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»Daran haben wir noch gar nicht gedacht, weil wir von einer Mitarbeiterin erfahren haben, dass sie möglicherweise einen Freund besuchen wollte. … «
»Warum rufen sie nicht ihren Freund an? Vielleicht ist sie tatsächlich bei ihm.«
»Nächstes Problem: Wir kennen seinen Namen nicht. – Geschweige denn, wo er wohnt.«
»Andere Freunde?«
Claudia drückt auf das Lautsprechericon, damit Anna mithören kann.
»Nein. Fehlanzeige. Meine Freundin sagt, ihre Mutter habe keine Freunde. Zumindest kennt sie keine. Die einzige nähere Bekannte, von der sie weiß, ist eine Arbeitskollegin und von der wissen wir, dass sie sich den heutigen Tag freigenommen hat, um einen Freund zu besuchen.«
»Wenn ich Sie beruhigen darf: Vermisste Personen tauchen in der Regel nach spätestens 72 Stunden wieder auf. Checken Sie zunächst die Wohnung. Und ich kann Ihnen Folgendes anbieten: Sollte ich noch jemanden in meinem Büro erreichen, der autorisiert ist, sich in unser System einzuloggen, dann werde ich ihn um Überprüfung bitten. Ist das ein Angebot?«
›Was für eine Stimme‹, schwirrt es Claudia durch den Kopf. »Äh … «, stammelt sie. »Großartig. – Das wäre super, wenn Sie das für mich machen könnten.«
»Ich rufe zurück, sobald ich etwas erfahren habe. Erwarten Sie sich aber nicht zu viel. Ich kann nichts versprechen. Sie sind unter dieser Nummer erreichbar?«
»Ja, das ganze Wochenende. Ist meine Privatnummer. – Jederzeit«, entfuhr es verwundert Claudia. Sie unterbricht die Verbindung und starrt auf das Display. Was hatte sie gesagt? Das ganze Wochenende und Privatnummer und jederzeit?
»Woher hast du seine private Telefonnummer?«, setzt Anna erstaunt nach.
»Äh … Von einem seiner Mitarbeiter – als ich ihn diese Woche nicht erreichen konnte. Er hat gemeint, er sei in der Mittagspause. Wenn es dringend ist, wäre er auf seinem privaten Handy erreichbar. Er hat mir die Nummer gegeben.«
»Und du hast sie sofort gespeichert … Egal, wir sollen jetzt einfach warten … «
»… hast ihn ja gehört.«
»Wie lange wird das dauern? … «, fragt Anna und trommelt mit den Fingern am leeren Weinglas.
»Beruhige dich. Eines nach dem anderen. Zunächst gönnen wir uns einen Prosecco, warten auf Peters Rückruf und anschließend beratschlagen wir unsere next steps. OK?«
»Gute Idee. Wir warten auf Peters Rückruf und betrinken uns zwischenzeitlich«, neckt Anna.
Claudia schlägt ihrer Freundin mit flacher Hand auf den Oberschenkel. »Ich hole uns den ›Sprudel‹.«
Sie steht auf und wackelt mit ihren Beinen, damit die eng anliegende Hose ihres dunkelgrauen, längs gestreiften Businessanzuges wieder nach unten rutscht. Anna sieht ihrer schlanken hochgewachsenen Freundin hinterher. Die hohen Absätze ließen sie noch größer erscheinen. Sie kommt aber nicht dahinter, warum sie heute verändert aussieht. Den Hosenanzug kennt sie, die Pumps auch.
Schwungvoll kehrt Claudia mit den Proseccogläsern zurück, setzt sie auf dem Tisch ab und stellt sich breitbeinig vor ihre Freundin. Anna mustert sie von Kopf bis Fuß.
»Weil wir vorhin von veränderter Umgebung gesprochen haben: Fällt dir nichts auf?«, fragt Claudia und hält ihre Hände unter ihren Haaransatz.
»Natürlich, – jetzt wo du mich mit der Nase darauf stößt: Du hast eine neue Frisur … «
Claudia dreht sich mit abgespreizten Armen um die eigene Achse.
»… Du siehst fantastisch aus. Der Pony passt zu den rotblonden Haaren. Steht dir hervorragend. Spießt sich auch nicht mit deinem Businessoutfit. Sehr stimmig. Sag, wie groß bist du eigentlich?«
»Einen Meter fünfundsiebzig«, antwortet Claudia.
»Fünf Zentimeter größer als ich … «
Claudias Telefon klingelt. Sie wirft einen Blick auf das Display, während sie Platz nimmt. »Peter«, haucht sie aufgeregt zu Anna und berührt das Hörersymbol. »Bigler«, sagt Claudia förmlich und drückt auf das Lautsprechersymbol.
Peter erzählt, dass er Richard Tomacic, seinen Freund und Boss erreicht hat. Dieser habe alle gemeldeten Unfälle in näherer Umgebung durchgesehen, doch ohne Ergebnis. Er hat niemanden gefunden, auf den der Name oder die Beschreibung passen würde. Zu guter Letzt erwähnt der Kommissar, in einem Nebensatz, dass er jetzt bei ihr etwas gut hätte; einen Stein im Brett habe. Claudia stimmt ihm zu: »Herr Holzinger. Ich würde Sie gerne auf einen Kaffee einladen – bei nächster Gelegenheit. Ihr Stein bleibt aber nach wie vor im Brett.« Kurz darauf beendet sie das Gespräch.
»Sag, Liebste, bist du zuweilen nicht ein wenig zu aufdringlich? Zu direkt, meine ich. Wenn man dir zuhört, könnte man meinen, du hättest ›ES‹ nötig«, rügt Anna ihre Freundin.
»Und wie ich ›ES‹ nötig habe. Ist das wirklich so augenfällig? … «
»Ja. – Beinahe peinlich.« Anna huscht ein mitfühlendes Lächeln über die Lippen.
»Aber zu meiner Verteidigung: Er hat eine furchtbar erotische Stimme … «
»… und eine Frau, fünf Kinder, Schmerbauch und eine Hakennase«, stichelt Anna.
2
Man kann die Zeit weder anhalten, noch zurückdrehen. Vergangenes nicht ungeschehen machen. Schlechte Erlebnisse werden schneller vergessen als Gute. Stimmt das? Dramatische Ereignisse bleiben jedenfalls länger im Gedächtnis. Psychotraumatische Vorkommnisse nisten sich hingegen tief in unserem Unterbewusstsein ein. Sie können niemals aus dem persönlichen Geschichtsbuch gestrichen werden. Bestenfalls konservieren, verarbeiten oder verdrängen wir sie. Ohne vor deren unvermuteter Rückkehr sicher zu sein. Sie können aber auch für immer in uns schlummern.
Sie vergraben sich in den hintersten Winkeln unserer Ganglien. Sie schlafen dort länger, als ein Winterschlaf sich hinzieht. Wenn sie ruhen, bemerken wir sie nicht. Und eines Tages erwachen sie, kriechen langsam, Schicht um Schicht, wie Regenwürmer bei Schlechtwetter, Richtung Oberfläche, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Es dauert Tage, Wochen, Jahre oder sogar Jahrzehnte. Wie Bomben, die während des Krieges, von Flugzeugen abgeworfen wurden und nicht zündeten. Sie liegen verborgen, in tiefen Abgründen. Sie landen in einem See, verstecken sich. Oder schlagen abgrundtiefe Löcher ins Erdreich, um ihrerseits wieder meterhoch von tonnenschwerem Gestein verschüttet zu werden. Rosten – billigem Eisen gleich – vor sich hin. Niemand weiß, ob ihre vernichtende Kraft jemals von Neuem zum Vorschein kommen wird.
Doch eines Tages, durch welchen Umstand immer, zeigen sie ihr alles zerstörende Wesen. Verursachen kollaterale Schäden an ihrer Umgebung. Sie sind in der Lage, jedes Gestein mit Leichtigkeit beiseite zu schleudern, lassen Flutwellen entstehen, die sich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit ausbreiten. Genau darin besteht die unterschätzte Gefahr. Gewöhnung an das drohende Unheil birgt enormes Risiko.
Dörfer, die an längst erloschenen Vulkanen gebaut oder Atomkraftwerke die auf seismisch aktiven Bruchlinien errichtet sind, beweisen nur, dass die Bedrohung, derer man sich nicht vordergründig bewusst ist, als inexistent wahrgenommen wird.
Den Regenwurm, der bei zu viel Wasser im Boden seinem Heil an der Oberfläche zustrebt, nehmen wir nicht wahr. Wir sehen ihn auch nicht im hohen Gras, wenn er längst den angestammten Lebensbereich verlassen hat. Nur wer gezielt nach ihm Ausschau hält, wird ihn finden.
Dieser Wurm, diese Zeitbomben sind der Grund für die schleichende Veränderung unseres Wesens, unserer Stimmungslagen. Hoch und Tiefs wechseln sich in immer kürzer werdenden Abständen ab. Man kann es nicht beschreiben: Körperlich unangenehme Symptome werden dem Stress, dem man am Arbeitsplatz ausgesetzt ist, zugeschrieben. Oder der letzten sportlichen Betätigung, bei der man sich anscheinend übernommen hat. Oder einem Infekt, den man übergangen hat. Viele Gründe werden gefunden und manches falsch interpretiert. Wir erstellen laienhafte Diagnosen. Erst wenn man bereit ist, in sich hineinzuhören, sich dem Unterbewusstsein zu stellen, kann man seinen Gefühlen und deren Ursachen entgegentreten. Nur dann hat man eine geringe Chance, rechtzeitig Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Sich auf die große, alles vernichtende Explosion vorzubereiten. Das Unvermeidliche nicht geschehen zu lassen.
Die Frau, die mit ihrem Wagen auf der Autobahn Richtung Westen unterwegs ist, ist sich der Gefahr, in der sie sich befindet, nicht bewusst. In ihr schlummert eine Bombe von verheerender Zerstörungskraft.
An diesem Vormittag sind ungewöhnlich viele Fernlastzüge unterwegs, die sie im Minutentakt überholen. Sie fühlt sich nicht wohl. Sie hat einzig ihr Ziel vor Augen. Die Landschaft abseits der Autobahn interessiert sie nicht. Die Fahrzeuge, die an ihr auf der Überholspur vorbeipreschen, interessieren sie nicht. Selbst die Musik in ihrem Auto beachtet sie nicht. Nichts kann ihre Stimmung zum Besseren wenden.
Sie verheddert sich immer tiefer in ihren Erinnerungen, fragt sich, warum es ihr schlecht geht. Sie verringert noch mehr ihre Geschwindigkeit. Ihr Blickfeld verengt sich von Kilometer zu Kilometer. Sie hofft, dass es ihr am Ziel besser gehen würde.
Das tiefe, laut warnende Tröten eines Sattelschleppers, der gerade dabei ist, sie zu überholten, reißt sie unsanft in die Realität zurück. Sie erschrickt, denn beinahe hätte sie die Ausfahrt verpasst. Ihre Hände transpirieren. Schweißnass liegen sie auf dem feinen Leder ihres Lenkrades. Sie kramt ein Tuch aus dem Handschuhfach hervor. Wischt sich ihre Handflächen trocken und legt es auf ihren Schoss, um es jederzeit in Griffweite zu haben.
Die Bundesstraße kommt ihr heute länger vor als sonst. Ab und zu blickt sie hinunter in das Bachbett der Schwarza. Wie zwei Verliebte, eng aneinandergeschmiegt, winden sich die Straße und der große Bach durch das Tal. Einmal befindet sich das Wildwasser mit den majestätischen Schaumkronen zu ihrer linken, ein anderes Mal zu ihrer rechten Seite. ›Nur noch wenige Kilometer. Und dann rufe ich an‹, ermuntert sie sich, als sie den wohlvertrauten Wegweiser erreicht.
Sie setzt den Blinker und biegt vom Lengthal aus in die schmale kurvenreiche Straße ein, die zum Bergsee hinaufführt. Wie oft war sie diese Landstraße in all den Jahrzehnten schon gefahren? Bereits vor dreißig Jahren quälte sie ihren uralten VW-Käfer 1302 bergwärts. Sie riecht den Wagen noch heute riechen, denn sie besitzt die Gabe, sich Gerüche einzuprägen. Sie scheinen für ewige Zeiten in ihre Gehirnschale eingebrannt zu sein. Wie in Stein gemeißelt. Und sie kann jede Duftnote jederzeit abrufen, wann immer sie es will. Sie ist in der Lage, sie auf die blumigste Art zu beschreiben. Sie erschnuppert die geringsten Nuancen. Genauso wie sie in diesem Augenblick den Mief des alten Käfers, mit seinem billigen Plastikgeruch und dem allgegenwärtigen Abgasgestank im Wageninneren, in ihrer Nase verspürt. Sie versucht, die damit verbundenen Erinnerungen zu verdrängen.
Mit ihrem modernen Audi A1 merkt sie nur wenig von der Steigung. Leise schnurrt der Wagen der kurvigen Straße entlang, die sich seit damals stark verändert hat. Viele der engen Kurven sind durch Brückenbauten begradigt worden. Lawinengalerie reiht sich an Lawinengalerie. Die dereinst häufigen Straßensperren gehören der Vergangenheit an.
›Zwei Kurven noch, dann bin ich am Ziel.‹
Sie biegt in den großen, fast leeren Parkplatz ein. Normans alten Jeep erkennt sie sofort. Daneben parken drei weitere Autos der Luxusklasse.
»Gott sei Dank – wenig Betrieb heute«, atmet sie erleichtert auf und stellt ihren Wagen neben den anderen ab. Schaltet den Motor aus. Zieht die Handbremse an. Greift nach ihrem Tuch und reibt sich die Hände trocken. Die Anspannung weicht aus ihrem Körper. Sie nimmt sich vor, nie wieder in einem Gemütszustand – wie auf der Autobahn – ein Fahrzeug zu lenken.
Sie wischt sich winzigen Schweißperlen von der Stirn. Mit unsäglicher Kraft und Schnelligkeit heizt die Sonne den Innenraum des kleinen Wagens auf. Sie öffnet die Tür, um frische Luft hereinzulassen. Sie atmet kräftig ein, saugt die kühle Brise tief in ihre Lunge, und lässt sie mit einem lang gezogenen Seufzen wieder entweichen.
Kurz überlegt sie, ob sie ihre Reisetasche aus dem Kofferraum holen sollte. Sie steigt aus und merkt, wie sehr sie die Fahrt körperlich angestrengt hat. Sie ist müde, sie ist durstig. Ungemein durstig. Ihr Gepäck lässt sie im Wagen und trottet zum heimeligen Hotel, das zwischen dem idyllischen See und dem Parkplatz liegt.
Jedes Mal, wenn sie den alten Steinbau mit seiner großen, einladenden Terrasse sieht, muss sie an das Stanley Hotel in Estes Park, in Colorado denken, in dem der Film ›Shining‹ mit Jack Nicholson gedreht worden ist. Der ›Berghof‹ hat aber bei Weitem nicht die endlosen Ausmaße. Außerdem liegt er an einem malerischen See, ist viel kleiner und strahlt mehr Gemütlichkeit aus. Seit dreißig Jahren besucht sie bereits dieses Juwel hier in den Bergen. Der Efeu, der sich mit der Zeit an den Wänden emporgearbeitet hat, scheint es vor Wind und Wetter zu schützen, und alle, die sich in den Gemäuern aufhalten.
Der Torbogen am Eingang, vor den Treppen, ist ebenfalls dicht mit Efeu überwuchert. Daneben lehnt eine schwarze Tafel, auf der mit Kreide geschrieben steht: »Herzlich willkommen im Berghof. Heute fangfrische Forellen« Sie liest, lächelt müde und nickt.
Die Frau schleppt sich die Stufen hinauf zur Terrasse. Es macht den Eindruck, als würde sie sich am Handlauf emporziehen. Zwei Männer sitzen an einem Tisch und prosten sich mit großen Biergläsern zu.
Im Empfangsbereich des Hotels ist niemand zu sehen. Sie geht durch die alte, mit Butzenscheiben und groben Intarsien verzierte Schwingtüre. Blickt in die Speisestube. Menschenleer. Kurz überlegt sie, ob sie die Rezeptionsklingel betätigen sollte, um den Wirt herbeizurufen. Sie entdeckt ihn hinter der Durchreiche zur Küche, eine große, schwere Gusseisenpfanne schwenkend. Norman, der in die Jahre gekommene Chef des Hauses und Koch in einer Person, ist von einer übermächtigen Rauch- und Dampfwolke umgeben. Nur schemenhaft sind seine Umrisse zu erkennen.
»Norman!«, ruft die Frau.
Der Koch schaut von der dampfenden Pfanne auf und erkennt die Ruferin sofort. Ein breites, freundliches Lächeln überzieht sein rundliches Gesicht.
»Bin gleich bei dir – Moment bitte!«
»Mach dir keine Umstände!«, ruft sie zurück. »Ich habe Zeit. Viel Zeit sogar.«
»Zimmer wie üblich – Seeblickzimmer. Ist schon hergerichtet. Minibar ist voll. Solltest durstig sein, bediene dich. – Der Schlüssel steckt.«
Und wie es sie dürstet. »Danke, du bist ein Schatz. – Man sieht sich nachher.«
Die Frau dreht sich um und schleppt sich zum Aufzug. Die Anzeige sagt ihr, dass die Kabine jeden Augenblick im Erdgeschoss eintreffen wird. Die Türe gleitet zweigeteilt zur Seite. Ein stämmiger, muskulöser Mann steigt aus dem Lift. Glatzköpfig, geschätzte fünfundsechzig Jahre alt. Trägt Freizeitkleidung. Er gibt den Weg frei und grüßt.
»Bitte sehr«, sagt er.
»Danke«, murmelt die Frau, ihren Blick zum Boden gerichtet. Sie steigt in die leere Kabine und drückt auf die Nummer 3 – Dachgeschoss.
Plötzlich, die Tür hat sich noch gar nicht komplett geschlossen, zuckt sie wie vom Blitz getroffen zusammen. Sie holt, durch die Nase, tief Luft. Schnuppert. Sie wankt. Ihre Knie werden weicher und weicher. Es scheint, als würde sie alle Kraft dieser Welt verlassen. Sie muss sich an der rückwärtigen Wand abstützen. Schwindel erfasst sie. Der lang gezogene Gong dröhnt in ihren Ohren. Sie legt ihre Hände an ihren Kopf, um den Lärm zu dämpfen. Die Tür öffnet sich, aber sie steigt nicht aus. Sie drückt die Taste ›E‹ für Erdgeschoss. Die Türhälften schließen sich. Während der Lift nach unten fährt, hat sie Zeit, sich zu sammeln. Was war mit ihr geschehen? Warum hat sie die Kraft verlassen?
Es war der würzig-ledrige Duft in dem Aufzug. Dieser einzigartig herbe Männerduft. Genau der, den sie mit einem südländischen Typ mit gewelltem, langem Haar verbindet. Sollte sie diesem Mann von damals, heute hier und jetzt wieder begegnen?
Zittrig, vorsichtig um sich blickend, verlässt sie die Aufzugskabine. Aus der Küche hört sie appetitliches Prasseln. Dazwischen das typische Hämmern eines Schlögels, der Fleisch mürbe klopft. Sie betritt zögerlich die Gaststube, von der man durch das Panoramafenster einen uneingeschränkten Blick auf die weitläufige Terrasse hat.
Der Kahlköpfige steht bei den beiden Männern. Er greift nach einem vollen Bierglas. Sie prosten sich zu. Sie trinken. Der Glatzkopf dreht sich Richtung See. Jetzt erkennt die Frau sein Gesicht.
Sie sucht Halt. Findet keinen. Wendet sich zur Eingangstür. Der Fluchtweg scheint kilometerweit entfernt zu sein. Ihre Kräfte drohen sie jederzeit zu verlassen. Sie bäumt sich innerlich auf. Versucht, die Orientierung zu behalten. Visiert das Treppengeländer vor dem Haus an. Ergreift es. Stützt sich unbeholfen ab. Presst ihre Hüfte gegen den verchromten Handlauf. Die Reibungswärme auf ihrer linken Handfläche steigt stetig an. Sie schafft es auf wackeligen Knien hinunter zum Parkplatz. Erreicht schweißgebadet ihr Fahrzeug. Startet wie in Trance. Ruft jahrelang eintrainierte Bewegungsabläufe ab. Tritt das Gaspedal fast bis zum Anschlag durch. Lässt die Kupplung schnalzen. Reifen quietschen.
Der Audi A1 rast der ersten Kurve entgegen.
*
»Na, die Dame hat es aber eilig«, mokiert sich der Glatzköpfige, während er dem kleinen schwarzen Wagen hinterherblickt.
»Ja, dabei sollte man annehmen, dass man es im fortgeschritteneren Lebensalter gemütlicher angeht«, erwidert der zu seiner Linken räuspernd.
»Jungs, stört es euch gar, dass man im Alter noch Feuer unterm Arsch hat? Mag sein, dass sie einfach nur jung geblieben ist. Hast du ihre Figur gesehen? An der Körpersprache konnte man vielleicht ihr wahres Alter erkennen, aber vom Körperbau her – höchstens 40. Wenn nicht jünger … «
»Und im Kopf noch keine 20, so wie sie Gas gegeben hat … «
»Hallo, hallo«, unterbricht ihn der Große, der sich mit der Hand über seinen kahlen Schädel streicht. »Was haben wir nicht alles im Alter von 20 angestellt. Wir dachten damals, uns gehört die Welt alleine. Selten haben wir auf andere Rücksicht genommen. Schon gar nicht auf die im vorgerückten Alter. Haben ihre Weltanschauung nicht verstanden. Wir haben uns ohne Nachdenken, rücksichtslos, das genommen, was uns geboten wurde. Möchte jetzt gar nicht daran erinnern, was wir bei dieser Hochzeit damals trieben … War doch … «
»Psst. – Wir haben vereinbart, nie mehr über die ›Hochzeitsnacht‹ zu sprechen. Punktum«, fällt ihm der Hagere mit den wulstigen Lippen ins Wort.
Der Mann schweigt sofort.
Der Bann ist gebrochen. Sie erzählen sich enthusiastisch ihre ›Heldentaten‹ von einst. So, als hätten sie die einzelnen Geschichten erst gestern erlebt. Sie lassen keine Erinnerung aus. Vom gemeinsamen Handballspiel, als sie das entscheidende Match aufgrund eines regelwidrigen Tricks zu ihren Gunsten entschieden, über das Katz und Maus Spiel mit der Verkehrspolizei, bis zu dem Abend, an dem sie mit dem Porsche die Skipiste hinaufgefahren sind, um am nächsten Tag vom Pistengerät geborgen zu werden. Vieles, das sie seinerzeit angestellt haben, würde heutzutage unweigerlich mit harten Konsequenzen geahndet und von der Gesellschaft nicht mehr akzeptiert werden.
Der Kahlköpfige klappt seinen Computer auf und zeigt den Freunden die alten Fotos, die er in den letzten Wochen, eigens für ihr Treffen, eingescannt hat. Keines der gezeigten Bilder blieb unkommentiert. Jedes wird mit einer kurzen Geschichte verbrämt.
*
Der kleine Wagen rast die Bergstraße zu Tal. Er nützt die gesamte Straßenbreite. Schneidet die Kurven. In manchen hebt das hintere, kurveninnere Rad, vom Asphalt ab, wie ein Rüde, der sein Revier markiert. Entgegenkommende Fahrzeuge blinken wie wild mit ihren Scheinwerfer. Leitplanken kommen gefährlich nahe.
Eine dicke Staubwolke steigt auf, als die Frau ihren Audi auf dem geschotterten Parkplatz vor dem alten Haus, neben der Kirche, zum Stehen bringt. Nur wenige Zentimeter vor dem schweren Motorrad, einer schwarzen ›Triumph Tiger 1050‹.
Langsam öffnet sie die Wagentür. Das Lenkrad ist klitschnass. Schweißperlen, die der Fahrerin in die Augen rinnen, verursachen ein unangenehmes Brennen. Ihre Augen sind rot unterlaufen. Ihre Stirn lehnt erschöpft am lederumspannten Volant.
Das Tor des Pfarrhauses öffnet sich. Ein Mann tritt ins Freie. Er trägt eine Soutane. Freudig sieht er zu dem schwarzen Wagen hinüber, während er versucht, mit wedelnden Armbewegungen, die Staubwolke vor seinem Gesicht zu vertreiben.
»Hallo, Maria. – Bist heute aber flott unterwegs. Wollten wir uns nicht im ›Berghof‹ treffen?«
Die Frau sitzt noch immer – in sich zusammengesunken – am Fahrersitz.
»Maria – was ist? Ist dir nicht gut? – Komm, ich helfe dir … «
Besorgt greift der Pfarrer nach ihrer Hand und zieht sie aus dem Wagen, zu sich herauf. Umarmt sie liebevoll. Dabei merkt er, dass die Frau total durchnässt ist. Drückt sie noch fester an sich, so als wolle er ihr Kraft spenden, ihr fühlen lassen, dass sie in Sicherheit ist, dass sie beschützt wird.
Sie vergräbt ihr Gesicht an seiner Brust, ohne zu antworten.
Der Pfarrer erkennt, dass in diesem Augenblick jedes gesprochene Wort ein Wort zu viel ist. Er schweigt und streichelt Maria zärtlich ihren Haaren entlang, über ihren Rücken. Schließlich beruhigt sie sich, hebt ihren Kopf, sieht in seine Augen und drückt ihm ein Küsschen auf den Mund.
Sanft schiebt der Pfarrer seine Freundin in Richtung Haus. Maria umfasst die Hüften ihres Freundes. Wie ein frisch verliebtes Paar gehen sie durch das breite Haustor. Im Wohnzimmer lässt sie der Priester auf die Couch gleiten. »Hast du noch ein frisches T-Shirt dabei?« Sie nickt. »Im Auto?« Nickt noch einmal. »Gib mir den Autoschlüssel, ich hole es dir.«
»Ist offen … Danke Joseph. … Du bist ein Engel.«
Der Geistliche kehrt mit einem trockenen T-Shirt zurück. Maria erhebt sich mit einem tiefen Seufzer von der Couch. Ohne Scham öffnet sie ihre Bluse und streift sie ab. So, als wäre es das Alltäglichste der Welt, sich vor einem Pfarrer zu entkleiden. Sie nimmt das T-Shirt und zieht es sich über. Nachdem sie sich wieder in die Couch sinken lässt, mustert Joseph seine Freundin von der Seite. All ihre Schönheit scheint für immer von ihr gegangen zu sein, als wäre sie ein Schatten ihrer selbst.
»Maria – was ist los? So habe ich dich noch nie erlebt. Total durch den Wind. – Total von der Rolle«, versucht Joseph seine Freundin zum Reden animieren.
Sie schluchzt. Schnappt nach Luft. Atmet abgehackt.
»Erzähl – was liegt dir auf der Seele? Quälen dich wieder Panikattacken? Ist es erneut diese innere Unruhe, die dir den Schlaf raubt? Deine Albträume … Du weißt, solange ich das grundlegende Problem nicht kenne, kann ich dir nicht helfen. Du weißt, wie erleichternd es sein kann, wenn man jemanden von seinen Sorgen erzählt. Oft ergeben sich, bereits während des Erzählens die Lösungen von selbst, ohne dass ich dir helfen müsste. Liebes, sprich zu mir … «
Aber Maria schweigt. Presst ihr Lippen aufeinander. Schließlich hebt sie schweigend ihren Kopf und sieht ihren Freund mit blutunterlaufenen, verschwollenen Augen an.
»Ich kenne dich nun schon Jahrzehnte lang. Wir haben doch keine Geheimnisse voreinander. Du kannst mir alles sagen«, forderte sie der Pfarrer erneut auf.
Der gütige, aber doch fordernde Blick ihres Freundes verleiht ihr Kraft. Gibt ihr Mut. Und schließlich erzählt Maria: »Joseph, du weißt genau, dass ich dir alles erzähle. Bis auf den einen Abend kennst du mein ganzes Leben. Minutiös. Was mir an damals widerfahren ist, holt mich in meinen Träumen immer wieder ein. Und in letzter Zeit häufen sich diese schrecklichen Visionen. Und was sie bei mir auslösen, das kennst du zur Genüge. Haben wir oft vielfach durchgekaut. Die Träume verlangen von mir, mich zu rächen. Aber du sagst mir immer, es sei mir verboten. Verboten aufgrund meines Glaubens, der in einem wesentlichen Teil auf den Lebenserfahrungen des Menschen basiert. Du sagst immer, Rache würde mich nicht glücklich befriedigen, würde mir keine Genugtuung verschaffen. Ich würde meine Rachegefühle gegen schwer wiegendere Schuldgefühle eintauschen … «