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»Oh Gott … «, presst Birgit hervor. »Das ist starker Tobak. Maria hat mir das nie erzählt. Eigentlich wollte ich nur wissen, ob du deinen Vater kennst, denn sie hat ihn mir gegenüber nie erwähnt. Und wie gehst du mit der Tatsache um?«
»Wie soll man damit umgehen? So eine Geschichte kann man nur akzeptieren, man muss lernen, dass man keine Chance hat, seine Fragen beantwortet zu bekommen. Das ist alles.«
Birgit ergreift Annas Hand und schaut ihr mitfühlend in die Augen. Sie ringt nach Worten, findet jedoch nicht die Passenden.
»Sag, weil wir gerade beim Thema Männer sind: Hat meine Mutter nie einen erwähnt?«
»Oh ja, hin und wieder tauchte ein Name auf. Aber spätestens nach zwei, drei Monaten beendete sie oder er die Affäre. Einmal hat sie davon gesprochen, dass sich Liebhaber mit den Worten: ›Du bist nicht einfach, man hat es nicht leicht mit dir.‹, verabschiedet haben.«
»Wie lange kennst du meine Mutter bereits?«
»Na ja, ich trat, während Marias Babypause in das Unternehmen ein. Als sie zurückkam, wurden wir schnell Freundinnen. Zunächst auf geschäftlicher Basis, danach auch auf privater. Nach zwei Jahren wurde ihr die Abteilungsleitung übertragen. Fünf Jahren später trat ich an ihre Stelle und sie übernahm die Unitleitung.«
»Darf ich dich etwas Persönliches fragen: Glaubst du, dass meine Mutter glücklich ist?«
Birgit beginnt zu erzählen. Natürlich hat sie den Eindruck, dass Maria ein zufriedener Mensch sei. Aber gleichzeitig auch eine Suchende. Dieses Bild von ihrer Freundin hätte sich bei ihr eingeprägt. Es hilft ihr, zu erklären, warum Annas Mutter immer wieder starken Gemütsschwankungen ausgesetzt ist. Maria ist auf der Suche, findet aber nicht, wonach sie Ausschau hält.
Anna hängt Birgit förmlich an den Lippen. Jedes einzelne Wort speichert sie für sich ab. Sie erfährt viel Neues, das so manche ihrer Fragen beantwortet, die sie sich nie zu stellen getraute.
»Sag, weißt du Genaueres über diesen Joseph?«
»Nein, nicht viel mehr, als das ich dir schon erzählt habe. Scheint ein Jugendfreund von ihr zu sein, jedenfalls kennt sie ihn länger als mich. Wie hat sie es immer ausgedrückt: ›Das war vor deiner Zeit‹. Er dürfte die männliche Hemisphäre und ich die weiblich abgedeckt haben.« Birgit macht eine Pause und setzt anschließend fort: »Also, Joseph ist ein Jugendfreund von ihr. Wenn sie mit ihm gesprochen hatte, ging es wieder eine lange Zeit gut. Allem Anschein nach wohnt er in der Provinz. Ich glaube, er lebt in Wengthal oder Lengthal. Mehr weiß ich nicht.«
»Denkst du, sie hat mit ihm geschlafen?«
»Schwer zu sagen. Du meinst eine Bettgeschichte auf Abruf? Eine On-Off-Beziehung? Sieht deiner Mutter nicht ähnlich. Aber stille Wasser sind tief. Es könnte genauso gut ein Psychotherapeut sein …«
»… bei dem man gleich ein Wochenende verbringt und übernachtet? Wäre eine ungewöhnliche, neuartige Form der Patientenbetreuung.«
Anna startet ihr Notepad. Ruft Google-Maps auf. Gibt den Namen Wengtal ein. Keine Treffer. Versucht es mit Lengtal. Ihr wird Lengthal vorgeschlagen. Akzeptiert. »Ich habe hier ein Lengthal an der Schwarza. Hundertachtzig Kilometer entfernt. Ist es das?«, fragt Anna.
»Das könnte es sein. Deine Mutter hat einmal erwähnt, dass sie zwei Stunden benötigt, wenn sie zu Joseph fährt. Was hast du jetzt vor?«
»Was kann ich schon viel tun? Abwarten und Tee trinken. Die Polizei meint, man sollte 72 Stunden warten und erst danach jemanden als vermisst melden. Bis jetzt sind noch keine 48 vergangen.« Sie seufzt. »Das bedeutet, nicht vor Montag … «
»So weit wird es hoffentlich nicht kommen«, versucht Birgit, Anna zu trösten. »Sieh doch in ihrer Wohnung nach … «
»… Kann ich nicht. Bestenfalls anläuten. Ich habe keinen Schlüssel.«
»Aber ich«, erwidert Marias Freundin und kramt in ihrer Tasche. »Schau hier. Deine Mutter gab ihn mir für den Notfall. Und das hier ist ein solcher. Nimm ihn.«
Anna fragt sich, warum Birgit einen Schlüssel besitzt und sie nicht. Sie greift nach dem Schlüsselbund, hält ihn in der Hand und betrachtet ihn eingehend. Hat ihre Mutter etwas zu verbergen? Hat sie ein Geheimnis, das sie nicht wissen darf?
»Birgit, vielen Dank. Was würde ich jetzt nur ohne dich machen? – Ich werde zu ihrem Appartement fahren und Nachschau halten. Vielleicht findet sich dort ein Hinweis.«
»Das mit der Wohnung ist eine gute Idee«, erwidert Birgit und schaut auf die Uhr. »Anna, mein liebes Kind, die Zeit rast. Vergeht wie im Fluge mit dir. Ich muss leider aufbrechen, du hast ja meine Nummer. Halte mich auf dem Laufenden. Tag und Nacht.«
»Mach ich gerne«, verspricht Anna, »Ich übernehme die Getränke, sie gehen auf mich.«
»Danke, ist aber … «
»… beim nächsten Treffen bist du an der Reihe.«
Birgit steht auf, beugt sich zu Anna hinab und drückt ihr ein Küsschen auf die Wange. »Wird schon schief gehen. Ich denke an dich.«
Birgit winkt ihr von der Straße aus noch einmal aufmunternd zu. Anna zieht das Notepad zu sich und gibt den Namen Joseph und Lengthal in die Suchmaschine ein. Acht Treffer im Telefonbuch. Obwohl sie jedes einzelne Ergebnis untersucht, ergibt sich kein brauchbarer Anhaltspunkt. Sie beginnt nochmals von Anfang an zu lesen. Keiner der Einträge stimmt mit ihren Vorstellungen, ihren Hinweisen überein.
Anna startet einen neuen Versuch: Tippt Lengthal und Hotel ein. Wieder verknüpft. Kein Treffer. Lengthal scheint zu klein zu sein, um einem Hotel als Lebensgrundlage dienen zu können. Die Suche weist, den nächstgelegene Hotelbetrieb erst in zehn Kilometern Entfernung aus.
Was hat Birgit erwähnt? Einen Psychiater oder Psychotherapeuten, überlegt Anna und tippt Psychiater und Lengthal ins Suchfeld ein. Auch keine Treffer. Sinnlos, denkt sie.
Zu guter Letzt durchforstet sie die Websites der regionalen und überregionalen Zeitungen. Aber sie findet keinen Hinweis, der ihr weiter helfen könnte. Resigniert schaltet Anna ihr Notepad aus.
Während sie ihren Kaffee zu Ende trinkt, kreisen ihre Gedanken um die Beziehung zu ihrer Mutter. Es wird ihr immer deutlicher bewusst, wie wenig sie sie kennt, trotz der ständigen Nähe.
Anna bezahlt und macht sich auf den Weg. Würde sie ihre Mutter in der Wohnung antreffen? Oder wird sie vielleicht vor leeren Zimmern stehen? Wonach sollte sie überhaupt suchen? Wieweit darf sie in die Intimsphäre ihrer Mutter eindringen, Kästen und Schubladen durchsuchen? Würde sie gar ein wohlgehütetes Geheimnis entdecken?
4
Die drei Männer haben bereits kurz nach Sonnenaufgang ihre Zimmer verlassen. Der alte Thilo, Seniorchef des Hauses, hatte ihnen ihr bestelltes Frühstück auf der Terrasse serviert.
»Ein ganz schön mürrischer Typ«, meint der große Hagere.
»Ist ihm nicht zu verübeln. Schau auf die Uhr. Wenn ich nicht freiwillig aufgestanden wäre, würde ich noch missmutiger unterwegs sein, um diese Tageszeit. Wir sollten froh sein, dass er uns das Frühstück zubereitet hat«, sagt der Kleinere und räuspert sich.
»Sag, er war doch früher der Chef hier? Oder täusche ich mich?«, fragt der Hagere in die Runde.
»Ja, war er, bis er Norman das Hotel übertragen hat. Heute kümmert sich der Alte um den Garten und die Boote. Soviel ich mitbekommen habe, ist er bereits seit Jahren in Pension.«
»Freunde, so leid es mir tut, mir pressiert's. Ich muss zusehen, dass ich rechtzeitig beim Kongress bin. Die wollen meinen Vortrag hören. Sind noch gut zweihundert Kilometer – also, bis zum nächsten Mal. Ciao«, sagt der Glatzkopf, rafft sein Gepäck an sich und eilt zum Fahrzeug. Nach zehn Minuten sieht Thilo, wie auch die beiden anderen aufbrechen. Als sie losfahren, schaut er ihnen lange hinterher.
»Norman, du kannst schon hinausfahren. Ich erledige hier alles. Ich glaube, mehr als fünf Forellen werden wir heute nicht benötigen. Wir haben nur einen Hotelgast und zwei Tischreservierungen. Wenn es abends wieder schüttet, dann wird das eine ruhige Zeit«, hört Norman die Stimme seines Vaters sagen.
»In Ordnung. Ich bin bald zurück«, erwidert er und stakst zum Bootssteg hinunter.
»Die Angel mit den Ködern habe ich dir bereits ins Boot gelegt!«, ruft ihm Thilo nach. Zum Dank hebt sein Sohn die rechte Hand.
Der Steg knarrt leise unter Normans Gewicht. Dumpf schallen die Schritte auf den schweren Holzbalken. Er zieht das kleine blaue Ruderboot heran und springt geschmeidig hinein. Solche Grazie hätte man ihm aufgrund seines Körperbaues nicht zugetraut. Im Sitzen rückt er die Angel entlang der Bordwand zurecht. Ein kleiner Plastikkübel dient ihm als Schöpfwerkzeug. Eimer für Eimer kippt er das Regenwasser der letzten Nacht, aus dem Boot, in den See.
Mit langen, kräftigen Ruderschlägen zieht er auf den dunkelgrünen, zu dieser frühen Stunde fast schwarzen See hinaus. Er sieht hinüber zur Steilwand, wo er den besten Fangplatz vermutet. Er korrigiert etwas seinen Kurs. Hauchzarte Dunstschleier wälzen sich langsam am Westufer entlang, erforschen jeden Strauch, schmiegen sich um sämtliche Bäume. Die Sonne spiegelt sich im See und zeichnet einen goldenen Streifen auf die Wasseroberfläche. Die kleinen Wellen, die von Normans Boot aus spielerisch zu den Ufern laufen, brechen die Sonnenstrahlen und lenken sie in alle Himmelsrichtungen ab, und erwecken die goldfarbene Bahn zu quirligem Leben.
Norman rudert der Steilwand entgegen. Noch wenige Ruderschläge, dann würde er sein Ziel erreicht haben. Langsam hebt er die schweren, in Bootsfarbe lackierten Blätter aus dem Wasser und verstaut sie längsseits. Er befestigt den Köder am Haken, wirft die Angel aus und beobachtet das gemächliche Auf und Ab des Schwimmers. Er muss an die Frau denken, die er gestern mittags begrüßte. Sie war nicht zum Abendessen erschienen. Vielleicht hat sie einen Ausflug unternommen. Als er abends, um halb elf, das Hotel abschloss, war sie jedenfalls noch nicht zurück. Gerne hätte er sich mit ihr unterhalten. Über die vielen Jahre hinweg waren sie Freunde geworden, die sich stundenlang Geschichten erzählen konnten. Er hofft, dass sich heute Abend die Gelegenheit dazu bieten würde. Er freut sich darauf, mit ihr ein Gläschen ihres Lieblingsweines, den er immer wieder bei seinem Weinlieferanten, nur für sie, bestellte, zu trinken und um Neuigkeiten auszutauschen.
Plötzlich zuckt der Schwimmer. Norman ergreift die Angel. Wieder verschwindet der Schwimmkörper unter der Wasseroberfläche und wird in die Tiefe des Sees gezogen. Ruckartig zieht der Wirt die Rute zurück. Ein Prachtexemplar einer Regenbogenforelle hat angebissen. Nach kurzem Kampf hievt er sie ins Boot und ergreift mit festem Griff den zappelnden Raubfisch. Krallt seinen Daumen und Zeigefinger in dessen Kiemen. Packt den Kopf des Fisches und mit einem gekonnten, kräftigen Ruck bricht er ihm gnadenlos das Genick. Im nächsten Augenblick hängt die Forelle bewegungslos in seiner Hand. Norman füllt den Eimer mit Wasser und wirft den toten Fisch hinein.
Er überlegt, ob er an dieser Stelle bleiben soll, oder einen neuen Platz aufsuchen sollte. Sein Blick tastet dem Ufer entlang. Plötzlich erkennt er eine Gestalt, die am Ende des Steilhangs liegt.
Wer sonnt sich bereits früh am Morgen, noch dazu am Fuße des Abbruchs? Auf dieser Gesteinshalde, fragt er sich und rudert zur Felswand. Vielleicht wird seine Hilfe benötigt? Trockenen Fußes ist diese Stelle nicht zu erreichen. Nur schwimmend oder mit einem Boot. Instinktiv erhöht Norman die Schlagzahl. Er dreht sich um. Der Körper ist bekleidet. Hose, Hemd und Schuhe. Daher ist es nicht anzunehmen, dass dieser Mensch zu der Stelle geschwommen ist, aber ein Boot sieht er nicht. Soviel er sich erinnert, fehlt auch keines am Steg.
Er dreht sich nochmals um. Der Körper liegt kopfüber. Die Gliedmaßen stehen in unnatürlichem Winkeln ab. Schrecklich verrenkt. Dem Wirt durchfährt ein grauenerregender Gedanke: ›Es wird sich doch niemand über die Wand in den Tod gestürzt haben?‹
Normans Boot stößt unsanft gegen einen Felsen. Er verliert beinahe das Gleichgewicht.
Ohne auszusteigen, erkennt er, dass hier jede Hilfe zu spät kommt. Der Körper liegt mit dem Kopf abwärts, das Gesicht halb ins Wasser getaucht. Das rechte Knie ruht auf einem großen Stein, es ist unnatürlich nach hinten durchgebogen. Die weißen Tennisschuhe sind stellenweise dunkelrot gefärbt. Die Jeans an manchen Stellen aufgerissen. Das T-Shirt teilweise vom Rücken gefetzt. Norman erkennt den Verschluss eines Büstenhalters.
Er schreit auf, er brüllt: »NEIN!«
Gleich darauf nochmals. Die Wälder auf der einen und die Steilwand auf der anderen Seite des Sees werfen seine Schreie mehrfach hin und her, als würden sie mit einem, sich zerbröselnden Tennisball spielen. Jedes Mal ein wenig leiser, bis sie endgültig von der Stille verschluckt werden.
Ohne das zertrümmerte Gesicht gesehen zu haben, ahnt er, wer vor ihm liegt. Dicke Tränen laufen ihm über die breiten Wangen. Die Hände zittern wie Espenlaub. Er ringt nach Luft.
Hektisch wendet er die Nussschale und rudert mit mächtigen Schlägen zurück zum Steg. Schon von Weitem hört er seinen Vater rufen: »Warst du das vorhin, der so geschrien hat?«
»Warte, bin gleich bei dir!«, ruft Norman, ohne den Kopf zu wenden. Steif klettert er auf den Bootssteg. Die tote Forelle, die mit dem Bauch nach oben und offenem Maul im Eimer schwimmt, lässt er im Boot.
»Vater, sie ist tot. – Sie liegt auf der Abraumhalde der Erlöserwand …« Der Schock spiegelt sich in Normans Gesicht wider. Schier unerträgliche Müdigkeit erfasst ihn.
»Wer ist tot? Wer liegt da drüben?«, fragt der alte Thilo mit erregter Stimme.
Sein Sohn versucht, den Namen der Toten zu artikulieren, aber seine Stimmbänder versagen kläglich ihren Dienst. Zittrig zeigt er mit dem Arm in Richtung des Seeblickzimmers.
Thilo schaut hinauf und erkennt, was ihm Norman mitteilen will. Er greift sich mit beiden Händen an den Mund. Vor Schreck reißt er die Augen weit auf und starrt seinen Sohn ungläubig an.
»Bist du dir sicher?«, presst der Alte die Worte zwischen den Fingern hervor.
Norman antwortet mit wirrem, zustimmendem Kopfnicken.
»Hast du die Polizei verständigt?«, fragt der Alte.
Norman schüttelt den Kopf.
»Wir müssen sie sofort verständigen … «
»Mein Mobiltelefon – liegt – liegt – in der Küche«, stammelt Norman und reibt sich über seine geröteten Augen.
»Ich hab meines hier … «, antwortet der alte Mann entsetzt und wählt die Notrufnummer.
»Danke.« Norman ist erleichtert, dass nicht er mit der Polizei sprechen muss.
»Bergmann hier. Wir haben einen Toten gefunden … am Bergsee … nein, nicht ich, mein Sohn, Norman, Norman Bergmann … die Leiche liegt drüben, am Fuße der Steilwand. Ist vermutlich von der Aussichtsplattform gestürzt … Danke … Wann werden Sie hier sein? … Schnellstmöglich. Aha. Ich verstehe…. Ja, wir warten auf der Hotelterrasse auf Sie. … Mein Name? Thilo Bergmann, ich bin Normans Vater. … Bis gleich … Auf Wiederhören.«
»Wer kommt?«
»Sie schicken eine Streife. Kripo wird verständigt. Wer genau, wissen sie nicht. Es hängt davon ab, wer heute Dienst hat. Er hat irgendetwas von Selbstmord gesagt und da ist eine Abteilung so und so vom LKA zuständig.«
Norman steht noch immer wie versteinert am Bootssteg und fixiert mit seinen Blicken die Erlöserwand. Unfähig sich zu rühren. »Weißt du, dass ich sie sehr mochte? Pa.«
»Ja, das ist mir nicht verborgen geblieben. War in all den Jahren nicht zu übersehen.«
»Ich glaube, sie hat heute Nacht nicht in ihrem Zimmer übernachtet.«
»Bist du dir sicher?«
»Lass uns nachsehen. Ich muss es wissen … «
Thilo schnappt sich den Eimer mit dem toten Fisch und sie stapfen hinauf zum Hotel. Norman blickt an der Rezeption auf das Schlüsselbrett. Der Schlüssel für das Zimmer 301 – Seeblickstüberl – fehlt. Sie fahren mit dem Aufzug nach oben. Klopfen an die Zimmertür. Keine Antwort.
Norman zeigt auf den Schlüssel, der im Schloss steckt. Thilo drückt die Klinke und öffnet die Tür. Das Bett ist unberührt. Kein Gepäck zu sehen. Die Etagere ist leer. In der Minibar fehlt nichts. Keine persönlichen Dinge stehen herum.
»Wie gibt es das? Ihr erster Weg war immer auf ihr Zimmer. Sie hat mich doch gestern begrüßt und meinte, sie sei durstig. Ich habe ihr gesagt, dass die Minibar voll ist, und der Zimmerschlüssel steckt. Sie wollte sich später bei mir melden. Hat sie nicht getan. Vielmehr sah ich sie am Nachmittag mit unserem Pfarrer in Richtung Seeblick aufsteigen. Der kam aber alleine den Steig wieder herunter. Ohne sie. Ich habe sogar eine Weile zugewartet … «
»… steht ihr Auto am Parkplatz?«
»Der alte Golf? Den habe ich das ganze Wochenende nicht gesehen. Die einzigen Autos, die in der Früh hier gestanden sind, waren die Fahrzeuge der Gäste und der unser Jeep. Die drei Männer sind heute Morgen abgereist.«
»Das ist eigenartig … «, sagt Thilo leise. Nachdenklich spricht er weiter: »Pass auf, wenn die Polizei kommt, beantworte nur ihre Fragen. Erzähle ihnen nichts, was über die Fragen hinausgeht. Halte dich mit Informationen zurück … «
»… Warum das?«, unterbricht ihn Norman.
»Erzähle ich dir später, in einer ruhigen Minute. Ich habe einen Verdacht. Ist eine lange, traurige Geschichte. – Vertraue mir bitte. Ich will in nichts unnötig hineingezogen werden. Ich will nicht, dass man falsche Schlüsse zieht«, beschwört Thilo seinen Sohn.
Norman nickt irritiert.
Als die beiden im Erdgeschoss aus dem Fahrstuhl steigen, hören sie das Heranbrausen des Martinshorns der Polizei. Sie gehen hinaus auf die Terrasse, wo zwei Uniformierte die Treppe heraufkommen. Im Hintergrund, auf dem Parkplatz blinken eintönig die blauen Lichter des Einsatzwagens. Sie begrüßen die Polizisten und stellen sich einander vor.
»Und wo ist die Leiche?«, will der Größere wissen.
»Sie finden sie drüben, bei der Felswand«, antwortet Norman und zeigt in die Richtung.
»Wie kommt man dort hin? Gibt es einen Weg?«
»Nein, die Stelle ist nur mit einem Boot zu erreichen. Oder sie schwimmen. Trockenen Fußes geht's nicht.«
Der kleinere der beiden Polizisten greift zu seinem Telefon und gibt die Informationen weiter.
»Die Kriminalpolizei ist unterwegs«, sagt er und steckt sein Mobiltelefon wieder in die Brusttasche.
»Kripo? Wieso Kripo?«, will Norman wissen.
»Die Polizei muss bei ›gewaltsamen Tod‹ eingeschalten werden. Egal, ob Unfall oder Mord. In dem Fall, scheint es sich um Selbstmord zu handeln … «
»Selbstmord?«, fragt Norman zögerlich. »Kann es sich nicht um einen Unfall gehandelt haben?«
»Egal. Von dieser Wand sind doch schon einige Menschen in den Freitod gesprungen … «
»Das ist aber Jahrzehnte her … «
»… Auch wenn es Jahrzehnte her ist, das bedeutet nicht, dass es nicht jederzeit wieder passieren kann. Aus diesem Grund gehen wir vom Schlimmsten aus. – Von Suizid.«
Thilo und Norman nicken, senken ihre Blicke zu Boden, als wollten sie nach entsprechenden Erinnerungen suchen.
Ein weiterer Einsatzwagen trifft ein. Die Beamten unterhalten sich. Schreiben Notizen in ihre Blöcke. Nach einer Weile hört man aus der Ferne das typische Folgetonhorn der Feuerwehr. Aufgrund des Echos, hätte man meinen können, dass es eine Vielzahl an Fahrzeugen sei, die zu einem Waldbrand gerufen worden sind.
»Wozu die Feuerwehr?«, fragt Norman seinen Vater. Dieser antwortet mit Achselzucken. Rümpft ein wenig die Nase.
»Geht es dir besser?«, fragt Thilo.
»Es muss.« Norman lässt eine Pause entstehen. »Es muss«, wiederholt er, resignierend.
»Komm, gehen wir hinein. Wenn sie etwas wollen, dann werden sie uns schon finden.«
Vom Feuerwehrwagen werden Zillen abgeladen und zum See getragen. Es herrscht geschäftiges Treiben. Es wird laut gerufen. Anweisungen werden erteilt. Hüfthohe Ständer werden am Parkplatz verteilt und mit rot-weißen Plastikbändern verbunden. In regelmäßigen Abständen ist das Wort: POLIZEI. Aufgedruckt.
Eine metallene Zille mit zwei Wachebeamten legt vom Ufer ab. Sie paddeln zur Felswand hinüber. Auf halber Strecke beschließen die Männer, sich ihrer Jacken zu entledigen. Die Sonne nähert sich unaufhaltsam dem Zenit.
Die Polizisten nehmen die Leiche in Augenschein. Sie versuchen, nahe heranzukommen. Der Vordere kann dem Leichnam ins Gesicht sehen. Jedenfalls an die Stelle, wo es sein sollte. Er kann nur einen grässlichen Brei, geformt aus Fleisch und Knochen erkennen. Als wäre das Antlitz von einer Müllpresse zuerst zerquetscht und anschließend von einem Häcksler bearbeitet worden. Er wendet sich ab, dreht sich zur gegenüberliegenden Seite des Bootes, und übergibt sich.
»Das ist nichts für uns. – Hier müssen die Fachleute, die Leichenbestatter oder meinetwegen die Ärzte ran. Lass uns umkehren«, sagt der Ruderer und wäscht sich mit Seewasser das restliche Erbrochene aus den Mundwinkeln.
Auf dem Parkplatz treffen immer mehr Menschen ein. Meist Familien, die mit ihren Kindern einen Tagesausflug unternehmen. Sie wollen mit Wandern, oder mit den Booten am See, einen geruhsamen Tag verbringen. Obwohl es nicht viel zu sehen gibt, bleiben sie stehen und verfolgen neugierig das Treiben. Versperren unnötig den Weg. Gerüchte, aufgrund aufgeschnappter Wortfetzen, verbreiten sich in Windeseile unter den Gaffern. Immer wieder müssen sie gebeten werden, die Absperrungen zu respektieren.
Auch der ›Postillion‹, die Gratiszeitung des Schwarzatales, ist bereits vertreten. Die ältere Redakteurin steht interessiert auf der Terrasse und genießt ihr erstes Glas Wein. Man kann förmlich spüren, dass dies nicht ihr ›erster Fall‹ ist. Sie strahlt die grenzenlose Ruhe der üppigen Erfahrung aus.
Auf der Schattenseite des Parkplatzes entsteigt ein gut aussehender, durchtrainierter Mann missmutig seinem Fahrzeug. Dunkle Bartstoppeln besprenkeln sein markantes Kinn. Er schiebt mit beiden Händen die gepflegten, langen Haare in den Nacken und klemmt eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr. Der angespannte Gesichtsausdruck lässt vermuten, dass er nur zähneknirschend hier herauf gefahren ist. An diesem Morgen war er gerade dabei, zum Peilstein am Rande der Tiefebene, aufzubrechen, als ihn der Anruf seines Vorgesetzten erreichte. Mürrisch hatte er die Freunde davon unterrichtet, dass wieder ausgerechnet am Wochenende die Pflicht ruft, und er ihr Treffen absagen muss. Er vertröstete sie auf den nächsten Tag, falls sich der Sachverhalt rasch aufklärt. Sehnsüchtig schaut er hinauf zum Flammenkogel und stellt sich vor, wie er sich mit dem neuen Gleitschirm in der Thermik über den Gipfel tragen lässt, um anschließend durch das Seitental Richtung Lengthal zu schweben. Er seufzt wehmütig, stopft das Poloshirt in die Jeans, setzt die Sonnenbrille auf und wackelt gemächlich zur Absperrung hinüber. Die Westernstiefel klackern unüberhörbar über den Asphalt. Er hebt das Plastikband der Umgrenzung empor, um darunter durchzuschlüpfen, wird aber von einem drahtigen Polizisten daran gehindert. Der Mann zieht seine Dienstmarke aus der Gesäßtasche und hält sie dem Wachebeamten unter die Nase. »Oberkommissar Holzinger. Peter Holzinger«, stellt er sich vor. »Wer hat hier das Sagen?«, fragt er ihn mit tiefer, sonorer Stimme.
Der Polizist zeigt auf einen weiteren Uniformierten, der sich mit einem Kollegen unterhält und bittet ihm zu folgen.
Sie erzählen Holzinger von dem grausigen Fund, und dass sich der eine beim Anblick der schrecklich zugerichteten Leiche übergeben musste.
»Sie sagten, dort oberhalb der Felswand gibt es eine Aussichtsplattform?«, fragt der Kriminalbeamte.
»Ja, wir haben den Zugang zum Weg, der nach oben führt, abgesperrt. Nur für den Fall der Fälle.«
»Ausgezeichnet. – Die Sperre bleibt vorläufig aufrecht. – Ich werde die Spurensicherung sicherheitshalber informieren.«
Der Oberkommissar holt sein Mobiltelefon hervor und informiert die Spurensicherung in der Provinzhauptstadt. Sie wird in einer Stunde Vorort sein. Holzinger macht die Runde, begrüßt einen nach dem anderen persönlich und wechselt mit jedem von ihnen einige Worte. So ist es für ihn am einfachsten, sich rasch einen umfassenden Überblick zu verschaffen. Er erfährt, dass der Chef des Hotels, der die Leiche gefunden, und dessen Vater, der die Polizei verständigt hat, im Gasthof, zu finden seien.