- -
- 100%
- +
»Gott fordert von uns, dass wir den Menschen, die uns Böses angetan haben, vergeben, und davon profitieren, wenn wir uns von aller Bitterkeit befreien. Wie heißt es in der Heiligen Schrift: Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Rächt euch nicht selber, liebe Brüder, sondern lasst Raum für den Zorn Gottes. Und er verspricht uns: Mein ist die Rache, ich werde vergelten.«
»Siehst du Joseph, Gott versichert mir, dass er meine Rache übernimmt. Aber wann? – Genau den gleichen Satz hast du mir schon vor vielen Jahren gesagt. Ich habe auf weitere Nachforschungen verzichtet, um nicht in die Lage versetzt zu werden, Rache zu üben. Ich habe darauf vertraut, dass es Gott für mich … «, Maria zögert und vollendet nach einer kurzen Pause den Satz. »… erledigt.«
»Zuweilen mahlen Gottes Mühlen sehr langsam. Seine Wege sind unergründlich. Uns Menschen bleibt nur, an ihn zu glauben … «
»Und mit dem Vergeben tue ich mir verdammt schwer. Meine Albträume erinnern mich ständig daran. Sie verhindern, dass ich das Geschehene hinter mir lassen kann. Dass ich es abschütteln kann. Je öfter ich von diesen Träumen heimgesucht werde, desto schwerer lasten sie auf mir. Ich weiß nicht, wie lange ich noch die Kraft habe, gegen sie anzukämpfen. Oft bitte ich Gott – vor dem Einschlafen – mich von den Qualen zu erlösen.«
»Wie oft hast du denn diese Albträume?«, fragt Joseph besorgt nach.
»In den letzten zwei Wochen – beinahe jede Nacht. Ich gehe bereits am Zahnfleisch.«
»Kannst du mir bitte erzählen, was das für Träume sind, die dich derart aus der Bahn katapultierten?«
»Joseph, es ist kein Traum mehr. Er ist beinharte Realität geworden. Ich stand meinem Albtraum leibhaftig gegenüber. Ich habe ihr heute ins Auge gesehen. Ich bin vor ihm geflohen, um bei dir Schutz zu suchen, bevor ich Dinge tue, die ich mein Leben lang bereue. Ich suche Schutz vor den Albträumen, aber auch Schutz vor mir selbst. Mit deiner Hilfe alleine ist es nicht mehr getan. … Es muss etwas geschehen.« Maria klingt verzweifelt.
»Keine Sorge, ich beschütze dich. Versprochen«, versucht Joseph, sie zu beruhigen.
»Den einzigen Ausweg, den ich sehe, heißt: Rache. Auch wenn es mir Gott verbietet. Rache ist menschliches Bedürfnis. Und heute hat sich dazu die Möglichkeit ergeben, Vergeltung zu üben. … Ich werde … «
»… Nichts wirst du«, fällt ihr Joseph barsch ins Wort und versucht dabei, nicht aufzubrausen. »Wenn du Rache rein philosophisch, ohne Gott, betrachtest, wirst du zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen. Ich versuche, es auf den Punkt zu bringen: Falls dir Schlechtes von deinem Umfeld angetan wird, dann stell dich aufrechten Kopfes hin und zeige, dass es dir gut geht. Das ist eine härtere Strafe für sie, als wenn du ihnen Ungemach antust.«
»Joseph … bitte … Verwirre mich nicht zusätzlich. Alleine das Gespräch mit dir hat mir schon geholfen, meinen Schock zu verarbeiten. Eigentlich will ich zurück, zum Berghof. Kommst du mit?«
»Maria, du bist noch lange nicht so weit, um ein Fahrzeug zu lenken. Ein Wunder, dass du es heil zu mir geschafft hast. Ich mache dir einen Vorschlag: Ich wollte sowieso zum Kirchlein hinauf. Mein neuer Wagen ist zwar bestellt, aber noch nicht geliefert. Wir nehmen deinen. Erstens können wir auf der Fahrt weitersprechen, zweitens hast du gleich dein Gepäck zur Hand. Ich werde Norman bitten, mich zurückzufahren.«
Maria ist über den Vorschlag erleichtert. Jetzt, noch einmal an diesem Tag, ein Fahrzeug zu lenken, so gut fühlt sie sich nicht. Außerdem ist sie sich nicht sicher, wie sie reagieren würde, wenn sie die drei Männer nochmals sieht. Ein guter Freund an ihrer Seite kann in dieser Situation von großem Nutzen sein.
Joseph steuert den kleinen Audi bedächtig die Bergstraße hinauf. Seine Freundin erscheint ihm gefasster als zuvor. Doch, als sie auf den Parkplatz einbiegen, erblickt Maria die drei großen Limousinen. Sie bittet Joseph, die gegenüberliegende Seite anzusteuern, gleich in der Nähe des Kirchleins, der Waldkapelle.
Zögerlich steigt Maria aus dem Wagen.
»Willst du ins Hotel?«, fragt der Pfarrer.
»Nein, nein, das hat Zeit«, wehrt seine Freundin mit matter Stimme die Frage ab. Angesichts der drei Männer auf der Terrasse überlegt Maria, ob sie heute überhaupt im Berghof übernachten will. Vielleicht könnte sie ja im Pfarrhaus schlafen.
Joseph nimmt sie an der Hand und schlendert mit ihr zum Kirchlein. Während der Pfarrer im Inneren nach dem Rechten sieht, zupft Maria welke Blätter von den Rosenstöcken. »Ich will zum Seeblick«, lässt sie ihren Freund plötzlich wissen.
»Zum Seeblick? In deinem Zustand? Bist du dir sicher. Du weißt, der Aufstieg ist beschwerlich.«
»Joseph, ich war schon oft dort oben. An diesem Ort habe ich immer Ruhe gefunden. Das hilft mir. Willst du mich begleiten? Würde mir viel Spaß bereiten.«
»Selbstverständlich. Mache ich. Warte, ich hole mir nur die Bergschuhe aus der Sakristei. Du gehst mit deinen Tennisschuhen?«
Maria nickt.
Nachdem er seine Schuhe gewechselt hat, schlendern sie durch den Wald hinüber zum See, wo ihnen ein Wegweiser die Richtung zum Seeblick weist. Zu Beginn ist die Steigung noch mäßig, aber je mehr sie an Höhe gewinnen, desto beschwerlicher wird der Weg. Mehrfach kommen sie an kleinen Ausbuchtungen vorüber, die einen wunderschönen Ausblick über das Tal gewähren. An einer pausieren sie, und Maria genießt die beeindruckende Gegend. Am liebsten würde sie sie umarmen. Streichelt sanft den See mit ihren Blicken. Sie sieht zum Parkplatz, wo die drei Autos noch immer parken. Ob sie bald verschwinden werden, fragt sie sich. Ihre Gedanken beginnen um den Mann mit dem typischen herben Herrenduft, den sie seit Jahren mit sich trug, zu kreisen. Keinen ihrer Gedankenstränge kann sie zu Ende denken, kann sie endgültig abschließen. Wie aus dem Nichts entspringen immerzu neue Bilder vor ihrem geistigen Auge. Sie ist froh, Joseph an ihrer Seite zu wissen.
Dem Pfarrer bleibt ihre Geistesabwesenheit, ihre Versonnenheit, nicht verborgen. Als sie die Aussichtsplattform erreichen, fragt er sie: »Alles in Ordnung? Geht es dir gut?«
Seine Freundin antwortete ihm mit einem Knappen: »Relativ«, während sie sich ein Lächeln abringt.
Joseph legt ihr den Arm um ihre Schultern. Schweigend stehen sie eng umschlungen und betrachten das Smaragdgrün des Sees. Ruhig, friedlich liegt er vor ihnen. Die spiegelglatte Oberfläche wird nur von einem Ruderboot gestört, das auf das Hotel zusteuert.
»Der alte Thilo kehrt zurück. Hat wohl wieder eine kleine Seerundfahrt gemacht, um sich fit zu halten – feiert er heuer nicht seinen fünfundachtzigsten Geburtstag?«, bemerkt der Geistliche rhetorisch.
Maria löst sich aus der Umarmung ihres Freundes und geht in Richtung Abhang. Für Joseph zu nahe. Er macht ein paar rasche Schritte auf sie zu und zieht sie vehement zurück. Dabei verliert er fast das Gleichgewicht. Seine Schuhe haben den Halt auf dem geschotterten Untergrund verloren.
»Was war das denn? … «, will sie von ihm wissen und reibt sich die Schulter.
»Ach nichts, bin nur ausgerutscht.«
Anscheinend hört sie die Antwort nicht, vielmehr setzt sie zu einem ähnlichen Gespräch an, wie sie es heute schon einmal geführt hatten. Joseph versucht, wieder mit den gleichen Argumenten zu überzeugen. Er sucht verzweifelt nach einer ultimativen Lösung für Maria. Doch er findet keine. Aussichtslose Verzweiflung scheint nun auch von ihm Besitz zu ergreifen. Er ist am Ende seines Lateins angelangt! Er setzt auf Zeit. Er hofft, dass all die Worte, die er in den vergangen Dekaden mit ihr gewechselt hatte, endlich greifen würden.
Oder gibt es doch eine ganz andere Lösung, die er bisher nicht in Erwägung gezogen hat?
In diesem Augenblick klingelt sein Mobiltelefon. »Moser. Grüß Gott! … äh, wann? … Geben Sie mir eine dreiviertel Stunde. Ich mache mich sofort auf den Weg.«
»Schlechte Nachricht?«, fragt Maria neugierig.
Josephs Miene wirkt wie aus Stein gehauen. Tiefe Besorgnis spricht aus seinen Augen. »Eines meiner Schäfchen möchte das Sakrament der Krankensalbung, die ›letzte Ölung‹ wie sie früher genannt wurde, empfangen. Es geht dem Ende zu. Maria, kannst du mich ins Dorf zurückfahren?« Eigentlich will Joseph nicht von seiner Freundin chauffiert werden, aber wie sollte er sonst ins Tal kommen? Dass Norman sofort für ihn Zeit hat, davon kann er nicht ausgehen.
»Hier ist der Autoschlüssel. – Ich bleibe noch eine Weile hier«, schlägt Maria vor und drückt ihm den Wagenschlüssel in die Hand. »Ich möchte den Ausblick genießen und meine Gedanken ordnen. Du hast mir heute schon sehr geholfen … «
»Kann ich dich wirklich hier alleine lassen?« Seine Freundin nickt mehrmals. »Gut, aber bleibe nicht zu lange, schau, dort drüben ziehen bereits die ersten Gewitterwolken über den Bergkamm. – Ich bringe dir den Wagen später wieder.«
»Joseph, das ist nicht nötig. Ich brauche bis Sonntag kein Auto. Wenn doch, melde ich mich bei dir. Und das soll jetzt nicht heißen, dass du nicht jederzeit willkommen bist. Wir bleiben in telefonischem Kontakt.«
Joseph beschleicht ein ungutes Gefühl, bei dem Gedanken, seine Freundin hier oberhalb der Felswand zurückzulassen.
Maria drückt ihm einen Kuss auf die Lippen. »Wir sehen uns. – Auf Wiedersehen.«
*
Kurz nach dem Wetterleuchten entluden sich die Wolken. Ein schweres Unwetter wütete für Stunden in der Region. Es schüttete, dass man meinen konnte, das Ende der Welt sei angebrochen. Genauso schnell wie das Gewitter aufzog, ebenso rasch war der Spuk wieder vorbei.
Die Scheinwerfer des Autos tauchen die Gebirgsstraße in ein eigentümliches Licht. Viele kleine Äste liegen verstreut auf der längst aufgetrockneten Fahrbahn. Die Abkühlung tut gut. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigt 23:32.
Joseph biegt in den Parkplatz des Berghofs ein. Das Hotel liegt bereits im Dunkeln. Kein Licht erleuchtet mehr das Restaurant. Die Laternen wiegen sich im kalten Wind. Der Pfarrer steigt aus dem Wagen, hört leise Männerstimmen von der Hotelterrasse und schreitet gemächlich zum Bootssteg hinüber. Er schaut vom Ende des Steges zurück zum Seeblickzimmer, in dem kein Licht brennt.
Den Tod eines lieben, langjährigen Freundes erlebt man nicht jeden Tag. Joseph sehnt sich plötzlich selbst nach einer verständnisvollen Schulter.
Als er bei dem alten, todkranken Bauern heute seine tröstenden Worte sprach, fiel ihm das Wort ›erlösen‹ auf. Der Erlöser, der am Kreuz für uns gestorben ist, erlöse uns von dem Übel. – Wovon will uns Gott erlösen? Von unserem mühevollen Leben? Um was zu erreichen? Das ewige Leben? Gott erlöst uns von einem kurzen Leben, um es gegen ewiges Leben zu tauschen?!
Nein, die Heilige Schrift muss man im Ganzen lesen – nicht einzelne Sätze extrahieren und sie neu zusammensetzen.
Aber wurde sein langjähriger Freund heute Abend wirklich erlöst? Nur weil er ohne Bewusstsein, ohne Herzschlag in seinem Bett lag.
Er wurde er von seinem Siechtum erlöst. … Doch er hat es mit seinem Leben bezahlt. – Eine zu einfache Lösung.
Wäre es da nicht logischer gewesen, wenn er ihn schon früher von seinen Qualen erlöst hätte. Ihm gnadenvolle Sterbehilfe angedeihen lassen hätte? Einzig, sein Freund hat ihn nicht darum gebeten. Wäre es deshalb moralisch verwerflich gewesen? Aber wenn er dazu aufgefordert worden wäre? Hätte er sich je zu Gottes rechter Hand aufgeschwungen? Hätte er je die Rolle des Erlösers übernommen? Wenn ja – wann hätte er die Rolle übernehmen dürfen, wann war der richtige Zeitpunkt, um zu handeln – um ihm den ultimativen Frieden angedeihen zu lassen, den sich verzweifelnde, leidende Menschen so sehnlich herbeiwünschen?
Joseph verheddert sich immer tiefer in seinen Gedanken. Kälte steigt in ihm auf. Sie überdeckt seine Fantasien. Er schaut hinaus auf den See und hat Mühe, die tiefschwarze Finsternis mit seinen Blicken zu durchdringen. Nur schemenhaft erkennt er die Steilwand, an die sich scheinbar ein schweres, schwarzes Leichentuch schmiegt.
Der kühle Wind bahnt sich seinen Weg unter Josephs Soutane, als wollte er sich dort wärmen. Dem Pfarrer fröstelt.
Verstört, über den Tag nachdenkend, stapft er zurück zum Parkplatz, an den Booten vorüber, in denen Wasserlachen im Rhythmus der Wellen von einer Seite zur anderen schwappen. Er hört das gleichmäßige Plätschern der Dünung an den Bootsplanken und fragt sich, ob er heute alles richtig gemacht hat.
Joseph ist froh, nicht mit dem Motorrad zum See gefahren zu sein. Es ist einfach zu kalt.
*
Bald nach den Gewittern waren die drei Männer, im Anschluss an ein formidables Abendessen, aus dem Gastraum wieder auf die Terrasse gewechselt. Sie wollen ihre Zigarren genießen.
Rauchen ist aber, seit die Politiker die Meinung vertreten, dass ihre Gesellschaft, die sie zu repräsentieren haben, unmündig ist, obendrein den Wirten die freie Wahl genommen haben, nur mehr im Freien erlaubt. Als die drei Männer sich ihre Zigarren anstecken, sagt der Untersetzte räuspernd, wehmütig: »Das war früher ganz anderes, als man in den Lokalen noch rauchen durfte.«
»Ja, ja, die guten alten Zeiten, als wir selbstbestimmt durch die Welt wandelten. Damals galten die freie Wahl und Selbstverantwortung noch etwas. Wir und die Lokalinhaber durften seinerzeit noch selbst entscheiden. Dafür stinkt es heutzutage in den Diskotheken nach pubertierenden Jugendlichen, wie in einem Turnsaal … «. Sie lachen herzhaft und paffen zufrieden ihre teuren Zigarren.
»… und damals hätte man auch nicht das Licht vor Mitternacht abgedreht. Hätte es alles früher nicht gegeben. Genauso wenig, dass wir hier im Dunkeln unseren Whisky trinken müssen«, ereifert sich der große Hagere und bläst geübt einen Rauchring in die kühle Nachtluft.
Der Glatzköpfige stellt sein Whiskyglas auf dem breiten Geländer der Terrasse ab. Er späht zum See hinüber und sieht einen dunklen Schatten am Bootssteg stehen. Er kneift die Augen zusammen und erkennt eine Gestalt, die eine Soutane mit Kollar und schwarzem Zingulum trägt. Sie kommt auf ihn zu.
Als der Priester an der Terrasse vorüber schlendert, sagt er: »Grüß Gott Herr Pfarrer. Genießen Sie die Kühle der Nacht?«
»Grüß Gott. Ja – manchmal benötigt man einfach Zeit für ungestörtes Nachdenken, um seine Gedanken neu zu sortieren. Das ist der ideale Platz dafür. – Schönen Abend noch … «
»Verzeihen Sie – eine Frage: Tragen Priester auch in ihrer Freizeit ihre Soutane?«, will der Mann wissen.
»In unserer Region gehört es bis heute zum Brauchtum … «, antwortet Joseph im Vorübergehen, ohne anzuhalten. Ihm ist nicht nach Small-Talk. Ihm ist kalt.
SAMSTAG
3
Annas Samstage sind von einem rituellen Ablauf geprägt. Zwei Stunden länger schlafen. Nach der Morgentoilette eine genüssliche Dusche. Anschließend ein kurzer Blick auf die Newsseiten der Presse. Alles ohne Zeitdruck. Danach trifft sie sich mit Claudia zum Frühstück in ihrem Stammlokal. Zwei Buttersemmel, ein großer Brauner und ein Ei im Glas. Hinterher flanieren sie bis mittags durch die Stadt, um in der Prosecco-Bar ihre Runde abzuschließen, und um das restliche Wochenende zu planen.
Aber an diesem Samstag war der gewohnte Ablauf unterbrochen. Sie wachte früh auf. Viel zu früh. Ihre innere Unruhe weckte sie. Sie schaut sofort auf ihr Mobiltelefon. Keine Nachricht. Sie checkt ihre E-Mails. Nichts, außer Spam. Loggt sich in ihren WhatsApp-Account ein. Nichts. Zu guter Letzt überprüft sie auch noch Facebook. Wieder nichts. Anna kann nicht mehr schlafen. Selbst wenn sie es versuchen würde nochmals die Augen zu schließen, die schweren, blickdichten Vorhänge vor den Fenstern zuzieht, die Sorgen um ihre Mutter würden sie wach halten.
Missmutig klettert sie aus ihrem Bett. Nur mit ihrem kurzen Nachthemd bekleidet wackelt sie in die Küche und schaltet den Kaffeeautomaten ein. Sie lehnt sich gegen die Küchenzeile, stützt sich mit beiden Händen ab und beobachtet tranceartig wie die dunkle Flüssigkeit in die kleine Schale tröpfelt. Anna liebt den Duft von Kaffee. Dieses Aroma weckt jeden Morgen ihre letzten, noch verbliebenden, schlummernden Lebensgeister.
Sie nimmt die Tasse und tritt auf den Balkon hinaus. In der vergangenen Nacht musste es geregnet haben, denn die Luft ist ungewöhnlich klar. Der Wind hat die schwüle Dunstwolke aus der Stadt geblasen, die Atmosphäre gereinigt. Eine kühle, aber nicht unangenehme Brise umspült ihren Körper.
Sie setzt sich auf den Gartenstuhl und legt ihre Beine auf das Geländer. Beinahe verbrüht sie sich ihre Zunge an dem heißen Kaffee. Langsam lässt sie die Tasse auf den Beistelltisch sinken und angelt sich ihr Telefon. Ein Blick auf ihre kleine Cartier-Uhr sagt ihr, dass es noch zu früh ist, um Claudia anzurufen. Sie holt tief Luft.
Sie will gerade ihr Mobile beiseitelegen, als sie ein leichtes Vibrieren vom Gerät verspürt, begleitet von einem einzigen, leisen Piepton. Ah – SMS, denkt Anna.
Neugierig holt sie es aus dem Standby-Modus und wischt über das Display. Die Nachricht ist von Claudia: »Sorry, muss zum Flammenkogel. Geschäftlich. Sonntagsausgabe will gefüllt werden. :Smiley mit heruntergezogenem Mund: Trinke einen Prosecco für mich mit. Melde mich, wenn ich zurück bin. :winkendes Smiley:«.
»Shit … «, stößt Anna verärgert hervor. ›Muss sie gerade heute zu einer ›Story‹ gerufen werden‹, denkt sie. ›Hat sie mir gestern nicht erzählt, wie unsäglich ruhig ihre Woche war, ohne Katastrophen, ohne amüsante Geschichten, die das Leben zuweilen schreibt. Sie hat Seiten mit nebulosen Themen gefüllt. Und heute, am Wochenende wird sie in die Provinz gerufen.‹
Das sind die weniger schönen Aspekte im Berufsleben einer Redakteurin. Die schreibende Zunft kann unmöglich ihre Freizeit im Vorhinein planen, denn sie ist fremdbestimmt.
Anna überlegt, wie sie den Tag, ohne ihre Freundin anlegen wird. Was soll sie tun? Wie konnte sie die näheren Umstände herausfinden, warum sich ihre Mutter nicht meldet?
Die acht Gongschläge der kleinen Pendeluhr reißen sie aus ihren Gedanken. Sie steht auf und schaltet das TV-Gerät ein. Nachrichten. Ungeduldig verfolgt sie die Berichterstattung. Sie ist weniger an den Geschehnissen in der Welt interessiert, vielmehr an den Lokalnachrichten. Keine Verkehrsunfälle, keine Wohnungsbrände, keine Überfälle, keine fatalen Unwetter, keine Naturgewalten. Nichts.
Sind keine Nachrichten wirklich gute Nachrichten, überlegt sie zweifelnd. Anna stellt sich die Frage, wen sie noch kontaktieren könnte. Bis auf Frau Santora fällt ihr niemand ein. Ihre Mutter hat keine Freundinnen, außer eben Frau Birgit Santora. Führte ihre Mutter wirklich ein solch einsames Leben? Anna wird diese Tatsache erst jetzt bewusst. Sie blickt auf ihre Cartier. Halb neun zeigt die Uhr.
Anna tippt Santoras Nummer ins Telefon.
»Santora.«
»Verzeihen Sie, dass ich Sie am Wochenende nochmals störe. Meine Mutter hat mir ja ihre private Telefonnummer – für den Fall der Fälle – geben. … «
»Wer spricht denn? … «
»Äh, Steiger … Anna Steiger, ich bin die Tochter von … «
»Guten Tag. Ich weiß, wer Sie sind. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Liebe Frau Santora, wir haben schon gestern miteinander telefoniert. Sie sagten mir, meine Mutter hätte sich freigenommen und wollte zu einem Freund fahren … «
»Ja … und?«
»Na ja, ich sorge mich. Soviel ich bis jetzt herausgefunden habe, scheinen Sie die einzige Freundin meiner Mutter zu sein. Jedenfalls hat sie immer nur Sie erwähnt, beziehungsweise von Ihnen erzählt. Mir ist erst heute bewusst geworden, dass sie anscheinend das Leben eines Eremiten führt … « Anna lässt eine kurze Pause entstehen. »Wie beschreibe ich es am besten? Im Augenblick kommt sie mir wie eine Fremde vor … «
»… Frau Steiger, darf ich Sie unterbrechen. Ich bin auf dem Weg in die Stadt. Sie wohnen ja im Zentrum. Wollen wir uns nicht in einem Kaffeehaus treffen. Am Telefon … «
»… Gerne«, unterbricht sie Anna. »Wann und wo ist es Ihnen recht?«
»Sagen wir in einer Stunde?«
»Perfekt und wo?«
»Schlagen Sie etwas vor.«
»An Samstagen verabrede ich mich normalerweise mit meiner Freundin in unserem Stammlokal, der ›Spaghetteria‹. Sie ist heute verhindert. Wollen wir uns dort treffen? Wissen Sie, wo das Lokal liegt?«
»Kenne ich. Also in einer Stunde.«
»Super. – Danke, ich werde pünktlich sein.«
Anna ist überpünktlich. Bereits eine Viertelstunde vor dem vereinbarten Termin trifft sie im Lokal ein und wählt einen Platz im Gastgarten, nahe der Hausmauer, wo man sich ungestört unterhalten kann.
Anna versucht, sich einen Fragenkatalog zurechtzulegen. Als sie ihre Fragen in ihr Notepad tippen will, trifft Frau Santora ein.
»Sehr lieb, dass Sie sich für mich Zeit nehmen. Danke«, beginnt Anna die Unterhaltung.
»Schön, dass wir uns einmal persönlich kennenlernen. War ja schon höchste Zeit. Sie sind ja viel hübscher, als Sie ihre Mutter beschrieben hat«, schmeichelt Santora.
Anna spürt, wie ihr das Blut in den Kopf schießt. Es ist schon lange her, dass sie ein solches Kompliment erhalten hat.
»Sie sehen ja ihrer Mutter zum Verwechseln ähnlich. Ich meine natürlich, wenn man die Jahre, die sie trennen, außer Acht lässt.«
»Danke. Sie bringen mich in Verlegenheit. Übrigens, mir ergeht es genauso – ich meine damit, dass wir uns persönlich, so von Angesicht zu Angesicht, kennenlernen. Meine Mutter hat andauernd von Ihnen erzählt. Sie sind ja sozusagen ihre beste Freundin ...«
»... Beste Freundin? Sagen wir so – einzige Freundin, und damit natürlich beste Freundin. Aber wollen wir uns nicht duzen? Ich kenne so viele Einzelheiten aus Ihrem Leben. Das ›Sie‹ ist für mich befremdlich … «
»Gerne … Ich bin die Anna.«
»Ich bin die Birgit.«
»Also liebe Anna, alles, was ich dir über deine Mutter und ihren Verbleib erzählen kann, habe ich dir schon gestern am Telefon erzählt … «
»Du hast einen Freund, Joseph glaube ich, erwähnt? Weißt du, woher er kommt? Wer er ist? Von wo sie ihn kennt?«
»Sosehr ich auch über das Leben deiner Mutter im Detail Bescheid weiß, sosehr hat sie mich über die großen Zusammenhänge im Unklaren gelassen. Diesen Joseph, den ich erwähnte, den gibt es, solange ich Maria kenne. Sie hat sich drei, vier Mal im Jahr mit ihm getroffen. Als du noch klein warst, durftest du immer bei einer Freundin übernachten, während sie zu ihm fuhr. Weißt du eigentlich, dass deine Mutter zeitweise unter psychischen Problemen litt?«
»Nein, ist mir nie aufgefallen. Sie hat mir gegenüber nichts dergleichen erwähnt. – Was meinst du?«, hakt Anna neugierig nach.
»Siehst du, auch das kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Ich versuche mir die Teile nur zusammenreimen.«
»Birgit, sag schon, welche Probleme vermutest du?«
»Jetzt wird es schwierig für mich. Ich weiß nicht, was du weißt oder nicht weißt. Was darf – kann – ich dir sagen, was mir deine Mutter unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hat. Ich möchte keinen Vertrauensbruch begehen, andererseits will ich dich nicht in der Luft hängen lassen.«
»Das klingt jetzt nicht sehr einleuchtend für mich, aber trotzdem glaube ich, zu verstehen. Vorschlag: Schmeiß' einen Begriff in die Runde und ich erzähle dir meinen Wissensstand. Anhand dessen kannst du dann entscheiden, was du von deinem Wissen preisgibst. Ist das OK für dich?«
»OK, das ist ein Deal. Also, das erste Wort wäre VATER.« Birgit sieht Anna erwartungsvoll in die Augen.
»Du meinst meinen Vater? Diesbezüglich kann ich dir nur sagen, dass es ein Agreement mit Maria gab: Sie mich bat, nicht nach ihm zu fragen. – Daher kenne ich ihn nicht. – Aber eines Tages, als sie merkte, dass mich das Thema immer stärker beschäftigte, mich nicht mehr losließ, meinte sie unter Tränen: Verurteile mich nicht – auch ich war einmal jung. Ich war unterwegs, ich hatte einfach Lust – im wahrsten Sinne des Wortes – auf einen Mann. Und den traf ich in dieser Nacht einen gut aussehenden Typ, an dem alles dran war, nach dem mich gelüstete. Es kam, wie es kommen musste: Wir landeten in meinem Bett. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Auch keine auf den Zweiten. Damals wollte ich mich nicht auf eine längerfristige Beziehung einlassen. Ich gab vor, eine selbstbewusste Frau zu sein, die niemals Fragen stellt, für die Neugier ein Fremdwort sei. Bereits in dieser Nacht trennten sich unsere Wege wieder. Ich kannte weder seinen Nachnamen noch Adresse. Darüber hinaus spielte mir in jenen Tagen mein Monatszyklus oft einen Streich. Ich merkte viel zu spät, dass ich schwanger war – erst, als ich dich bereits in mir spürte. Ich wollte dich, selbst wenn ich nicht wusste, wer dein Vater ist. Er kannte zwar meine Adresse und hätte mich leicht finden können, aber er hat keinen Gebrauch davon gemacht. Ich war ihm möglicherweise zu abweisend, wahrscheinlich ließ es sein Stolz nicht zu, sich bei mir wieder zu melden. Und so kam es, wie es kam. Ich bin mit dir glücklich geworden.«