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Wann war das Ganze wohl passiert?
Er hatte jedenfalls gar nichts bemerkt. Wann hatte er denn im Hof zu tun gehabt? Ezra konnte sich einfach nicht erinnern, wann er dort war. Sein letztes Bild waren die Tische und Sesseln mit den Tischtüchern – die hatte er aber eigentlich nicht in den Hof gestellt. Er hatte sie zwar aus dem Haus geholt, wo er den Toten dann gefunden hatte, aber nicht in den Hof gebracht, sondern nur durchgetragen. Hatte da vielleicht etwas gelegen, was dort nicht hingehörte? Nein, sicher nicht.
Er hatte alles in den Durchgang zum Parkplatz gestellt, weil dort die Türe neben dem Speiseraum ins Freie führte. Man konnte von dieser Stelle nicht wirklich in den Hof hineinsehen, weil die Hausecke den Blick verstellte. Seine Gedanken kreisten um den Toten und gleichzeitig schuldbewusst um alles, was er übersehen haben konnte und im Hintergrund arbeitete sein Organisator-Hirn und plante die To-do-Liste für den nächsten Tag. Die Zahnräder knirschten im Kopf.
Er musste bei seinem Empfang vorbeischauen, ob inzwischen irgendwelche neuen Probleme auf seinem Pult lagen – natürlich unlösbar. Selbstverständlich - so war das in diesem Haus. Da kam ein Mädchen die Treppe hoch. Ein hübsches, blondes Ding. Eine von denen, die im ersten Morgengrauen draußen waren – warum auch immer – vielleicht Außerirdische betreuen oder Flugkörper parken…? Irgendwas in der Art.
Sie lächelte ihn fröhlich an. Er würde dann gleich auch dem Lehrer Mitteilung von dem Toten machen, aber wahrscheinlich wusste der es schon. Jetzt fand Ezra es gut, wenn er ohne lange Umwege fragte: „Wie seid ihr denn in der Früh wieder reingekommen?“
„Oh“, sagte sie. Sie hatte eine attraktive Stimme, wie eine Jazzsängerin, fand Ezra.
„Ich weiß, dass ihr draußen wart – und ihr hattet wohl keinen Schlüssel?“
„Mmmkrm.“ Sie war verlegen. Schließlich bekannte sie: „Das Fenster von der alten Speisekammer haben wir gestern aufgemacht, damit wir wieder rein konnten.“
Also Planung – hier war Logik am Werk. Himmel, die alte Speisekammer, die war einer von den Dunkelräumen, die noch keine Abklärung bekommen hatten – nur die Kühlkörper hatte er hineingestellt, - für Besucher absolut ungeeignet. Das Fenster war auch ziemlich schmal. Es war deutlich höher als breit. Das Bild tauchte vor Ezras Augen auf, er hätte große Mühe gehabt, dort durchzuklettern. Es ist erstaunlich, wie schlank sich so ein Jugendlicher machen kann, wenn er wo rein oder raus wollte. Wie eine Ratte.
Sie lächelte wieder und musste dann lachen.
Konnte er nach ihrem UFO fragen?
Das verlangte vielleicht zu viel Beichte auf einmal...
MITTAG
Warhols Tod bewirkte, dass überall Polizei mit Equipment angerückt war. Sie liefen im Hof und im Haus und rund ums Gelände, suchten, maßen und hatten himmelblaue Schutzanzüge an. Zwei befragten Leute und Ezra musste den Betrieb aufrecht halten. Dabei war er unsicher und aufgewühlt: Wie konnte der Mensch so sang- und klanglos aus der Welt verschwinden? Gerade Warhol, der immer Getöse gemacht hatte, der sein Leben verbracht hatte, wo es am gewalttätigsten und am lautesten war, der verschwand so still von der Bildfläche? War es wirklich so, als ob es ihn nie gegeben hätte? Ezra bezweifelte das sehr. Er hatte das Gefühl, dass es ein mächtiges Nachspiel geben würde. Er horchte, ob er nicht schon fernen Lärm hören konnte, sich nähernde Gewitter. Ein Warhol, der still abtrat, war für Ezra einfach nicht vorstellbar. Vielleicht kam die wilde Jagd schon heran, um einen der ihren in richtiger Form abzuholen? Und ein paar andere mitzunehmen.
Sein Magen in Aufruhr stand er in „seiner“ Halle und versuchte herauszufinden, was seine nächste absolut notwendige Aufgabe war. Wolfgang musste er so schnell wie möglich um Klärung bitten. Irgendwer von dessen „Firma“ hatte das Ganze schließlich organisiert – die Stimme am Telefon. Was hatte der genau organisiert? Hatte der einen Mord organisiert? Was sollte Ezra dabei für eine Rolle spielen? Was sollte er tun? Wenn die ihn engagiert hatten, um einen Mord möglich zu machen, einen Mord zu decken, was konnte er dagegen unternehmen?
Ezras Hirn ratterte und seine Gedanken sprangen zwischen dem Mord und den Verpflichtungen seines Jobs hin und her: Im Dorf gab es ein Wirtshaus – er konnte anbieten, dass er Essen dort bestellte, wenn seine Damen das alles nicht bewältigen konnten mit der Polizei im Haus – das würde er telefonisch klären können. Er lief zu seinem Pult mit dem Tuch in der Hand. Er konnte auch Kuchen bestellen mit Aufpreis… und Getränke – nein, nicht notwendig, Getränke hatte er natürlich. Er hatte den Kaffee- und Teeautomaten noch immer neben seinem winzigen Waschbecken stehen, auf einem Regal ums Eck. Im Raum war kein Platz. Das elektrische Kabel führte an der Türe vorbei, sodass er sie nicht schließen konnte. Einen kleinen Schrank hatte er auf dem Haufen in dem „Mordhaus“ gefunden. Das war lange vor der Zeit, als Leute ihre Leichen dort versteckten – mindestens drei Tage vorher. Er hatte auch ein krummes Regal gefunden, darin war seine Wäsche in einer kleinen Ecke eingeschlichtet. Den großen Raum nahm ein neuer Satz Kaffee und Teegeschirr ein. Mit sehr teuren Servietten, die er gekauft hatte, versuchte er, das vorzutäuschen, was Leute wohl von einem Hotel erwarteten.
Ezra servierte Kaffee und Tee in der Halle auf diese Art auf eleganten Tabletts. Wenn er mit dem Service auf der vornehmen Unterlage ums Eck kam, war der Anblick erstklassig, und hinter die Ecke durfte keiner blicken. Er schwebte mit seinen Tabletts hinter dem Naturholzpult hervor, das einen feinen Duft von Bienenwachs verströmte, und keiner bekam je die schwarzen Punkte im Spiegel zu sehen. So war das System.
In der Empfangshalle – Ezra nannte den Raum inzwischen so – um sich selbst das Gefühl von Hotel, Eleganz und Größe zu geben – stand ein kleiner grauer Mann an seinem Pult. Ah, der fehlende Gast für das vorbestellte Zimmer 4 – sicher Geheimdienst. Wenn das ausnahmsweise einmal klar war, fragte er sich, ob diese Erkenntnis mehr oder weniger Stress mit sich brachte. Er sah einen seiner Arbeitgeber dort stehen, musste sich also beweisen. Er musste ihm aber nicht vormachen, dass hier ein erstklassiges Hotel seit Jahren seine Gäste verwöhnte. Das war auch schon Erleichterung.
„Wie soll ich Sie eintragen?“, fragte er daher und schlug sein Gästebuch auf. Es war gut, dass dieses Buch so gebraucht aussah, so nach Antiquität. Das gab der Sache eine Aura von Tradition, von Geschichte und musste seinen Arbeitgeber beeindrucken. Der abgewetzte Einband aus echtem Leder zeigte doch, dass sich hier seit Jahrzehnten Gäste eintrugen. Oder?
Der kleine graue Mann lächelte müde. „Schneider. Ich bin schon seit gestern im Umkreis hier, habe das Haus nicht gleich gefunden. Ist mein Zimmer bereit?“
Seltsam - wieso fand der den Ort seiner eigenen Organisation nicht? „Ja, das Zimmer wartet auf Sie. Was soll ich Ihnen bringen lassen?“, fragte Ezra beflissen.
„Hätten Sie vielleicht Duschgel und Zahnpasta und Zahnbürste, ich konnte nicht richtig packen. Keine Zeit, war nicht bei mir zu Hause…“ Die ganze Aktion hatte den Geheimdienst überrollt, das war klar. Von höchster Stelle war man wenig vorbereitet gewesen und hatte sich dann überschlagen. Aus irgendeinem Grund hatte es keine Zeit gegeben, die Sache richtig, ordentlich und vernetzt zu organisieren. Warum? Es gab eine teilweise Planung, das war an den hilfreichen Damen zu sehen, aber nicht einmal die Herrschaften am Steuerruder hatten volle Macht über das Geschehen, - sie hatten nicht einmal Zahnbürsten. - Selbstverständlich würde er sich darum kümmern, dass der Herr Zahnpaste und Duschgel bekam. - Die von der Zentrale schienen also voll gestresst zu sein. Warum war das Ganze so schwierig geworden? Warum konnten die selbst nichts planen, nichts richtig einrichten?
Der kleine graue Mann wurde von ihm auf das Zimmer gebracht und Ezra blickte sich darin um. Er fand, dass es eigentlich sehr hübsch aussah – Alte-Welt-Charme. Der Mann war aber viel zu erschöpft, um das richtig würdigen zu können.
Ezra rief zu seinen Damen in die Küche, dass er kurz in den Ort fahren musste, für einen Gast etwas besorgen und sah, dass auch dort langsam Ordnung einzog. Man hatte beschlossen, die Wand weiß zu streichen. Das half, ein Bild von Reinlichkeit und Arbeitsraum zu erzeugen. Der Boden war noch immer uneben.
Er hängte sein Schild an den Empfang und sprang ins Auto.
NACHMITTAG
Im Dorf gab es einen Drogeriemarkt oder etwas Ähnliches. Man konnte dort eine weite Auswahl an Kosmetik, Tischtüchern, Schuhbändern und Mottenfallen einkaufen und hatte einen Modus zwischen Selbstbedienung und Kundenbetreuung zur Verfügung. Der Chef stand an der Kasse, führte aber auch seine Kunden herum und beriet wie ein Museumswart, der seine kostbaren Sehenswürdigkeiten zur Schau stellte. Er war immer perfekt dunkel gekleidet mit wohlfrisierten silbergrauen Wellen am Kopf und sprach wie im Theater. Ezra hatte das Gefühl, dass der Laden recht gut funktionierte. Die Menschen kamen wohl von den umliegenden Dörfern und kauften dort gerne, was sie nicht selbst erzeugen konnten.
Als er durch die Türe eilte, stand sein Pärchen aus dem Hotel dort. Die Dame hatte einen unglaublich schicken gelb-schwarzen Hut auf und gelbe hohe Stöckelschuhe an. Sie war nicht ganz schlank, sah aber absolut interessant aus. Nur – warum sie diese Ausstattung in einem Waldgasthof trug, war nicht klar. Der zugehörige Partner war wie immer unwillig, - sein Schnurrbart gesträubt und gereizt abstehend, sein Körper in enges straffes Grau gezwängt, stand er zwei Meter hinter ihr wie ein Wachhund.
Ezra sah den Chef des Ladens herbeieilen. Er bremste sich elegant bei den beiden ein. Sie strahlte ihn an: „Wunderbar, dass sie uns helfen können. Ich weiß nicht, wo wir es finden.“ Sie sah den Ladeninhaber erwartungsvoll an.
Der wusste nicht so genau, was gewünscht war, und wartete ab.
Ezra bückte sich hinter einem Regal auf der Suche nach Duschgel und hatte überlegt, dass es vielleicht noch gut wäre, wenn er einige von den Handtüchern mitnehmen würde, zusätzlich. Natürlich hatte er schon einen Stoß besorgt, aber Handtücher konnte man nie genug haben… Da hörte er, wie sie sagte: „Naja, wir brauchen so ein Dingsda.“ Er lugte hinter der Ecke vor. Der Ladenbesitzer sah sich in der Rolle dessen, der auch ausgefallene Wünsche befriedigen könnte, wenn er nur wüsste welche. Seine Stirne zeigte es deutlich - er dachte angestrengt. Dann schien er eine Erleuchtung zu haben. „Selbstverständlich können wir auch damit dienen“, versicherte er. „Die sind nur in den hinteren Regalen – sie würden die nicht finden.“
Sie lächelte glücklich. Er verschwand und kehrte mit einer Reihe blau-schwarzer Packungen zurück. Aus eigener Erfahrung wusste Ezra, dass es Präservative waren. So wie er sein Pärchen kennengelernt hatte, war er nicht sicher, dass die gemeint gewesen waren.
Die Dame schaute die Packungen auch zweifelnd an. „Sind die nicht ein bisschen kurz? So kurze hab ich noch nie gesehen.“ Nach einigem Nachdenken fragte sie: „Und wie viele sind denn da drin?“
„Drei Stück pro Packung.“ Der Besitzer des Ladens war stolz auf sein Angebot.
Ihre natürliche Freundlichkeit verbot ihr, das Angebot schlecht zu machen, aber der Zweifel war deutlich. Eine Pattstellung war die Folge – eine Denkpause. Da sagte ihr Begleiter grimmig in die Stille „Zahnstocher“ – nur das eine Wort. Es schaffte Klarheit. Seine Stimme war sehr kratzig und ziemlich hoch, gepresst klang es unter dem Schnurrbart vor.
Ezra hatte ein schlechtes Gewissen – er hatte tatsächlich vergessen, Zahnstocher zu besorgen.
Während sich das in Nähe der Kassa abspielte, suchte Ezra die Zahnbürsten. Da sagte die hohe Männerstimme des gereizten Begleiters: „Die da haben wir beim Militär verwendet. Es ist eine Schande, dass man die jetzt in jedem Laden kaufen kann.“
Warum das eine Schande sein sollte? Der Mann schien der Meinung, dass es speziell zur Heeresausstattung gehörte und dort allein seinen Zweck zu erfüllen hatte. Aber eins war nun sicher – er kam vom Militär. War er doch dienstlich hier? Und sie Camouflage?
Ezra kaufte noch ein Geschenksäckchen, hübsch mit rosa Blumen und Silberflitter – es gab keine anderen – um die Zahnbürste und die anderen Notwendigkeiten hineinzutun.
Das Pärchen ging.
Der Ladeninhaber zählte sorgfältig das Rückgeld aus der Kassa. „Haben Sie den neuen Kreis schon gesehen?“, fragte er nebenbei. Ezra hatte keine Ahnung, um was es sich handeln könnte. Die Frage klang so selbstverständlich, als ob er es wissen müsste. „Oh, der Kreis“, sagte er daher und ließ alles offen.
Der Mann an der Kassa blickte verwundert auf. Schließlich meinte er: „Ich dachte, das alte Hotel ist deshalb wieder aufgemacht worden…“
„Weshalb?“
„Nun ja, wegen der Kreise…“ Stille. Ezra sah ihn erstaunt an. Kreise? Kreise, was verband er mit dem Begriff „Kreise“? Es war wohl nicht gelungen, die Unwissenheit zu verbergen. Der Ladenbesitzer erklärte schließlich: „Wir haben bunte Steinkreise hier, die nachts einfach entstehen. Ich dachte, ihr habt das Hotel adaptiert für den Alien-Tourismus.“
Ezra dachte fieberhaft. Hier war also ein Alien-Ressort. Auf die Idee wäre er nie gekommen, obwohl die Luftfahrzeuge durch seinen Hof schwirrten. Waren doch nicht die Jugendlichen mit ferngesteuerten Untertassen unterwegs? Ein Landeplatz für die aus der anderen Welt. Das war neu, aber anregend. Wäre es nicht eine gute Taktik, die Aliens und ihre Raumschiffe richtig einzusetzen? War das nicht eine Möglichkeit, das Hotel zu einem echten Hotel werden zu lassen? Auf diese Art verwunderte die Improvisation niemanden. Er würde ein Alienprogramm entwickeln und an der „Hotel-Rezeption“ bereithalten. Das eröffnete ungeahnte Möglichkeiten…
Dann eilte er im Laufschritt wieder zu seinem Auto.
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