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Aber bei Tag waren auch Aliens ein durchaus machbares Problem – nur nachts war alles ganz anders…
Ein Wegweiser „Waldhotel“ hing ein wenig traurig an einem Holzpfahl, den hatte sie natürlich in der Nacht nicht bemerkt. Ein Weg führte zwischen sehr hohen, alten Bäumen in die Tiefe.
Die Gebäude wirkten düster in ihrer Abgeschiedenheit und waren ziemlich groß. Es sah fast aus wie ein kleines Dorf mit einigen Häusern. Fachwerk ragte hoch in den Wald hinauf. Baumwipfel streichelten an düsteren Giebeln.
Es war knapp nach 10 Uhr - sie hatte es geschafft. Eine erste Erleichterung breitete sich wie Sonne in ihrem Inneren aus. Eingehaltene Termine waren etwas Schönes, wenn man vorher so viele Widerstände niederringen musste besonders. Sie würde sich nun zu einem friedlichen Kaffee niederlassen. Still ging sie durch die fremde Türe und nahm Platz.
Ein blonder jüngerer Mann lief auf und ab, um in dem Raum neben ihrem breiten Ledersessel etwas herzurichten. An der Wandseite schob er Tische zusammen. Er bedecke sie mit hübschen Tüchern, brachte Wasserkaraffen, Gläser und stellte eine Reihe Sessel zwischen den Tischen und der Wand auf.
Das konnte doch wohl kein Mittagstisch sein? Oder?
Ein großer, älterer Mann kam mit einigen Mikrophonen in der Hand und stellte sie auf die Tische. Er schaute sich die Anordnung an. Eines nahm er wieder und fand einen anderen Platz dafür.
11 UHR
Es waren Vorbereitungen für eine Pressekonferenz.
Der Raum füllte sich locker mit Journalisten.
Der junge blonde Mann schien unruhig zu werden und jemanden zu suchen. Schließlich kam er zu Judith, um zu fragen, ob sie die Psychologin sei. Beide waren erleichtert, ein wenig Klarheit zu haben. Wie ein kleines Stückchen blauer Himmel, der plötzlich durch eine dichte Wolkendecke schaut. Er sagte: „Frau Dr. Dilmon gibt eine Pressekonferenz über ihre glückliche Rettung. Ich habe hier die Hotelbetreuung übernommen. Ich werde Ihnen Ihr Zimmer nach der Pressekonferenz zeigen.“ Leise fügte er hinzu: „Ich denke, die Pressekonferenz ist für Sie ein guter erster Einstieg.“ Damit lief er weiter. Judith erkannte, der Mann weiß, worum es geht. Das war ihr wissender Anker für die nächste Woche. Langsam wurden ihre Muskeln lockerer. Sie suchte sich einen Platz mit guter Sicht auf den langen Tisch und wartete.
Noch mehr Mikrofone wurden hereingetragen. Es wurde drauf geklopft, woraufhin sie hüstelten, ein Zeichen, dass sie im Arbeitsmodus waren. Der ältere Mann strich angespannt um die Tische, sehr konzentriert.
Schließlich kam ein moderner jüngerer Mann, schick, sichtbar tüchtig mit Windstoßfrisur. Der große ältere stand jetzt neben dem Tisch. Er hatte ein unauffälliges Aussehen, unscheinbare Kleidung, aber er wirkte gezielt und mächtig. Er war zweifellos einer der Organisatoren. Still stand er dort, seine Schultern angespannt, sein Nacken leicht nach vorne gerichtet, wuchtig wie ein Stier mit einem Ziel vor Augen. Sehr aufmerksam scannte er den Raum. War das ein Kollege von ihrem kleinen grauen Mann? Zweifellos einer, der Fäden in der Hand hielt.
Eine elegante, grauhaarige Dame, stark geschminkt, setzte sich hinter ein Mikrofon. Also wohl eine Journalistin.
Judith hatte ein wunderbares Gefühl, nur anwesend zu sein und Forschung zu betreiben, still und ohne Stress, nicht wie letzte Nacht. – Bei einer Pressekonferenz gab es keine Aliens – oder waren das alles verkleidete Aliens? – Bei Tag war auch das kein Problem. Der breite Ältere setzte sich an das Ende des Tisches als ob er den Tisch beherrschen würde.
Schließlich kam eine einfach gekleidete, schlanke Frau mit sehr großen, dunklen Augen in einem schmalen Gesicht. Sie erforschte die Menschen hinter den Mikros vorsichtig, sehr zurückhaltend, sah aber nicht in den Raum. Judith sah starke Emotion. Die Frau war angespannt und hatte ein Taschentuch in einer Hand, das sie zu einer festen Kugel gedreht hatte. Der flotte junge Mann richtete ihr einen Sessel und nahm ein Mikro in Besitz.
Sie ließ sich vorsichtig nieder, als ob Stacheln auf dem Sessel wären, und hatte noch immer keinen Blick in den Raum zu den Journalisten gleiten lassen, die Fragen stellen würden.
Das war Dr. Dilmon oder die Frau, die es sein wollte. Judith fand ihre Haltung unsicher, verhalten. Sie wirkte vorsichtig und verkrampft. Man sah der Frau an, dass sie eine heikle Aufgabe zu erfüllen hatte. Kein Jubel an die Freiheit.
Der junge Mann rückte mit seinem Mikrophon nahe an sie heran. Sie rückte ein wenig zurück. „Und was war das für ein Ort, an dem Sie gefangen gehalten wurden?“, fragte er nach einer kurzen Vorrede.
Frau Dr. Dilmon saß mit sehr geradem Rücken auf ihrem Sessel. Ihre Hände waren im Schoß gefaltet, die Schultern hochgezogen. Ihre Stimme war ruhig, sachlich, aber kam tief aus der Kehle. Etwas hielt diese Stimme im Hals fest. Sie sagte: „Es war ein Lager im Urwald.“
„Und wie war das Lager?“
„Es waren Holzhütten, kleine Holzhütten.“
„Und wie ist man dort mit Ihnen umgegangen?“
„Das war normal, einfach. Wasser war genug da, in der Nähe läuft ein Fluss. Ich war nur immer wieder beunruhigt, dass sie es nicht abgekocht hatten. Wir westlichen Menschen vertragen die Bakterien schlecht, die dort normal sind.“
„Das heißt Sie hatten große Angst, sich eine gefährliche Krankheit zuzuziehen.“
Sie rückte ein klein wenig auf der Sitzfläche und hob den Kopf: „Nun, das ist ja immer ein Problem. Wer Jahre an unwegsamen, fremden Orten verbracht hat, hat immer diese Sorge.“ Judith merkte eine Veränderung in der Stimmlage und in der Haltung der Schultern. Jetzt hielt die Frau nichts zurück, sondern sie präsentierte etwas. Was wollte sie denn wohl gesagt haben? Was genau an dem, was sie gesagt hatte, war Absicht, musste präsentiert werden?
…wer Jahre an einem unwegsamen Ort verbracht hat, hat immer diese Sorge… Sie wollte darauf hinweisen, dass sie jahrelang geforscht hatte, schon Jahre im Urwald war?
Jetzt neigte sich die elegante Dame vor: „Hatten Sie oft Hunger in der Gefangenschaft?“
„Das Essen war kein Problem.“ Die Schultern hatten sich gesenkt und wanderten dann wieder ein wenig hoch, registrierte Judith. „Ich brauche nicht viel.“ Sie saß weiter mit sehr geradem Rücken. Es entstand eine lange Pause, weil der tüchtige junge Mann sichtbar nicht wusste, ob die elegante Dame noch mehr Fragen hatte… Dr. Dilmon registrierte die Pause und sagte dann schnell: „Man muss nur immer aufpassen, dass man keine Mangelerscheinungen bekommt…“
Alle warteten auf mehr. Der ältere Mann erbarmte sich und fragte: „Hatten Sie Mangelerscheinungen?“ Er hatte eine besonders tiefe Stimme, die hallte klar im Raum. Gleichzeitig besann sich der tüchtige junge Mann auf seine Rolle und fragte: „Und wie war das dann mit ihrer Befreiung?“
„Die Mangelerscheinungen sind ein bekanntes Problem“, antwortete die Biologin, als ob es nur eine Frage gegeben hätte. „Aber Gott sei Dank gibt es einige Pflanzen in der Region, die man gut einsetzen kann, um Ausgleich zu schaffen. Verschiedene Abarten der Liane und auch Bodenwuchs…“ Es entstand wieder eine Pause, der junge Mann holte Luft, um seine Frage erneut zu stellen, da sagte die Biologin schnell: „Einige davon sind ziemlich giftig, man muss mit der Dosierung sehr aufpassen. – An diesem Ort vor allem gab es viele Giftgewächse, die aber genau den Mangel ausgleichen konnten, der durch die eintönige Kost immer entsteht.“ Es entstand wieder eine Pause. Judith hatte den Eindruck, Frau Dr. Dilmon wollte diese Pause nicht, es war, als ob sie sich einen Stoß geben würde, wie ein Sprung über einen Abgrund: „Es ist nicht zu vermeiden, dass Giftanreicherung im Körper entsteht“, sagte sie mit fester Stimme. „Das baut sich dann nur langsam wieder ab. Ich bekomme dadurch immer Hautprobleme. Aber gerade an diesem Ort gab es keine andere Möglichkeit.“ Hastig fuhr sie fort: „Mir geht es auch im Moment nicht so gut. Ich glaube, ich kann nicht mehr Fragen beantworten…“ Sie sagte das sehr sachlich – es war keine Veränderung an ihrer Atmung oder ihrer Haltung zu bemerken.
„Probieren wir vielleicht noch drei Fragen aus dem Publikum?“, versuchte der ältere Mann, die Pressekonferenz am Leben zu erhalten.
Eine junge, blonde Frau hob die Hand: „Fühlten Sie sich durch sexuelle Übergriffe bedroht?“
Frau Dilmon sah sie intensiv an. Schließlich sagte sie langsam – mit einer anderen Stimme: „Übergriffe – nein, so war das nicht.“
Ein junger Reporter fragte: „Waren die Menschen im Lager hauptsächlich einheimisch oder mehr Weiße?“
„Es schien mir, als ob einige wechselnde weiße Personen sich in einem Dorf mit der dort üblichen Dorfstruktur eingenistet hätten. Es waren nicht immer die gleichen…“
„Wie viele Leute waren dort?“, rief einer aus der dritten Sesselreihe.
Dr. Dilmon ließ sich Zeit mit der Antwort: „Genau kann ich das nicht sagen. Ich denke, zu dem Dorf gehörten vielleicht 30 Personen, und dann waren immer so zwischen vier und acht Menschen, die anders aussahen.“
„Und wie war das nun mit Ihrer Befreiung?“, fragte einer.
Frau Dilmon veränderte ihre Haltung ein wenig: „Mir geht es wirklich nicht gut.“ Sie sagte das abschließend. „Ich lege mich jetzt hin.“ Sie stand vorsichtig auf. Sie ging vorsichtig zur Türe, als ob sie nicht auf festem Boden ginge. Dann blieb sie stehen und sagte zu dem älteren Mann: „Vielleicht könnten Sie mir helfen, etwas Schriftliches herzustellen, mit Ihrer Hilfe schaffe ich das wohl, wenn es mir besser geht, und das schicke ich dann an ihre Redaktionen…“ Leise schloss sie die Türe auf der Flucht.
Die Pressekonferenz blieb zurück…
MITTAG
Ezra stand an den Tischen vor den Resten der Pressekonferenz und musste aufräumen. Ein Tablett mit Gläsern klirrte leise auf seiner Hand denn er machte wieder einmal einen seiner unmöglichen Jobs. Er fühlte sich nicht sicher, denn es war ihm klar, dass er an diesem Ort ein Wespennest behüten sollte. Der Job war durch Wolfgangs Verbindungen zustande gekommen. Wolfgang, der Freund seiner Kindertage, war Techniker in einem System, das im weitesten Sinne der Landesverteidigung zugeordnet wurde. Und kürzlich erst war er zurückgekommen - von irgendwo aus dem Nahen Osten, und hatte sich sofort gemeldet, dringend, kein Aufschub: „Bist du frei oder machst du was? Nur Studium? Gut. Du wirst gebraucht. Sofort. Wir haben ein massives Problem und alles muss schnell gehen – große Orientierung ist leider nicht möglich. Du musst improvisieren und wahrscheinlich alle deine Systeme einschalten. Streng geheim und akut. Zu wenig Zeit für ordentliche Planung, und die Geheimhaltung macht eine größere Organisation unmöglich.“
Seit fünf Tagen behütete Ezra nun sein Wespennest. Er hatte noch nicht wirklich Überblick und Wolfgang wusste zuerst einmal auch nichts Genaues und hatte ihn vertröstet – er käme bald – musste noch etwas regeln.
Es gab ein langes Telefonat mit der Stimme seines Auftraggebers und die ganze Aktion wurde gestartet, dringend, sehr dringend. Ezra musste sofort aufbrechen, vor fünf Tagen, sehr zeitig in der Früh, zu einem „Waldhotel“. Die staatliche Sicherheit war verunsichert. Man war an höchster Stelle beunruhigt. So viel war klar, sonst nichts. Ezra musste einspringen, musste all seine Fähigkeiten einsetzen, an einem Ort im Wald, weit weg von allem, was die Zivilisation geschaffen hatte.
Von was allem? Denn das war es genau, wofür er zuständig war. Er musste ein Hotel herstellen. Man hatte ihm großzügig Geld gegeben und …
Ein Ort fernab von unkontrollierbaren Menschenströmen musste aktiv werden und unverdächtig. Das Waldhotel hatte eine Aufgabe, war Zentrum… Wovon? Keiner hatte ihn wirklich aufgeklärt. Er hatte eine Reihe von Personen zu betreuen und es war etwas im Gange, aber keiner sagte ihm genau, was.
Da war einmal Frau Dr. Dilmon. Es ging darum, ob sie wirklich Frau Dr. Dilmon war oder nicht, so viel wusste er. Sie war nach ihrer Befreiung in dieses Waldhotel gebracht worden – um sich auszuruhen?
Eine gefährliche Frau? Sie musste betreut und gleichzeitig beobachtet werden. Sie durfte aber nie auf die Idee kommen, dass sie beobachtet wurde. Das was er da zu gestalten hatte, musste aussehen wie ein abgelegenes Hotel, musste sich anfühlen wie ein abgelegenes Hotel und keiner durfte auf die Idee kommen, dass es kein Hotel war. Das sagten die Anweisungen am Telefon.
Wolfgang würde am nächsten Nachmittag eintreffen, oder irgendwann, wenn er wegkonnte. Vielleicht kam dann Klarheit?
Ezra trug Krüge und Gläser zurück in den Raum, den sie Küche nannten, und blickte dabei aufmerksam um sich. Jeder kleinste Hinweis, jedes ungewöhnliche Moment konnte später von großer Bedeutung sein. Die letzten Journalisten tröpfelten aus dem Saal. Da kam wieder dieser Mann herein, den er seit dem frühen Morgen beobachtete. Er schlich herum und schrieb ständig konzentriert in ein kleines, schwarzes Buch. Dieses Buch musste einen, großen Wert darstellen, denn der ließ es keine Sekunde aus den Augen. Immer lag es neben seiner rechten Hand. Beim Frühstück, beim Sitzen in der Halle… Zwischendurch machte er Eintragungen. Er schrieb immer einige Zeilen und legte es dann wieder weg. Möglichst unschuldig hatte Ezra versucht, einen Blick auf das Heiligtum zu erhaschen. Das war aber nicht gelungen… Schließlich stand der Mann vor seinem Pult und wollte ein Zimmer. Gut, das war schließlich der Zweck eines Hotels.
Jetzt gerade konnte er dem kleinen schwarzen Buch nicht weiter auf den Grund gehen. Er musste zuerst einmal diese Psychologin finden und sie in ihr Zimmer bringen. Sie war in den Garten gegangen, hatte er bemerkt, oder dorthin, wo einst Garten gewesen war.
Ezra fragte sich, was man ihr erzählt hatte. Ihm hatte man gesagt, dass eine Psychologin käme und dabei helfen sollte, die Situation mit Frau Dr. Dilmon richtig einzuschätzen. Mehr nicht. Er fühlte sich in einem Sumpf von Geheimhaltung gefangen und hatte sein Wespennest zu hüten…
Er traf die Gesuchte langsam zwischen den Häusern wandernd. Gerade war sie stehen geblieben und schaute mit Staunen auf das Haus, durch das der Baum gewachsen war. In den Hang hinein gebaut war eines dieser Fachwerk-Konstrukte. Daneben lagen noch Balken und Steine von einst verstreut. Man hatte sie in der Wiese vergessen. Sie waren liegen geblieben und inzwischen waren Bäume gewachsen und zogen ihre Wurzeln durch den Boden. Sie hatten sich breite Stämme zugelegt und mächtige Laubdächer umschlossen die alten Häuser.
Man baute die Häuser einst wofür? Meierhof, Wirtshaus, oder Hotel? Schichtmauern: Einige schwere Quader lagen noch zwischen den Waldriesen, früher ein günstiger, solider Unterbau. Darüber wuchsen leichtfüßig die Holz-unterteilten Wände in die Höhe mit Fenstern in dunklen Rahmen. Auf jeden Fall hatten sie einst eine Aussicht gehabt – wohl auf den Fluss und das Dorf, das in der Tiefe unter den Häusern lag – eine schöne Aussicht. Dann waren vielleicht unruhige Zeiten gekommen und das Haus wurde vergessen - es wuchs in den Wald ein. Er überwucherte in Jahrzehnten die Wände, die Dächer und, wie man sehen konnte, sogar das Innere der Gebäude, weil die Menschen es verlassen hatten waren Berggeister eingezogen. Waren die Bäume Parasiten? Nein. Der Berggeist hatte Samen gebracht, hatte sein Kind an den Ort gesetzt und es spielen lassen. Es schaute aus jedem Baum und erzählte von seinem Alter: Neunmal Wiese und neunmal Wald – bin neunmal so viel Jahre alt… Menschenwerk war in die Zeit eingewachsen, Blatt für Blatt, Jahr für Jahr.
Häuser waren letztendlich für Menschen da. Das ganze hatte aber lange geschlafen, unbewohnt. Als er kam, hatte er dort eher ein Geisterschloss gefunden als ein Hotel. Er hatte drei Tage Zeit gehabt und auf der Spinnweben-beladenen Theke lag damals ein Gästebuch mit einer Reihe Namen. Das waren Gäste, die er erwarten sollte. Kräftige Damen aus dem nahen Dorf standen bereit mit Gummihandschuhen, Kübeln, und was man sonst noch benötigt, um die Räume von Spinnweben zu befreien und mit neuer Wäsche zu versehen… Jemand hatte Vorbereitungen getroffen – den Rest musste Ezra selbst erledigen.
Ein perfektes Hotel in drei Tagen, wie sollte er das schaffen? Er verbesserte: Er würde versuchen, etwas herzustellen, das zumindest als Hotel durchgehen konnte, vielleicht als romantisches Hotel?
Ezra hatte sich zuerst die fünf Gebäude angesehen und die beiden großen zur Reinigung bestimmt. Die waren am ehesten verwendbar. Die anderen drei waren dunkle Höhlen, Löcher, deren Wiederbelebung einen Zauberer benötigt hätte. Eines hatte einen Backofen, ein dunkles Monster. In den beiden besten gab es so etwas wie Badezimmer am Gang, in einem Waldhotel kann man nicht mit einer Ausstattung rechnen wie im Ritz, tröstete sich Ezra und war besorgt. Wenn Badezimmer Jahrzehnte lang geschlafen hatten, war wohl mit Unannehmlichkeiten zu rechnen… Vielleicht war einer der Bäume durch den Abfluss gewachsen?
Die Damen kamen in Bewegung und am Ende des ersten Tages hatten sie Raum für Raum im Erdgeschoß vom Belag der Zeit geschält und die Holzteile mit Bienenwachspolitur eingelassen. Es roch gut. Ezra hatte Teppiche für die Böden organisiert – das Budget war ja großzügig. Nachher hatte es ausgeschaut wie ein frisch gereinigtes Zisterzienser-Kloster, in dem der letzte Mönch vor einigen Jahren gestorben war. Zwischen den hohen Bäumen herrschte weiterhin eine düstere Atmosphäre. Eigentlich erwartete er, nachts um zwölf den riesigen Geist des Mönches über den Hof schweben zu sehen. Daraufhin fuhr Ezra eilig in die nächste größere Stadt und stellte Pflanzkübeln mit Blumen vor die Eingänge. Nun sah es aus wie ein ausgestorbenes Kloster mit Blumen.
Ezra hatte ein Problem, und noch immer hatte ihm niemand erklärt, welchen Ansprüchen dieses „Hotel“ eigentlich gerecht werden musste. Da besorgte er eine Standtafel, auf die er mit Kreide Preise für Imbiss und Getränke schrieb. Nun sah das Ganze aus, wie ein romantischer Geheimtipp fürs Wochenende. Das kam der Sache schon näher. Viel mehr war in der kurzen Zeit eben nicht drin. Die Badezimmer blieben ein Riesenproblem. Dann kamen auch bald die Menschen, deren Namen im Gästebuch vorgemerkt waren. Frau Dr. Dilmon bezog Zimmer 2. Wer war sie?
Und der Mann mit dem kleinen schwarzen Buch musste dann auch sein Zimmer bekommen. Der ältere Journalist, der die Pressekonferenz organisiert hatte, war untergebracht in seinem vorgemerkten Zimmer 5, und dann war da die elegante Journalistin, auch vorgemerkt. Die sollte auch ein Zimmer haben, und das ältere Pärchen, war schon am Vortag angereist mit vielen Koffern ... Waren die alle Menschen vom Geheimdienst? Oder waren das ganz normale Bürger, die ein paar ruhige Tage verbringen wollten? Waren sie tatsächlich Journalisten oder Schauspieler, vielleicht waren sie von der Regie bestellt als ahnungslose Komparsen? Oder führte einer oder der andere selbst Regie? Für welches Bühnenstück?
Die Damen mit Kübeln und Mobb waren inzwischen schon im zweiten Stockwerk unterwegs. Die Gebäude waren hoch. Es war nicht zu erwarten, dass Ezra Zimmer im zweiten Stock vergeben musste. Es war aber immerhin möglich, dass sich einer von den Gästen aus dem ersten Stock im Haus verlief, und der durfte kein Geisterschloss treffen – es konnte ja ein echter Gast sein. Die Türen der anderen drei Gebäude hatte Ezra sauber gereinigt, teilweise selbst außen neu gestrichen und abgesperrt. Das war die relativ beste Lösung. Passende Schlüssel hatte es natürlich keine gegeben. Er hatte den Schlosser erpresst und am gleichen Tag neue Schlösser einbauen lassen. Hinter diesen Türen war Niemandsland. Unter anderem wuchs eben da ein Baum durch das Erdgeschoss die Treppe hoch und beim einstigen Fenster, das keine Scheibe mehr hatte, hinaus.
In manchen Bereichen hatten sich Spuren von Benützung gefunden. Das waren wahrscheinlich die Jugendlichen aus dem Ort. Vielleicht Liebespaare, romantisch, heimlich und ohne hohe Ansprüche an Reinlichkeit oder Luxus. Opfer der Lust auf kalten, sandigen Böden …
FRÜHER NACHMITTAG
Er zeigte der Psychologin das Zimmer und ging zurück an seinen „Empfang“. Da kam der ältere Mann, Organisator der Pressekonferenz. Der von Zimmer 5 war das. Er lehnte sich vertraulich an das Möbel, das Ezra zur Empfangstheke bestimmt hatte, und fragte mit seiner tiefen vibrierenden Stimme: „Haben Sie was Hochprozentiges für mich?“ Diesen Mann ordnete Ezra der Organisation im Hintergrund zu – der war eindeutig Regie, und er dachte: Der braucht Trost bei der vielen Geheimhaltung … Der Mann machte den Eindruck, als wüsste er, um was es ging. Breit lehnte der an dem Pult. Ezra war bemüht, denn vielleicht kam er an gute, wichtige, hilfreiche Informationen. Vielleicht konnte er einen kleinen Lichtschein in den Nebel bringen. - Für Hochprozenter hatte er als „Manager“ natürlich gesorgt, ein wichtiger Faktor in einem „Hotel“. Er hatte für sehr guten Hochprozentigen gesorgt, denn so viel Freiheit war gegeben.
Der Mann wählte sorgfältig eine Flasche. Die betrachtete er nun wohlgefällig. Dann füllte er seinen Brustkorb bis zum Bersten und ließ die Luft langsam ausströmen: „Gott, geht mir das alles auf die Nerven“, wisperte er in Ezras Ohr. Er schien das Gefühl zu haben, dass Ezra eingeweiht war.
Der schaute daraufhin so wissend wie möglich. Aalglatt legte er sich ein weißes Tuch über den Arm und begann ein Glas blank zu putzen, dabei lächelte er absolut sicher. Der Mann vor ihm wirkte erschöpft. Dieser Mensch hatte sich übernommen in den letzten Tagen. Hier wurde von der Macht im Hintergrund hart gearbeitet und improvisiert, Geheimhaltung in der Hektik einer wesentlichen Aufgabe. Einer wusste nicht, was der andere wusste. Über nichts wurde wirklich gesprochen und nichts war so wichtig wie das Nichts. Dieser Mann hatte eine harte Zeit hinter sich, das war zu sehen. Er wirkte dennoch mächtig. Seine Schultern brauchten viel Platz, seine Augen unter tiefen Brauen waren scharf und seine Bewegungen gerade und direkt. Der war sicher in der Lage einige bedeutende Lichtblicke zu liefern. Welche Fragen waren die interessantesten?
Ezra konnte sich nicht erklären, wieso keiner wusste, ob Dr. Dilmon Dr. Dilmon war. Was war da in Südamerika abgegangen? Wer hatte ein Interesse an der Biologin? Wer wollte sie austauschen und warum?
„Ich bin Red Warhol“, sagte der Mann in diesem Moment.
Bei Ezra klingelte es laut in der Informationsabteilung. Red Warhol war eine journalistische Größe. Er hatte ihn persönlich noch nie getroffen, aber trotzdem war der Name allgegenwärtig. In Presse, in Politik – Aufdeckung, Aktionen … Red Warhol saß am Steuer. Saß er auch hier am Steuer?
Der berühmte Mann saugte langsam an seinem Glas mit dem goldgelben Inhalt. Dann sagte er: „Das da ist gut, aber es tut mir nicht gut – ich brauche es nur einfach.“ Sein Gesicht wirkte zerknittert. War zu viel Alkohol das Problem? Ezra arbeitete an einer Frage, die aufdeckend aber nicht zu intim war. Auf zu Intimes würde er keine Antwort bekommen und er war schließlich auf Antworten angewiesen beim Blinde -Kuh-Spielen. „Wie könnten wir das hier bestmöglich regeln?“, fragte er daher in der Rolle des gut Informierten so lässig wie möglich.
Red Warhol hob den Blick müde aus seinem Glas: „Das Problem ist – wir können im Moment nur abwarten, bis einige Fragen geklärt sind. Passt mir auch nicht, aber so ist es.“ Er sagte das tief traurig. Ezra hatte sich den Mann immer vorgestellt wie einen Jockey, der das wildeste aller Pferde ritt. So wie der da vor ihm stand, konnte er kaum einen alten Haflinger reiten – so erschöpft.
Ezra nahm ein anderes Glas und begann, es mit seinem Tuch glänzend zu reiben. Voll konzentriert hielt er es gegen das Licht und blickte durch: „Warum ist denn der Fehler passiert?“, fragte er so unschuldig wie möglich. Seiner Erfahrung nach war das eine gute Frage, die meistens eine Antwort bekam, auch wenn man nicht wusste, was sie bedeutete.
„Ein Fehler war‘s ja nicht, eigentlich“, sagte der Journalist auch sofort. „Ich hatte ihn völlig aus den Augen verloren.“ – Diese Antwort war eine Herausforderung.
Ezra konzentrierte sich wieder auf sein Glas, die nächste Frage war besonders heikel. Sie durfte nicht in die falsche Richtung gehen. Schließlich meinte er: „… nach der gemeinsamen Zeit?“
„Ich hatte genug. Das muss man doch verstehen. Ich hatte die ganze Geschichte satt.“ Der Journalist nahm einen tiefen Schluck und hielt Ezra das Glas wieder hin. „Ich habe mich einfach um ihn nicht mehr gekümmert, und jetzt verbreitet er Unsinn.“