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Peter Holzinger stapft die Treppen zur Terrasse hinauf. Oben verweilt er für einen Moment, und wirft erneut einen sehnsüchtigen Blick Richtung Flammenkogel. Den Wirt und seinen Vater kann er nicht erspähen. Als er die Gaststube betritt, huscht ein Lächeln über sein Gesicht, nimmt die Sonnenbrille ab und sagt: »Da hätte ich Gift darauf nehmen können. Der ›Postillion‹ ist wieder einmal schneller als die Polizei erlaubt … «
»Wunderschönen Samstag, Herr Kommissar«, erwidert die in die Jahre gekommene Redakteurin des Postillions. »Haben Sie schon Neuigkeiten für uns? Unfall, Mord, Selbstmord. Unsere Leser lechzen nach Informationen.«
»Das kann ich mir gut vorstellen. Woher haben Sie die Info, dass hier ein Unfall passiert ist?«
»Das ist ein Redaktionsgeheimnis. Aber ich kann Ihnen versichern, wir sind nicht das einzige Blatt, das von dem Vorfall Wind bekommen hat.«
»Und warum sind Sie heute zu zweit?«
»Das liebe Fräulein an meiner Seite ist eine junge Kollegin – von der Konkurrenz. Darf ich vorstellen: Claudia Bigler vom ›Kurier‹.«
Claudia erhebt sich und reicht ihm die Hand. »So trifft man sich früher als erhofft, Herr Holzinger. Jetzt habe ich ein Gesicht zur Stimme«, lächelt sie den Kommissar an.
»Wie klein doch die Welt ist, Frau Bigler.«
Für Claudia klingt der Tonfall des Kriminalisten in natura weit imposanter als am Telefon. Eine angenehme Gänsehaut kriecht ihrem Rücken entlang.
»Wenn die Damen mich entschuldigen wollen, die Arbeit wartet … «, sagt Holzinger und hält nach den beiden Wirten Ausschau. Er erspäht sie hinter der Rezeption.
»Herr Bergmann? Thilo und Norman?«, fragt der Kommissar die Wirtsleute.
»Ja?«
»Holzinger, Kripo. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«
»Warten sie, wir kommen zu Ihnen.«
Claudia greift nach ihrem Diktafon und schaltet auf ›Aufnahme‹, schiebt sie es unter die Tageszeitung und sagt: »Nehmen sie unseren Tisch. Meine Kollegin und ich wollen uns sowieso noch draußen umsehen.« Mit Nachdruck komplimentiert sie die Redakteurin des Postillions zur Tür und sieht aus den Augenwinkeln, dass die Herren an ihrem Tisch Platz nehmen.
Thilo erkundigt sich, ob er dem Kommissar etwas zu trinken anbieten dürfte.
»Ja, wäre nett. Ich hätte gern ein Glas Mineralwasser … «
»Kaffee dazu?«, fragt Norman.
»Nein danke. Später vielleicht – Herr Bergmann, Sie haben die Leiche heute Morgen gefunden?«
»Ja. – Bei der Felswand, als ich beim Fischen war. Es war so gegen halb acht.«
»Ist Ihnen – außer der Toten – etwas aufgefallen?«
Norman überlegt. »Nein, nichts Herr Kommissar. Ich habe sie nur zufällig entdeckt, als ich nach einem guten Angelplatz Ausschau gehalten habe. Und dabei habe ich die Leiche dort liegen gesehen.«
»Sind Sie aus dem Boot ausgestiegen?«
»Nein. Ich bin herangerudert und man hat von Weitem erkennen können, dass es sich um einen Toten handelt. – Haben Sie die Leiche gesehen? … Nein? … Dann werfen Sie einen Blick darauf. So wie sie dort liegt, so kann nur ein Toter liegen.«
»Ich werde es mir nachher ansehen, wenn wir den Leichnam bergen.«
»Haben Sie die Tote erkannt?«
»Eigentlich habe ich den Kopf nur von der Rückseite gesehen. Sie liegt bäuchlings auf den Felsen. Alles ist blutverschmiert.«
Der Kommissar bringt eine Notiz nach der anderen zu Papier und wendet sich an den alten Thilo. »Wie viele Gäste haben Sie derzeit im Hotel?«
»Keinen. Die Zimmer, die wir letzte Nacht vermietet hatten, also die Gäste sind heute frühmorgens, so gegen sechs Uhr, abgereist. Ein Gast, der ein Zimmer gebucht hatte, ist erst gar nicht angereist.«
»Hatten Sie gestern Abend Restaurantgäste?«
»Ja, eine zwölfköpfige Jagdgesellschaft – mit Anhang – war hier. Von sieben bis zehn. Und die drei Männer, die heute früh morgens abgereist sind.«
»Das heißt, dass gestern abends 27 Gäste hier waren und – zwölf von ihnen mit Anhang?«
»Ja. Ich war der dreizehnte Jäger, wenn sie es so wollen. Alle anderen waren in Begleitung. Meine Frau ist leider bei der Geburt meines Sohnes … «
» … und keiner hat das Restaurant verlassen? … So für eine halbe Stunde oder länger«, schneidet ihm Peter das Wort ab.
»Nein. Niemand. Das wäre mir aufgefallen. Mein Vater saß ja an ihrem Tisch, der kann Ihnen das bestätigen«, mischt sich Norman ins Gespräch.
Thilo nickt zustimmend und sagt: »Mein Sohn kümmert sich eigentlich um das Hotel und den Service.«
»Die Jäger kamen so gegen viertel acht, einer von den Hotelgästen mittags und die restlichen beiden ungefähr um sechs, halb sieben. Ich habe ihnen persönlich die Zimmerschlüssel beim Einchecken gegeben«, ergänzt Norman.
»Haben Sie Angestellte?«, fragt Holzinger weiter.
»Natürlich. Ein Zimmermädchen, aber die hatte schon Dienstschluss und einen Kellner, der seit zwei Tagen krank ist. Er ist am Mittwoch beim Mountainbiken gestürzt und hat sich den Oberarm gebrochen. Er fällt für mindestens vier Wochen, wenn nicht länger, aus.«
»Sonst niemand? Keinen Koch … «
»… der bin ich. Ich bin auch der Koch«, mischt sich Norman ins Gespräch.
»OK – ich benötige von Ihnen eine komplette Liste der Personen. Könnten Sie mir die Namen auf einem Blatt Papier zusammenschreiben?«, bittet Holzinger. »War sonst noch jemand gestern hier?«
Thilo legt seinem Sohn die Hand auf den Unterarm und sagt: »Unser Pfarrer, Joseph Moser, der wie immer in der Kapelle – gleich da drüben – nach dem Rechten sehen wollte, er war mit einem neuen Auto oder Leihwagen hier. Ich habe ihn den Steig herunter gehen gesehen. Schien in Eile gewesen zu sein, denn ich wollte ihm ein kleines Bier spendieren, aber er lehnte ab. … « Thilo fährt sich mit dem Mittelfinger über seine Stirnfalten. »… dann war da noch der Bierführer Klaus von der Bärenbrauerei. Der hat sich im Anschluss an die Getränkelieferung an der Theke ein Mineralwasser gegönnt. – Ach ja, zwei Pärchen – Wanderer – waren hier, die nach ihrem Spaziergang auf der Terrasse Bier und Kaffee getrunken haben. Sonst habe ich niemand gesehen«, ergänzt der alte Thilo kopfschüttelnd.
Der Kommissar notiert die Aussagen, fügt persönlichen Notizen hinzu und bedankt sich für die ausführliche Auskunft. Er greift nach dem Glas, leert es auf einen Zug, nickt den beiden Wirten zu und geht Richtung Terrasse.
Die Bergmanns bleiben am Tisch sitzen. »Norman warte, ich muss dir etwas erzählen«, sagt Thilo zu seinem Sohn.
In diesem Augenblick trifft die Spurensicherung ein. Zwischenzeitlich ist auch der Leichenwagen vorgefahren.
Der Kommissar schaut zu Claudia hinüber und lächelt ihr zu.
*
Das Spurensicherungsteam teilt sich auf. Die einen machen sich auf den Weg zum Seeblick hinauf. Die Restlichen sind mit der Zille zur Erlöserwand unterwegs.
Holzinger überlegt, ob er seinen Chef informieren soll. Grübelt hin und her, kommt aber zum Schluss, dass er erst die Berichte des Gerichtsmediziners und der Spurensicherung abwarten will. Plötzlich hört er eine Stimme hinter sich: »Herr Holzinger? – Darf ich stören?«
Der Kommissar dreht sich um und sieht Claudia auf sich zukommen. Er mustert sie. Tolles Mädchen, denkt er. Die langen Beine, die von ihrem kurzen, schwarzen Rock noch zusätzlich betont werden, ihr Gang, ihr ausnehmend hübsches Gesicht, die rotblonden, fast schulterlangen Haare, ihr bezauberndes Wesen, verwirren ihn. Er weiß nicht, wohin er zuerst sehen soll. Seinen Gleitschirm hat er bereits vergessen. Verdrängt von Frau Biglers Erscheinung.
»So ganz alleine? Wo ist denn Ihre Kollegin vom ›Postillion‹?«, versucht er seine Verwirrtheit zu überspielen und massiert mit Zeigefinger und Daumen den Nasenrücken.
»Die hat ihren Bericht schon in die Redaktion geschickt. Überschrift: Die Erlöserwand hat ein neues Opfer gefordert. Der Text frei nach dem Motto: Da hat sich ein Mensch – oder wer – vom Seeblick gestürzt – oder wo – und ist dabei ums Leben gekommen – oder was! Sie leerte vorhin ihr zweites Glas Wein, und hat sich wohl bereits auf die Heimreise begeben … «
»… und Sie wollen noch bleiben? Was hält Sie hier?«, fragt Peter neugierig.
Was für eine Frage, denkt Claudia. »Mir läuft nichts davon. Auf mich wartet niemand zuhause. Ich habe also Zeit, und ich denke mir, ich könnte meine Schulden bei Ihnen begleichen. Gleich heute, hier und jetzt … «
»… und mich so ganz nebenbei aushorchen – oder was?!«, antwortet er mit gespielter Echauffiertheit. »Ich warne Sie, das kann noch lange dauern. Ich werde ebenfalls von niemanden erwartet, und Eile ist für mich eine große Unbekannte.«
»… und? Wissen Sie denn schon mehr … «, überspielt Claudia ihre freudige Erregtheit. Er ist Junggeselle! Juhu!
»Eigentlich kann ich nur die Worte ihrer Kollegin strapazieren. Wir können zu diesem Zeitpunkt nichts Genaues sagen. Weder wer die Frau war, weshalb sie hier war, noch warum ihre Leiche dort drüben gefunden wurde. Ich warte auf den ersten Zwischenbericht der Mitarbeiter.«
»Darf ich Ihnen die Wartezeit mit der Einlösung meiner Schuld verkürzen? Ich lade Sie gerne auf einen Kaffee ein.«
»Warum nicht?«
Das ging ja easy, freut sich Claudia und ihre Lippen verziehen sich zu einem schmalen Lächeln.
Sie nehmen auf der Terrasse Platz und sie bestellt zwei große Braune. Sie ordnet immer wieder aufs Neue ihren Laptop, ihre Fotokamera mit dem Teleobjektiv und ihren Schreibblock. Schlussendlich liegen die Dinge, wie Zinnsoldaten vor der Schlacht, penibel ausgerichtet, in einer Linie.
»Frau Bigler, sagen Sie, was werden Sie in ihrem Artikel schreiben?«
»Also zunächst einmal, ich heiße Claudia … «. Mit diesen Worten strahlt sie ihr Gegenüber unmissverständlich an.
Der Kommissar fühlt, dass nur eine Antwort zulässig ist: »Ich bin der Peter … «, antwortet er überrumpelt.
Claudia nimmt ihre Kaffeetasse und stößt mit ihm an. Er erwidert ihr sichtlich verlegen: »Also mit Kaffeeschalen habe ich auch noch nicht auf das Du-Wort angestoßen.«
»Ich kann dich beruhigen, ich auch nicht. … Du wolltest wissen, was ich in meinem Artikel schreibe? Ehrlich gesagt, das weiß ich nicht. Was glaubst du, warum ich noch hier bin? Ich dachte, du könntest … «, flunkert sie.
»Claudia, das fängt ja gut an. Alles nur Berechnung … «, scheint er ihre Gedanken erraten zu können.
Sie beißt sich auf die Unterlippe. UUUPS! Das war jetzt ein wenig zu schnell, denkt sie.
Steige auf die Bremse, ermahnt sie sich. »Nein keine Spur von Berechnung. Ich will nur vermeiden, dass ich den gleichen nebulösen Artikel abliefere, wie meine Kollegin. Ich weiß doch, dass du mir nicht zu viel verraten darfst. Aber ich dachte mir, so ganz blauäugig, vielleicht schaue ich dir lediglich über die Schultern. Du brauchst ja kein Wort zu sagen.«
Peter überlegt. Sieht Claudia tief in die Augen. »Und du glaubst, darauf falle ich herein?«
»Ich räume dir das absolute Vetorecht ein. Ohne deine Zustimmung schicke ich nichts in die Redaktion. Du musst mir den Artikel freigeben. Das ist doch ein Angebot? Oder? … Du siehst, du kannst nicht verlieren. … Und ich kann nur gewinnen«, strahlt Claudia über das ganze Gesicht, ohne mit den Augen zu klimpern.
»Du machst, was I C H dir sage?«
Der Redakteurin steigt die Röte in die Wangen. Sie nickt verlegen und senkt ihren Blick. Das plötzliche Läuten des Telefons hilft ihr über die Situation hinweg.
»Bigler.« Nach einer kurzen Pause: »Kann ich dir nicht sagen. Sitze hier auf der Terrasse, mit einem netten Bekannten, inmitten der Berge. Blicke auf einen smaragdgrünen See. Hier lässt es sich aushalten. Wir sollten irgendwann ein Wochenende hier verbringen. Toll hier.«
Claudia hält ihr Telefon noch eine kurze Weile ans Ohr, beendet wortlos das Gespräch und wendet sich wieder Peter zu. »OK. Wo waren wir gleich stehen geblieben? – Ach ja, weiß schon. Können wir gerne ausprobieren … «
»Aber nicht schummeln«, ermahnt er sie, ohne auf ihr Telefonat einzugehen.
»Großes Klosterschülerin-Ehrenwort!«
*
Claudia schießt von der Terrasse aus einige Fotos, als die Leiche in einem funktionalen, schmucklosen Aluminiumsarg vom Boot getragen wird. Der Sarg wird in einen kleinen, faltbaren Pavillon mit weißen Stoffseitenwänden gebracht, der auf dem Parkplatz errichtet worden ist, wo der Gerichtsmediziner mit den Mitarbeitern ungestört seiner Aufgabe nachgeht.
»Servus, kannst du mir schon Genaueres sagen?«, fragt der Kommissar den Arzt, der die Brille bis zur Nasenspitze vorgezogen hat, und ihn über den Brillenrand anschaut.
»Na ja, jedenfalls nicht alltäglich. Die Identifizierung wird nicht einfach. Sie ist mit ziemlicher Sicherheit die Felswand herabgestürzt. Unzählige Knochenbrüche. Das Gesicht ist zur Unkenntlichkeit zertrümmert. Da werden wir auch keinen brauchbaren Zahnabdruck mehr abnehmen können. Ihr Genick ist ebenfalls gebrochen. Auf dem Hinterkopf haben sich Holzsplitter in die Kopfhaut gebohrt und sie partiell skalpiert. Willst du es dir anschauen?«
»Äh, nein danke«, wehrt Peter das nicht gerade verlockende Angebot ab. »Ich muss nicht alles sehen. Mir genügen deine Fotos. Kampfspuren?«
»Gute Frage. Ich werde die Leiche noch im Detail untersuchen, aber bis auf die Holzsplitter, sieht nach einem Sturz aus ca. zweihundert Meter Höhe aus. Sie hatte sich regelrecht zwischen den Felsbrocken verkeilt. War nicht leicht, sie zu bergen … «
»Holzsplitter? Wieso? Was ist da so ungewöhnlich an denen?«, hakt Peter instinktiv nach.
»Die Holzsplitter können von einem Baum, oder dicken Ast, oder von – was weiß ich – herrühren.« Der Arzt schiebt seine Brille zur Nasenwurzel zurück. »Rest wie immer. Sagen wir montags.«
»Todeszeitpunkt?«
»Schwer zu bestimmen. Ich muss noch die gestrigen Temperaturen checken. Das nächtliche Gewitter kommt erschwerend dazu. Aber aufgrund der durchnässten Kleidung, den Totenflecken – grob geschätzt, gestern später Nachmittag, früher Abend.«
Der Kommissar bedankt sich, zieht sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und tippt die Nummer der Spurensicherung ein.
»Peter hier. Habt ihr etwas Brauchbares gefunden?«
»Ja und Nein«, lautet die Antwort. »Nein, weil wir nichts am Felsenrand, an der Kante, entdeckt haben. Ja, weil es hier jede Menge von Fußspuren gibt. Besonders eine sticht hervor. Eine ungewöhnliche Rutschspur, die in einem Profilabdruck eines Bergschuhes endet … «
»Daraus folgt?«
»Es könnte sich um Kampfspuren handeln. Komm rauf und sieh es dir an … «
Peter seufzt tief und blickt den steilen Weg entlang zur Seeblick-Plattform hinauf.
5
Anna verweigert sich ihren samstäglichen Prosecco. Sie fährt hinaus zum Stadtrand, wo sie aufgewachsen ist. Wo ihre Mutter eine schöne große Wohnung besitzt. Auf der Fahrt hört sie die aktuellen Nachrichten zur vollen Stunde. Nichts, das sie beunruhigen könnte. Anna hofft insgeheim, dass ihr ihre Mutter öffnen würde, wenn sie klingelt.
Sie drückt auf den Knopf neben dem Namen Steiger. Wartet. Presst nochmals ihren Finger auf den Kopf. Tiefer. Keine Antwort.
Schließlich schließt sie das Haustor auf und nimmt die Treppen nach oben. Wirre Gedanken schießen ihr durch den Kopf. Was wäre, wenn sie ihre Mutter regungslos am Boden vorfände, nachdem sie von der Leiter gestürzt war? Halb verdurstet. Bewusstlos. Nur eine von zahlreichen Vorstellungen, die sie beim Hinaufgehen quälen.
An der Wohnungstür läutet sie erneut. Klopft an die Tür. Lauscht.
Nichts.
Anna dreht den Schlüssel zweimal im Schloss, öffnet langsam die Tür und betritt in die Wohnung. Sie riecht die abgestandene Luft und ruft laut nach ihrer Mutter. Stille. Keine Antwort.
Mittlerweile haben sich ihre Augen an die ungewöhnliche Dunkelheit angepasst. In jedem Zimmer sind die schweren Vorhänge vorgezogen. Grau in Grau erkennt man gerade noch die Umrisse der Wohnungseinrichtung. Anna tippt auf den Lichtschalter. Kein Strom. Sie betätigt im Sicherungskasten die FI-Schalter. Aus dem Schlafzimmer hört sie das leise, eintönige Piepsen des Radioweckers. Sie geht zu den Fensterfronten und zieht die Vorhänge zur Seite. Anschließend kippt sie die Fenster, öffnet die Balkontür und lässt frische Luft in die Wohnung strömen.
Anna fragt sich, womit sie anfangen sollte. Wonach wollte sie suchen? Ihre Mutter war anscheinend verreist. Es sieht jedenfalls danach aus. Fenster geschlossen, von Vorhängen verhüllt, die beiden Sicherheitsschlösser an der Eingangstür, doppelt versperrt.
Sie beginnt zögerlich jedes Zimmer zu inspizieren. Das Wohnzimmer ist geschmackvoll eingerichtet, wie auf den Fotos der Hochglanz-Einrichtungsmagazine. Keine herumliegenden Zeitungen, keine getragenen Kleidungsstücke die auf Sesseln hängen, stören die Ordnung. Sogar der Notizblock wird feinsäuberlich von einem Bleistift griffbereit flankiert. Die Wohnung ist penibel aufgeräumt, was wiederum typisch für Menschen ist, die Angst vor der Außenwelt haben.
Das ist meine Mutter, denkt Anna. Sie betritt das Badezimmer. Sie schaut auf die Etagere. Ihr fällt sofort auf, dass die Zahnbürste fehlt. Auch ihr heiß geliebtes Parfum befindet sich nicht auf dem angestammten Platz. Sie öffnet den Unterschrank. Der Haarföhn liegt nicht an seiner Stelle. Der Kulturbeutel glänzt ebenfalls durch Abwesenheit.
Anna erinnert sich an die zahllosen Diskussionen, als sie noch hier gewohnt hat, und als sie nach dem Duschen die einzelnen Utensilien nicht an ihren Ort zurückgelegt hat. Wie oft hat sie damals gesagt: ›Ma, die Welt geht nicht unter, nur weil ich das Ding nicht sofort auf seinen Platz zurückgegeben habe.‹. Ihre Mutter hat immer mit dem gleichen Satz geantwortet: ›Die Welt geht deshalb nicht unter, aber du machst es mir schwerer. Ich habe die doppelte Arbeit. – Ich bin diejenige, die ständig hinter dir herräumen muss!‹
Anna hat damals ihre Mutter nicht verstanden. Heute weiß sie, wovon sie gesprochen hat. Heute weiß sie, wie selbstverständlich es sein kann, blind nach Gesuchtem zu greifen. Und dafür ist sie ihrer Mutter dankbar, dafür liebt sie sie.
Anna wechselt ins Schlafzimmer hinüber. Der Radiowecker blinkt in kurzen Abständen. Sie inspiziert den Bekleidungskasten. Die kofferartige Reisetasche fehlt. Sie faltet die Türen des Schrankes auf. Ein belegter Kleiderbügel reiht sich an den nächsten. Sie lässt ihren Zeigefinger von einem Kleid zum anderen springen. Das blaue Lieblingskleid ihrer Mutter fehlt, genauso wie das weiß-rot-gestreifte.
Meine Mutter muss tatsächlich verreist sein. Zu ihrem Joseph? Sie ist abgereist, ohne mich zu informieren, ohne nur ein Sterbenswörtchen mir gegenüber zu erwähnen, spukt es ihr durch den Kopf.
In Anna steigt leiser Groll auf. Sie sieht sich weiter um. Auf dem kleinen Beistelltisch findet sie Prospekte von den umliegenden Supermärkten. Jeder reklamiert die günstigsten Preise für sich. Noch billiger kommt man mit den jeweiligen Rabattmarken davon. So groß die ausgelobten Verkaufspreise der diversen Artikel auch gedruckt sind, um die zeitliche Beschränkung der Sonderangebote entziffern zu können, bedarf es hingegen Spürsinn und einer übergroßen Lupe.
Anna sucht weiter. Im Seitenteil des Kastens entdeckt sie – von einem Stapel Pullover verdeckt -, einen Karton. Sie legt die Kleidungsstücke auf das Bett und zieht die große Schachtel hervor.
Sie setzt sich auf das Bett und hebt den Deckel ab. Fotos. Haufenweise Fotos.
Anna greift hinein und krallt sich einen Packen. Es sind Bilder aus Annas Jugend. Sie findet eines, als sie mit ihrer Mutter in Cinque Terre, mit seinen bunten Häusern, besucht hatte. Ein anderes zeigt sie vor dem Eiffelturm, gefolgt von einer Reihe Strandfotos, Badeurlaube am Meer, Wanderausflüge und dergleichen. Hin und wieder huscht ein Lächeln über ihre Lippen. Anna versinkt in den Erinnerungen von damals. Greift nach einem weiteren Stapel. Schlussendlich leert sie den Karton gänzlich.
Was würde meine Mutter jetzt sagen, wenn sie dieses Durcheinander auf ihrem Bett sähe, fragt sich Anna.
Ein Foto, das ihre Mutter mit einem Hochzeitspaar, und einem ihr unbekannten Mann zeigt, erregt Annas Aufmerksamkeit. Auf der Rückseite steht ein Kalendertag und handschriftlich: ›Brautpaar mit Trauzeugen‹. Das war vor meiner Geburt, stellt sie fest, als sie das Datum überprüft. Ein Weiteres zeigt ihre Mutter mit einem Mann. Südländischer Typus, durchtrainiert, mit dunklen, langen Haaren. Auf der Rückseite: Trauzeugen.
Anna fragt sich, wo das Dirndl, das Maria auf dem Foto trägt, wohl geblieben war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, es je in ihrem Schrank gesehen zu haben. Jedenfalls hat sie in diesem Kleid ungemein sexy ausgesehen. So viel Mut hat sie ihrer Mutter nicht zugetraut. Vielleicht gehörte ihr das Dirndl gar nicht, sondern sie hatte es sie sich für die Trachtenhochzeit nur geliehen.
Anna steht mit dem Foto in der Hand auf und betrachtet sich im Spiegel, der an der Innenseite der Tür angebracht ist. Ihr fällt auf, wie ähnlich sie ihrer Mutter, in ihrem Alter, sieht. Selbst die kleinen Grübchen an ihren Wagen scheinen ident zu sein. Auch die wenigen Sommersprossen befinden sich an den gleichen Stellen. Sie vergleicht die Nase, die Mundpartie und ihren Oberkörper. Sie findet keinen wesentlichen Unterschied. Was hatte Birgit heute im Kaffeehaus gemeint? ›Wäre nicht der Altersunterschied, dann hätte man sie und ihre Mutter für Zwillinge gehalten‹. Anna schmunzelt. Sie hat nicht nur viel vom Aussehen ihrer Mutter geerbt, sondern auch viel von ihrem Wesen.
Sie schiebt die Fotos mit der flachen Hand zusammen und lässt sie über die Bettkante zurück in die Schachtel fallen. Sie nimmt den Karton, stemmt ihn hoch und will ihn auf seinen Platz zurückschieben. Doch irgendetwas scheint sich zu spießen. Anna greift mit ihrer Hand nach oben ins Fach, tastet den Boden ab und findet einen orangefarbenen Umschlag. Anschließend hüpft sie in die Höhe, um den restlichen Fachboden sehen zu können. Sie erkennt eine kleine, flache Plastikschachtel und ein Fläschchen, stellt sich auf die Zehenspitzen und angelt sich die beiden Dinge.
Neugierig öffnet sie die kleine, luftdicht verschlossene Schachtel und findet darin ein fein säuberlich zusammengefaltetes, dunkelblaues Halstuch. Ein herber, angenehmer, aber schwacher Geruch verbreitet sich. Sie presst das Tuch auf ihre Nase. Eindeutig ein Herrenparfüm. Ihr empfindlicher Geruchssinn erkennt: Amber, Baummoos, Moschus, und Sandelholz. Das ist kein Duft, den ihre Mutter selbst getragen hat oder trägt. Anna faltet das Tuch wieder, legt es fein säuberlich in die Schachtel zurück und drückt den Deckel auf.
Auf dem Fläschchen klebt ein neutrales Etikett, auf dem handschriftlich das Wort: KETAMIN zu lesen ist. Sie hält es gegen das Licht und schüttelt es. Die kleine Flasche ist prall gefüllt, bis hin zum oberen Rand.
Anna überlegt: KETAMIN, das Wort kommt ihr bekannt vor. Sie ist sich sicher, es schon einmal gehört zu haben. Nur in welchem Zusammenhang? Jedenfalls ist das kein Medikament, denkt sie. Wäre es eines, dann würde es ihre Mutter im Arzneischrank aufbewahren.
Anna nimmt das Kuvert zur Hand. Es ist verschlossen. Der obere Rand ist fein säuberlich verklebt. Auf dem Umschlag befindet sich ein Stempel ihrer Firma. Daneben der händische Vermerk: Birgit Santora / Ergebnis: Spektralanalyse / DNA-Analyse.
Anna ist verwirrt. Sie fragt sich, ob sie das Kuvert öffnen soll? Nein, keinesfalls, denkt sie. Es wird seinen Grund haben, warum es verschlossen ist. Ein Zeichen, dass selbst ihre Mutter keinen direkten Zugriff auf den Inhalt haben will. Außerdem scheint es Birgit zu gehören, schließlich steht ihr Name darauf. Vielleicht bewahrt sie das Kuvert für ihre Freundin auf. Sorgsam legt Anna alles wieder an seinen Platz zurück.
Wo könnte sie noch nachsehen, um einen Hinweis auf den Verbleib ihrer Mutter zu finden? Sie ist ratlos.
OK, eines ist klar: Wie sie von Birgit erfahren hat, ist ihre Mutter derzeit auf Kurzurlaub. Hat sie ja schon öfter gemacht. Mit einem Joseph. Sie muss wohlauf sein, denn wenn sie einen Unfall erlitten haben, oder in einer Klemme stecken, dann hätte sie sich längst bei ihr gemeldet. Der Gedanke gefiel ihr. Damit lassen sich ihre Sorgen – für den Augenblick – besänftigen.