalben machen knapp über der Wasseroberfläche Jagd auf Insekten, und ich entdecke Hufspuren von Rehen an der Wasserlinie.
Warum interessiert sich Ihr Bruder eigentlich so für Geister, fragt mich Ahmed, der mit seinen gelben Lederpantoffeln immer wieder im Sand hängenbleibt.
Ach so, frage ich und schaue ihn an. Tut er das?
Ja, sagt Ahmed, er hat mich ausgefragt. Geisterlegenden, Geistergeschichten, Geistermärchen, er wollte alles wissen.
Keine Ahnung, was es damit auf sich hat, sage ich und überlege, und da fällt mir eine Sache ein, an die ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht habe. In der Kindheit, wenn wir alleine zu Hause waren, wollte mein Bruder immer, dass wir Geister spielen. Wir haben uns Masken gebastelt aus Papiermaché und alle Jalousien zugezogen, sodass es stockdunkel war in der Wohnung. Ich habe immer recht rasch Angst bekommen, mein Bruder natürlich nicht, und als ich gemeint habe, es reicht, hat er die Jalousien nur widerwillig wieder aufgemacht. Er hat die Maske aber aufgelassen und sich sogar schlafen gelegt mit ihr, und am nächsten Morgen hat er die Abdrücke im Gesicht gehabt und ausgesehen, als wäre er über Nacht tatsächlich zum Geist geworden. Ahmed erzähle ich die Geschichte nicht. Wahrscheinlich kennt er sie ohnehin schon von meinem Bruder.
Stattdessen lasse ich den Blick über die Uferböschung wandern, auf der Suche nach den Felszeichnungen. Immer wieder glaube ich Tierköpfe zu entdecken, im Näherkommen stellen sie sich aber als Sprünge und Risse heraus. Dann steigt Ahmed zu einem knorrigen Baum hinauf, in dessen Schatten mehrere Felsblöcke stehen. Er zündet sich eine Zigarette an, lehnt sich an den alten Stamm und zeigt betont gleichgültig mit dem Daumen hinter sich.
Das erste, was ich sehe, ist ein Auto, das Kinder unbeholfen in den Stein geritzt haben. Erst im Näherkommen, entdecke ich darunter, völlig verblasst, die Darstellung zweier Rinder. Ein gescheckter Bulle und eine Kuh, und dazwischen taucht jetzt auch, kaum mehr zu erkennen, eine menschliche Figur auf, die Arme hoch in den Himmel gereckt. Auf einem Stein daneben ist ein Hirsch mit einem kapitalen Geweih zu sehen, aber mehr ist da nicht, und das wenige, was da ist, verliert durch die blöde Autozeichnung völlig an Wirkung.
Und, frage ich Ahmed. Wie hat es meinem Bruder gefallen?
Er war begeistert. Wir sind geschlagene zwei Stunden hier gewesen. Alle Touristen, die ich bisher hierhergebracht hatte, waren völlig enttäuscht und wollten gleich wieder gehen, aber Ihr Bruder hat gar nicht genug bekommen können von den Zeichnungen. Hat sie fotografiert, ist die Linien mit den Fingerkuppen nachgefahren, oder ist einfach nur dagesessen, hat den Kopf schräg gelegt, und sie angestarrt.
Sie haben vorher gemeint, dass mein Bruder Geistergeschichten hören wollte, sage ich. Erzählen Sie mir auch eine?
Kann ich gerne machen. Wollen Sie die hören, die Ihrem Bruder am besten gefallen hat?
Ich setze mich zu ihm unter den Baum, und als Ahmed anfangen will zu erzählen, frage ich ihn nach einer Zigarette. Eigentlich habe ich aufgehört, aber mein Bruder raucht nicht, und mit der Zigarette in der Hand komme ich mir nicht vor wie das um eine Woche zu spät gekommene Abziehbild von ihm.
Und, fragt Ahmed und schaut mir zu, wie ich einen tiefen Zug nehme. Soll ich anfangen?
Yep, sage ich, und wenn Ahmed etwas genauso gut kann wie Menschen zu entschlüsseln, dann ist das, Geschichten zu erzählen. Ich kann das nicht. Was ich hier wiedergebe, ist nur der Rumpf der Erzählung, die harten Fakten: Einen Mann hat es da gegeben, der sich in eine junge Frau verliebt hat, die hat so vollkommen ausgesehen wie eine der Jungfrauen aus dem Paradies. Seine Freunde beschworen ihn, er solle sich fernhalten von ihr. So eine Vollkommenheit gibt es auf Erden nicht, warnten sie ihn, die Frau ist ein Geist, anders kann es gar nicht sein. Der Mann entgegnete nichts darauf, und seine Freunde meinten schon, sie hätten ihn überzeugt, da lud er sie wenige Tage später zu einem großen Fest ein. Der Mann hatte keine Kosten und Mühen gescheut. Es gab die feinsten Speisen und Getränke, Musik und Tänzerinnen, und alle unterhielten sich prächtig. Immer wieder ging der Mann durch die Reihen seiner Freunde und fragte, ob irgendetwas fehle, und immer wieder versicherten sie ihm, dass die Feier keinen Wunsch offen lassen würde. Mehr als hier gibt es nicht auf Erden, sagte schließlich einer, und da lächelte der Mann und nickte in tiefer Zufriedenheit, und als sie ihn wenig später suchten, war er verschwunden, und danach hat man ihn und die geheimnisvolle Frau niemals wieder gesehen.
Ahmed sieht mich fragend an, als würde er wissen wollen, wie mir die Geschichte gefallen hat.
Du kannst gut erzählen, sage ich zu ihm.
Dass ich mit der Geschichte wenig anfangen kann, sage ich ihm nicht.
Hat mein Bruder gesagt, was ihm an der Geschichte so gut gefallen hat?
Ja, er meinte, dass er den Mann beneiden würde, weil er das auch gerne können würde.
Was, frage ich.
Mit Geistern sprechen, sagt Ahmed.
Zurück in Tafraoute trinken wir noch einen Tee zusammen. Ahmed versenkt einen großen Zuckerwürfel in seinem Glas. Ich schiebe meinen Zucker zur Seite.
Brauchen Sie den nicht, fragt er, und noch bevor ich antworten kann, lässt er den Würfel in seinen Tee gleiten.
Hat mein Bruder gesagt, wo er als nächstes hinwill?
Er hat mich gefragt, wo er die besten Chancen hätte, einen Geist zu treffen.
Und? Was haben Sie ihm gesagt?
Ich habe ihm von Sidi Ifni erzählt.
Sidi Ifni, frage ich, weil ich den Namen noch nie gehört habe.
Eine Stadt an der Küste, sagt Ahmed, südlich von hier. Die Spanier haben Sie in den 1930er-Jahren gebaut. Alles im europäischen Stil. War eine wichtige Handelsniederlassung für sie. Und natürlich ein sündiges Nest. Viele weibliche Dämonen, wenn Sie wissen, was ich meine. Als die Spanier gehen mussten, war es vorbei mit dem Glanz. Alles versank in einen tiefen Schlaf. Die Häuser stehen aber noch. Sieht alles aus wie vor achtzig Jahren. Und nachts ziehen noch immer die Geister von damals durch die Straßen.
Und was hat mein Bruder dazu gesagt?
Er hat gesagt, dass sich das gut anhört.
Nach Sidi Ifni sind es knapp hundertfünfzig Kilometer. Obwohl ich auf der Hauptstraße unterwegs bin, herrscht kaum Verkehr. Nur hin und wieder kommen mir Sammeltaxis entgegen, alte Peugeots und breite Mercedes-Limousinen, alle in diesem seltsamen Grünton lackiert. Die Straße windet sich wie eine satte Riesenschlange durch die Berge, silbrig-grau, gemustert mit den Rissen und Schlaglöchern im Asphalt. Die Sonnenbrille meines Bruders, die ich vor zwei Tagen auf der Passhöhe gefunden habe, liegt auf dem Armaturenbrett und beobachtet mich mit ihrem leeren und ihrem gesprungenen Auge.
Du Schuft, fahre ich sie wütend an, muss aber gleich darauf lachen und spüre im nächsten Moment, wie mir die Augen feucht werden. Mein Bruder hat mich regelmäßig in so einen Gefühlswirrwarr aus Wut und Traurigkeit geschickt, mit einem hysterischen Lachen dazwischen. Gar nicht absichtlich wahrscheinlich. Das ist einfach er. Und wenn er mich wieder ungewollt fertiggemacht hat, hat er mich angestarrt wie ein Verhaltensforscher seine Laborratte. Ausgenutzt hat er diese Situationen aber nie. Ganz im Gegenteil. Er ist ganz ruhig geworden, ungewohnt zurückhaltend war er in diesen Momenten und hat mich fast ergriffen beobachtet.
Die Landschaft weitet sich jetzt zu einer Hochebene, die Straße führt kerzengerade dahin. Schon von Weitem fällt mir ein knallroter Fleck auf, lässt sich auch gar nicht übersehen in dieser leeren Wüstenlandschaft, die nur aus Brauntönen besteht. Irgendein Stofffetzen, den jemand an einen Stock gehängt hat, der da allein und windschief neben der Straße im Boden steckt. Weil ich mir ohnehin ein wenig die Füße vertreten will, halte ich und sehe mir die Sache aus der Nähe an. Was da hängt, ist eine alte Wollhaube, an mehreren Stellen eingerissen und aufgetrennt, die Fäden hängen lose herunter. Ich nehme sie ab und wundere mich nicht schlecht, als ich darunter eine CD entdecke. Bonnie »Prince« Billy &The Cairo Gang, sagt mir nichts, noch nie gehört, hört sich nach einem dieser Weltmusik-Projekte an, für die sich ein bekannter westlicher Musiker mit einer unbekannten Band aus der Dritten Welt zusammentut. Die CD ist völlig zerkratzt, aber seltsam, die Kratzer sehen nicht wie gewöhnliche Abnutzungsspuren aus, mehr so, als hätte sie jemand absichtlich in die silberne Oberfläche geritzt. Ich stecke sie in den CD-Spieler im Auto, sie springt gleich weiter auf den zweiten Track. Teach me to bear you, heißt es im Refrain. Wer da wen auszuhalten hat, denke ich, weil ich mir sicher bin, dass mein Bruder die CD für mich hinterlassen hat. Die gehört zu der seltsamen Schnitzeljagd, die er für mich inszeniert, der Spinner.
Allzu viel verstehe ich nicht von dem Text, aber beim zweiten Anhören bleibt noch eine Zeile hängen. I want to read you a life of parties and wisdom. Ja, mit vollen Hosen lässt sich leicht stinken. Wem alles leicht von der Hand geht, der kann einem natürlich entspannt erzählen von einem Leben, das aus ausgelassenem Feiern und Weisheit besteht. Verdammter Alleskönner. Egal, womit er sich beschäftigt hat, ein paar Tage später hat er die Sache beherrscht. Ist natürlich ein Albtraum, wenn der eineinhalb Jahre jüngere Bruder ein Genie ist. Da bekommt man von seinen Eltern eine Menge Aufmerksamkeit ab und fühlt sich so richtig wohl. Angefangen hat das schon ganz früh, noch als wir Kleinkinder waren. Wenn wir mit Holzklötzen spielten, waren seine Türme immer höher als meine und fielen auch nicht gleich wieder um. Und wer beim Memory-Spielen gewinnen wird, stand auch immer von vornherein fest. Und das noch bevor er richtig sprechen konnte. Am schlimmsten war aber der Abend vor meinem ersten Schultag. Ich war ja auch nicht blöd und kannte damals schon alle Buchstaben, was ich meinen Eltern stolz präsentieren wollte. Mit einem Buch setzte ich mich zwischen sie auf die Couch und begann daraus vorzulesen. Da kam mein Bruder und hockte sich scheinbar ganz unbeteiligt dazu. Und gerade als ich umblättern wollte, fuhr er plötzlich fort und sagte die ganze nächste Seite auswendig auf. Wir glaubten zuerst, er hatte sich das alles durchs Zuhören gemerkt, aber mein Vater zog daraufhin die Zeitung aus seiner Aktentasche und hielt sie meinem Bruder hin, und der las daraus vor, als gäbe es nichts Einfacheres auf der Welt. Brauche ich jetzt nicht dazusagen, wohin die Aufmerksamkeit meiner Eltern gewandert ist und wo sie blieb und was mir sofort einfällt, wenn ich an meinen ersten Schultag denke.
Dabei bemühten sich meine Eltern, uns gleich zu behandeln. Wenn sie anderen von uns erzählten, begannen sie immer mit mir, es gab ja auch viel über mich zu sagen, ich war ja, wie gesagt, auch nicht blöd, aber eben kein Genie, und so war die Begeisterung gespielt, wenn sie von mir sprachen, und echt, wenn es um meinen Bruder ging. Das spürt man schon als Kind, und da will man natürlich raus, und mich hat das deshalb zum Getriebenen gemacht. Von da an war ich immer auf der Suche nach einer Sache, die unberührt war von meinem Bruder, nach etwas, das ich für mich allein hatte. Doch kaum begann ich, irgendetwas zu spielen oder mich für irgendetwas zu interessieren, tauchte mein Bruder auf, setzte sich dazu, ja, und dann war es nur mehr eine Frage der Zeit, bis er mich völlig in den Schatten stellte.
Die letzte Passhöhe, und von da an fällt das Land steil ab hinunter zur Küstenebene. Eine Serpentine folgt auf die nächste, weiß blühende Mandelbäume gleich hinter den rostigen Leitplanken, und in der Ferne, dort, wo wahrscheinlich das Meer liegt, blaugrauer Dunst. Ich habe mir den Weg gestern Abend noch auf der Karte angesehen. Es gibt eine größere Stadt auf der Route, Tiznit. Dort will ich zu Mittag essen. Tiznit und darunter 17 steht auf einem Kilometerstein neben der Straße, in zwanzig Minuten müsste ich da sein. Der Verkehr nimmt zu, und ich folge einer vierspurigen Straße ins Stadtzentrum. Männer auf Motorrädern fahren neben mir her, rufen mir etwas zu durch den Fahrtwind, erst langsam komme ich drauf, dass sie mir gegen Bakschisch den Weg in die Altstadt zeigen wollen. Ich winke ab, als würde ich mich auskennen hier, tatsächlich kann ich mich gar nicht verirren, ich bin wie ein Flugzeug, das einem unsichtbaren Leitstrahl folgt, von meinem Bruder auf Autopilot geschaltet. Ich erreiche einen großen Platz mitten in der Altstadt und stelle den Wagen ab. Gleich kommen junge Männer auf mich zu, die mir ihr Geschäft zeigen wollen. Mein Bruder wartet auf mich, sage ich und flüchte zusammen mit meiner Ausrede, die eigentlich nur eine halbe Ausrede ist, in ein verwinkeltes Gässchen, halbschattig die Luft mit einem Mal und halbschattig die Stimmen, fast so, als hätte ich einen Innenraum betreten. Rechts der Laden eines Uhrmachers, im Schaufenster alte silberne Taschenuhren und offene Räderwerke, gegenüber ein Süßwarenhändler, der selbst Zuckermandeln und Aschanti brennt, es riecht nach Kardamom und Karamell wie aus einem Märchenbuch, und dann, ein Stück weiter die Gasse hinunter, das Geschäft eines Fotografen. Innen, direkt ans Fensterglas geklebt, sind alle möglichen Aufnahmen zu sehen. Ansichten von Tiznit, kleine Mädchen in rosafarbenen Rüschenkleidern und junge Männer mit den Frisuren bekannter Fußballer. Und dann – und es wundert mich erstaunlich wenig – entdecke ich neben dem Eingang ein Foto meines Bruders. Völlig unverändert ist er, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen habe vor zwei Jahren. Noch immer der unverwechselbare und laut Meinung vieler Frauen und auch einiger Männer unwiderstehliche, lausbübische Blick, die Wangen mit den leichten Grübchen, wenn er lacht, und die wild nach allen Seiten abstehenden blonden Haare. Wie Ahmed schon bemerkt hat, sehen wir einander ähnlich und auch wieder nicht, ich habe die gleichen Augen, aber einen anderen Blick, die gleichen Wangen, nur kann ich lachen, so viel ich will, es zeigt sich nicht auch nur der Anflug eines Grübchens, und meine Haare haben zwar die gleiche Farbe, fallen aber in einen biederen Scheitel, egal wie viel Gel ich verwende.
Ja, es stimmt natürlich. Viele meiner Freundinnen waren mit Sicherheit nur mit mir zusammen, weil sie es nicht geschafft hatten, sich meinen Bruder zu angeln. Ich war Ersatz, aber das war ich mit diesem Bruder ja immer, und letztendlich ist jeder doch immer nur irgendwie Ersatz, und außerdem gewöhnt man sich an alles. Unangenehmer war es mit den Mädchen, bei denen ich spürte, dass sie meinen Bruder noch nicht ganz aufgegeben hatten und nur mit mir zusammen waren, um in seine Nähe zu kommen. Zu seiner Ehrenrettung muss ich aber sagen, dass er nie etwas mit einer von ihnen angefangen hat, zumindest habe ich ihn nie dabei erwischt.
Der Fotograf ist ein wilder Typ, nicht mehr der Jüngste, vielleicht Mitte, Ende sechzig, gibt sich aber wie ein Künstler-Bohemien im Paris der 1960er-Jahre. Er begrüßt mich überschwänglich auf Französisch und palavert auch gleich drauflos, und es dauert einige Zeit, bis ich ihm beibringen kann, dass ich kein Wort verstehe. Er lässt sich aber nicht unterkriegen und erzählt sich in einen Rausch über Paris vor vierzig Jahren, als er dort studiert und Sartre auf der Straße zugehört hat.
Irgendwie schaffe ich es schließlich, seinen Redefluss zu unterbrechen und ihn mit mir auf die Straße zu ziehen. Wie er diesen Mann kennengelernt hat, will ich von ihm wissen und zeige auf das Bild meines Bruders.
Ach ja, sagt er, so als hätte er damit gerechnet, dass ich vorbeikomme.
Der ist vor vier, fünf Tagen hier gewesen und wollte, dass ich ihn mit dieser Kette fotografiere.
Eine Kette war mir gar nicht aufgefallen, und ich beuge mich noch einmal hinunter zu dem Bild. Mein Bruder trägt eine alte Münze um den Hals.
Er hat gesagt, dass die Münze auf jeden Fall scharf sein muss.
Ich sehe sie mir genauer an, die Nase fast am Glas. Die Prägung lässt sich gut lesen. Es ist eine spanische Münze aus den Dreißigerjahren, wahrscheinlich wollte mir mein Bruder damit einen weiteren Hinweis auf diese geheimnisvolle spanische Kolonialstadt, dieses Sidi Ifni, zukommen lassen. Nur für den Fall, dass ich in Tafraoute Ahmed nicht getroffen hätte, von dem ich mir mittlerweile sicher bin, dass er an dem Abend im Marrakesh auf mich gewartet hat.
Der Mann ist mein Bruder, sage ich, und wieder muss der Fotograf lachen.
Ich weiß, sagt er, und dabei grinst es nur so aus ihm heraus.
Ich bin es gewohnt, dass mein Bruder Scherze über mich macht. Früher hat mich das verunsichert, heute stört es mich nicht mehr. Gut, es stört mich, aber nicht mehr so wie noch vor zehn Jahren. Es fällt mir mittlerweile leichter, gewisse Dinge zu ignorieren. Mein Bruder meint es ja auch nicht böse, er ist einfach ein Spaßvogel. Erst ein Witz und dann alles andere, das ist seine Einstellung. Ja, ich verteidige meinen Bruder vor mir selbst. Eine Hälfte von mir versteht ihn besser als die andere. Dieses verdammte Lächeln. Wie soll man so einem auch böse sein.
Der Mann steckt das Foto in ein großes, braunes Kuvert. Umgerechnet zehn Euro verlangt er dafür. Ich versuche nicht einmal, den Preis herunterzuhandeln. Damit hat er seinen Tagesumsatz gemacht. Wenn ich in einer Stunde noch einmal vorbeikomme, wird der Laden geschlossen sein und er wird in einem Café sitzen und von Paris träumen. Soll sein. Ist doch eine gute Sache, einem alten Mann sein Träumen zu finanzieren. Die Vorstellung, wie er so zufrieden im Schatten sitzt und in seinem Tee rührt, hat etwas. Genauso geht es, das Leben. Kann aber nicht jeder. Die einen haben das in ihrer DNA, die anderen nicht. Mein Bruder gehört zusammen mit dem Fotografen zu Ersteren, ich zu Zweiteren. Aber man kann es ja immer wieder mal versuchen, und so beschließe ich hier und jetzt, mich von meinem Bruder und seinem albernen Foto nicht zur Eile antreiben zu lassen. Sidi Ifni kann warten, genauso wie diese alberne Schnitzeljagd. Ich will mich jetzt einfach treiben lassen durch diese Gassen und mich den Eindrücken hingeben. Da steigt mir auch schon ein intensiver Duft von Gebratenem in die Nase. An der nächsten Ecke entdecke ich einen Mann, der mit einem kleinen Holzkohlengrill auf der Straße steht, brutzelnde Spieße auf der Glut. Es sieht gut aus, die scharf angebratenen Fleischstücke, das Fett, das zischend auf die glühenden Kohlen tropft, hochzüngelnde Flammen, die der Mann gleich wieder mit seinem ölig glänzenden Strohfächer verweht, der Geruch nach Kreuzkümmel und Pfeffer. Ich habe ein wenig Ahnung von Gewürzen, habe sogar einige Kochkurse belegt, aber wieder aufgehört. Ja, genau, ein begnadeter Koch ist er auch, mein Bruder. Weit besser, als ich es je hätte werden können, also habe ich es wie so vieles andere auch bleiben lassen. Einer der unzähligen Grabsteine auf meinem Friedhof der ungenutzten Möglichkeiten.
Neben dem Holzkohlengrill stehen billige Campingmöbel, zwei Tische und ein paar Sessel aus schmutzigem, weißem Plastik. Der Verstand sagt nein und erzählt mir ein Dutzend Geschichten über Durchfall und Magenkrämpfe, aber dann sehe ich meinen Bruder, der über mich lacht, wie ich so dastehe und grüble und raufe mit meiner Vernunft, und setze mich aus Trotz hin. Bevor ich noch etwas sagen kann, kommt der Mann mit einem Brotkorb, und gleich darauf bringt er eine große silberne Platte mit sicherlich einem Dutzend Spießen darauf. Ich nicke ihm zu in glücklichem Ausgeliefertsein. Anscheinend bin ich doch so gestrickt, dass ich jemanden brauche, der mir sagt, wie es weitergeht. Ja, muss so sein, warum wäre ich sonst auch hier.
Zu viel, sage ich, und der Mann lacht, und wie schon mehrmals in Marokko bekomme ich diese federleichte Geste zu sehen, die Hände, die sanft die Luft nach unten drücken, oder alles, was sonst nach oben steigen und einem Lust und Zeit rauben könnte. Warte ab, sagen seine Hände, und so esse ich einfach ganz gemächlich unter seinem Lächeln dahin, und als die Platte sich tatsächlich langsam leert, da meinen seine Hände mit einem langsamen Bogen nach oben, na, habe ich es dir nicht gesagt?
Auf meinem Rückweg zum Parkplatz komme ich durch die Gasse mit den Parfümhändlern. Wilde Gerüche. Am dominantesten eine schwere, blumige Süße. Zäh wie Honig. Ein nuttiger Duft. Ich mache den Fehler und schaue in ein Schaufenster, in dem in Gläsern die Blüten, Hölzer und Früchte ausgestellt sind, aus denen die Aromen gewonnen werden. Der Ladeninhaber stürzt sich gleich auf mich, die linke Hand voller kleiner Flacons. Schon sprüht er mir den ersten Duft auf den Handrücken, ich rieche daran, rümpfe die Nase und winke ab. Zu schwer, versuche ich ihm begreiflich zu machen und schiebe mich gleichzeitig die Gasse weiter und glaube schon, ihn abgeschüttelt zu haben, als er plötzlich wieder neben mir auftaucht, dieses Mal auf der anderen Seite, und mir auch den zweiten Handrücken vollsprüht. Irgendetwas mit Jasmin. Nicht mehr so schwer wie der erste Duft, aber immer noch viel zu intensiv. Wieder winke ich ab, der Mann lässt aber nicht locker. Mittlerweile sind wir auf dem großen Platz, da vorne steht schon mein Wagen, no, thanks, sage ich noch einmal und taste in der Hosentasche nach dem Autoschlüssel. Ich drücke auf den Knopf, ich höre, wie die Zentralverriegelung aufschnappt und sehe die Warnblinkanlage kurz aufleuchten. Ich steige ein, werfe die Tür hinter mir zu und starte den Wagen. Es ist so unerträglich heiß, dass ich, noch bevor ich losfahre, das Fenster auf der Beifahrerseite herunterlasse. Der Mann bemerkt das und läuft herüber, und setzt plötzlich, als er sich herunterbeugt, einen ganz geheimnisvollen Blick auf. I don’t show everybody, sagt er und hält einen dunkelblauen Flacon hoch, this mixture is the secret of my family for many, many generations. The scent of ghosts, sagt er und sprüht mir seinen Geistergeruch in den Wagen, sodass ein paar feine Tropfen auf der Sonnenbrille meines Bruders landen. Die Brille sieht mich ohne Augen an, der Duft riecht nach nichts, was ich kenne.