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Ich schmiss meinen Fotowiderstand aufs ungemachte Bettsofa.
Das war ja leicht. 25600 Messwerte pro Bild, und wir brauchten mehrere davon.
»Guck mich nicht so an«, sagte Tommy. »Ich mach da nicht mit. Bin doch nicht bescheuert.«
Ich aß eine halbe Tafel Schokolade und beschloss, mir ein leichteres Projekt zu suchen. Zum Beispiel: Tommy loswerden.
Ein paar Tage später
»Bist du bescheuert?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Es ist die einzige Möglichkeit, die mir eingefallen ist.«
Anna biss energisch in ihr Pausenbrot und kaute. »Wozu find Computer doch gleich gut? Aufer zum Fpielen?«
Ich verdrehte die Augen. »Sie nehmen uns Menschen unangenehme Arbeit ab«, zitierte ich mich selbst.
»So«, sagte Anna, »bloß in diesem Fall nicht, oder was? Du musst dir etwas Besseres einfallen lassen.«
»Hm«, machte ich und überlegte, mit welchen Worten ich den Plan für gescheitert erklären konnte, ohne dass sich alle Computer dieser Welt in der nächsten Ecke schämen mussten. Und vor allem, ohne dass sich unsere Wege trennen würden.
Anna fuchtelte mit dem angeknabberten Brot herum. »Dieses Fotodings vor dem Fernseher hin und her zu bewegen, ist doch eine stupide, einfache Arbeit. Bau eine Maschine dafür. Oder leite eine her.«
»Eine Maschine«, murmelte ich. »Kompliziert.«
Mit übertriebener Gestik stemmte Anna die Hände in die Hüften. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass das alles einfach ist? Die wenigsten faulen Leute werden reich, ohne jemanden zu beerben oder im Lotto zu gewinnen. Man muss schon was tun, um Erfolg zu haben. Manchmal mehr, als man eigentlich will. Du kannst die Welt nicht ändern, wenn du faul bist.«
Da mochte ich Anna nicht widersprechen. »Trotzdem. Selbst wenn wir es schaffen, Bilder in den Computer zu kriegen, würdest du wirklich eine Freundin finden, die sich vor der Kamera ...« Ich wechselte auf Flüsterlautstärke. »… auszieht?«
Anna zog mich am Jackenärmel zum nächsten Mülleimer und warf die Überreste ihrer Mahlzeit hinein. »Du hast mir nicht zugehört, oder? Erfolg fällt nicht vom Himmel. Schonmal was vom inneren Schweinehund gehört?«
»Äh … sicher.«
»Meiner heißt Egon.«
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Dein innerer Schweinehund hat einen Namen?«
»Ja. Einen fürchterlichen. Das macht es leichter, mit ihm zu schimpfen. Ihm in den Hintern zu treten oder so zu tun, als wäre er Luft.«
Aus irgendeinem Grund musste ich an Tommy denken. Der bestand ja auch nur aus Luft. Dass ich diesen Schweinehund jemals »überwunden« hätte, wäre allerdings bestenfalls eine Beschönigung gewesen.
In diesem Moment verkündete der Gong das Ende der Pause.
»Findest du, dass ich gut aussehe?«, fragte Anna leise.
Ich musste mich am Mülleimer festhalten. Verkniff mir eine Rückfrage und beeilte mich, zu antworten: »Na klar.« Hoffentlich klang das nicht zu inbrünstig. Immerhin war mindestens ein kleiner Teil von mir immer noch in dieses Mädchen verknallt. Obwohl ich mir die ganze Sache ganz anders vorgestellt hatte, konnte ich nicht abstreiten, dass mir die Situation gefiel. Wenn ich ehrlich war, hatte ich in den letzten Jahren nie so viel Spaß gehabt. Auch wenn es eine sonderbare Art von Spaß war, gemeinsam Hausaufgaben zu machen, dabei gelegentlich kalte Zehen zu wärmen und anschließend ein unmögliches Computerspiel zu erfinden. Nun – sonderbar war nur für Leute ein Schimpfwort, für die normal keines war.
»Ich muss los«, sagte Anna. »Denk drüber nach.«
»Über was genau?«, fragte ich noch, aber da war sie schon fort.
Ich dachte in der folgenden Kunst-Stunde so intensiv darüber nach, worüber ich denn nun nachdenken sollte, dass meine Lehrerin mich aufforderte, den Unterricht nicht zu stören.
Der Montag danach
An unserer Schule fand Sportunterricht strikt nach Geschlechtern getrennt statt. Ich hasste Sport aus diesem und einem weiteren Grund: Unser Lehrer scheuchte uns regelmäßig durch eine Art militärischen Trainingsparcour. Bloß die Gewehre fehlten, und Weltkriegs-Stacheldrahtverhau wurde durch ein komplexes Gebilde aus Bänken, Kästen und Seilen simuliert. Was die Mädchen in der Stunde von halb neun bis 9:15 Uhr durchmachten, wussten wir nur gerüchteweise: Von Ausdruckstanz und Ballet zu Melodien von Richard Clayderman war hinter vorgehaltener Hand die Rede.
Die strikte, an die Grenzeinrichtungen auf dem Bahnhof Berlin Friedrichstraße erinnernde Trennung im großen Schulsportkomplex hatte nur eine durchlässige Stelle: Die fensterlosen Gänge zwischen Umkleidekabinen und Hallen. Gelegentlich sah man in der Ferne mystische Wesen in rosa oder neongelben Leggins vorbeischweben oder es erklang ein hysterisches, hallendes Kichern. In solchen Momenten wurde der Sinn der Geschlechtertrennung deutlich, denn alle Jungs verwandelten sich umgehend in kreischende Affen.
Umso perplexer war ich, als ich beim Umziehen in meinem rechten Turnschuh einen zusammengefalteten Zettel fand:
9:10 Umkleide 4
A.
Es musste ja ziemlich dringend sein, wenn es nicht bis zur großen Pause warten konnte, die nur wenige Minuten später begann.
Den heutigen Militärparcour und die zackig gebrüllten Anweisungen ertrug ich stoisch, während ich alle paar Minuten hoffnungsvoll hinauf zur Hallenuhr sah. Um Punkt 9:09 entschuldigte ich mich beim Lehrer mit den Worten »Durchfall, dringend« und rannte aus der Halle. Auf dem Gang zog ich die Schuhe aus und nahm sie in die Hand, weil lautes Rennen unerwünschte Aufmerksamkeit erregen mochte. Also stürmte ich auf Socken hinunter bis Umkleide Nummer 4, kam rutschend an der richtigen Stelle zum Stehen und drückte mit Herzklopfen möglichst lautlos die Klinke runter.
Der Raum war leer, wenn man von Anna absah, die gerade ihre rosa Leggins hinter einem weißen Handtuch versteckte.
»Geheimnisvolle Zettel finde ich voll cool«, brachte ich keuchend hervor. »Trotzdem hoffe ich, dass uns niemand hier erwischt.«
»Wieso, wir machen doch nichts Schlimmes«, sagte Anna.
»Schade«, rutschte es mir heraus.
»Bitte was?«
»Wie geht's Egon?«, lenkte ich ab.
Anna wischte die Frage mit der Hand zur Seite. »Hast Du schon die Fotomaschine gebaut?«
Ich sah zu Boden, ohne zu antworten.
»Okay«, sagte Anna. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich heute nicht kann. Außerdem sind nächste Woche die letzten Klausuren vor den großen Ferien. Und in der ersten Ferienwoche bin ich auf einer Jugendfreizeit.«
»Oh«, machte ich.
»Soweit die schlechten Nachrichten«, sagte Anna und grinste. »Die gute Nachricht ist, dass in der zweiten Woche meine Eltern alleine wegfahren. Das Haus ist leer.«
»Sturmfreie Bude? Klingt … verrucht.«
»In jener Woche werden wir das Spiel fertigmachen.«
Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Äh …?«
Anna kam auf mich zu und flüsterte in mein Ohr. »Das wird cool«, sagte sie. Sich hauchte mir etwas in den Nacken, das vage an einen Kuss erinnerte, aber mit Sicherheit keiner war.
»Bestimmt«, keuchte ich.
Dann ließ sie mich einfach in der leeren Mädchen-Umkleide zurück, in der aufzuhalten mindestens die Todesstrafe nach sich zog.
First when there's nothing
But a slow glowing dream ... (ix)
Letzter Schultag
Die zweite Hälfte des Juni 1983 ließ mir keine ruhige Minute. Ich ging selten vor Mitternacht ins Bett. Die stickige Luft in der Wohnung und Tommys Vorhaltungen trieben mich oft hinaus in die Nacht, wild fabulierende Stimmen im Kopf, Walkman-Kopfhörer auf den Ohren.
The night was heavy and the air was alive ... (x)
Längst standen die Noten für das 12. Schuljahr fest, und in den meisten Kursen wurden Filme angeschaut (Mel Brooks‘ »Geschichte der Welt«) oder Karten gespielt (Skat). Mein Lieblingslied war Moonlight Shadow von Mike Oldfield. Ein- oder zweimal zeigte das Fernsehen das zugehörige Musikvideo. Die Sängerin, Maggie Reilly, erinnerte mich ein bisschen an Anna. Als am 18. zum ersten Mal eine amerikanische Astronautin mit dem Space Shuttle die Erde verließ, warf Tommy die in seinen Augen bedeutsame Frage nach Sex in der Schwerelosigkeit auf.
Der 6. Juli, ein Donnerstag, war der letzte Schultag. Viele Mitschüler fuhren in Urlaub oder feierten ausgelassen.
Ich dagegen verbrachte den Abend inmitten von Material aus Bastelkisten und Metallbaukästen, um die Maschine herzustellen. Wenn ich ehrlich war, war mein Berufswunsch von Kindheit an entweder Lokführer oder Ingenieur gewesen. Bei Letzterem hatte ich immer Daniel Düsentrieb vor Augen, der in rund der Hälfte meiner Lustigen Taschenbücher eine wichtige Rolle spielte. Bislang hatte ich allerdings nur kleine Aufzüge oder Kräne gebastelt, keine Roboter, Zeitmaschinen oder Bildschirm-Abtaster.
Immerhin besaß ich eine beachtliche Menge an Fischertechnik-Bauteilen, dazu gehörten auch zwei kleine Elektromotoren und jede Menge Zahnräder.
Ich baute ein etwas wackliges Rahmengerüst mit zwei Schienen, auf denen eine ebenfalls wacklige Querverstrebung rollen konnte, die ihrerseits auf Schienen einen Rollwagen trug. An diesem befestigte ich den Fotowiderstand.
Schwierig war die Steuerung der Motoren. Ich brauchte meinen Elektronik-Baukasten und ein Relais aus der Bastelkiste, um den Wagen dazu zu bringen, hin und her zu fahren. Eine Fahrt dauerte ziemlich genau zehn Sekunden. Bei jedem Richtungswechsel entlud sich ein dicker Kondensator, der den zweiten Motor wenige Umdrehungen laufen ließ. Dadurch fuhr die Querverstrebung eine Winzigkeit nach unten.
Was natürlich völlig fehlte, war der Anschluss an den Atari. Der stand ohnehin bei Anna, und die war ja nicht da. Immerhin hatte ich auch dafür eine Lösung im Hinterkopf, aber die musste warten. Denn ich hatte unbedingt vor, Anna nach ihrer Rückkehr mit meinem Lötkolben zu beeindrucken.
»Witzig«, sagte Tommy. »Wie lang ist er denn?«
»Ach, halt einfach die Klappe.«
»Mit Elektronik kannst du umgehen, aber mit Mädchen ...«
»Die sind auch etwas komplexer aufgebaut.«
Tommy musste grinsen. »Das sagst du nur, weil du Angst hast.«
»Ich habe keine ...«
»Doch«, sagte Tommy. »Hast du.«
Ein entscheidender Nachteil eines unsichtbaren Freundes war, dass er einen ziemlich gut kannte.
Tommy kannte mich sogar bisweilen besser als ich mich selbst. Er war gut darin, den Finger in Wunden zu legen. Er hatte den entscheidenden Vorteil, selbst für die gemeinsten Sprüche keine Prügel befürchten zu müssen.
Ich hätte niemand anderem gegenüber meine Schwächen eingestanden, so offensichtlich sie auch waren. Ich blockte all das ab. Niemand kam an mich heran: Meine Mutter nicht, mein Vater nicht, meine Kumpels schon gar nicht. Tommy war der einzige, dem ich vertraute. Der einzige, der mir Bescheid sagen durfte, wenn ich mich wie ein Idiot verhielt, und der einzige, dem ich sagte: »Hast ja recht.« Zumindest wenn er gerade nicht zuhörte.
Ich konnte echt froh sein, dass ich ihn hatte.
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