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Der Sepp! Der ging ihm ab. Die Gespräche mit ihm. Ruhig und unaufdringlich. Menschlich eben. Gewalt hatte es deshalb nie bei ihnen im Dorf gegeben.
Halt! Bis zu dem Zeitpunkt, wo die Wiener PR-Lady Walli Winzer aufgetaucht war. Vielleicht war’s ja auch ein Zufall, dass sie sich immer gerade dort aufhielt, wo etwas los war. Also genauer gesagt, wo ein Mord geschah. Kein Wunder, dass die Leute anfingen, langsam sauer auf sie zu werden und sie bald nirgends mehr gerne gesehen war.
Na ja, sauer waren die Großlichtenerinnen und Großlichtener schnell auf solche, die nicht aus dem Ort stammten. Das bekam sogar das Nachbardorf zu spüren. Und dann erst bei einer, die aus Wien hierhergezogen war.
Nur, er mochte sie. Er konnte sich zwar nicht erklären, warum. Aber vielleicht, weil sie eben nicht aus der kleinen Gemeinde stammte. Für ihn war sie eine aus der großen, weiten Welt gewesen. Wien, das er nur aus dem Fernsehen kannte.
Als Schüler war er mit der Klasse einmal in der Hauptstadt gewesen. Auf dem Stephansdom oben und beim Riesenrad im Prater. War schon toll. Das hatte ihm gefallen. Und die Menschenmassen, hinter denen man sich anonym verstecken konnte. Nicht gesehen wurde, obwohl man da war. Anders als im Dorf. In der Stadt erlebte man etwas, ohne dabei selbst etwas erleben zu müssen, stellte er entspannt fest.
Außerdem gefiel sie ihm, diese PR-Lady, mit all ihren Ecken und Kanten. Und mit ihrem großen Herz. Das sie versteckte, wenn ihr jemand zu nahe kam.
Unabsichtlich.
Das hatte er festgestellt. So für sich. Als er sie beobachtet hatte. Meist ohne dass sie es merkte. Heimlich. In ihrem Garten. Durch die Lücken in der Hecke. Gerne machte er sich so sein Bild von den Menschen. Unbeobachtet verhielten sie sich, wie sie eben waren. Sie verstellten sich nicht. Waren sie selbst. Wie diese Fremde in Großlichten es war. Mit ihrem frechen Kater Filou. Was er eben mochte. Etwas dafür übrig hatte. Fürs andere. Fürs Auffällige. Aus der Stadt, in die er deshalb selbst vor Kurzem gezogen war.
»Verdammt und zugenäht!«, polterte es vor der Lifttür. »Wann erwische ich dich endlich!« Walli Winzer riss fahrig an ihrer viel zu vollen Tasche und versuchte weiter, deren Innenleben einigermaßen in den Griff zu bekommen, was ihr unter größter Mühe noch nicht gelang.
Inzwischen hatte sich die Lifttür geöffnet und wieder geschlossen. Der Lift war ohne Fahrgast hinuntergefahren. Walli Winzer kramte weiter.
»Ah, endlich«, stieß sie einen Laut der Befreiung aus. Sie zog den Reißverschluss ihrer Handtasche zu und sah einer eleganten jungen Frau nach, die an ihr vorbeiging. Also, eigentlich war es weniger die Frau, der ihre Aufmerksamkeit galt, als vielmehr das Kleid, das sie trug. Es war schwarz mit einem weißen, spiralförmigen Muster, wirkte frisch und aufregend zugleich. Es hypnotisierte richtiggehend, stellte sie nach längerem Hinsehen fest.
Ihr Blick richtete sich wieder geradeaus auf den Lift, vor dessen geschlossener Tür sie weiterhin stand. Offensichtlich benutzten ihn jetzt auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um das Bürohaus in ihrer Mittagspause zu verlassen. Da hieß es sogar für die Chefetage: bitte warten.
Sie blickte inzwischen auf ihr ungleiches Paar Schuhe. Der linke Fuß war immer noch kühler als der andere. Klar, schließlich war der Schuh noch nicht getrocknet. Sonst führte sie immer ein Reservepaar in ihrem Auto mit. Doch gestern wollte sie das Modell wechseln und hatte das neue Paar im Waldviertler Haus gelassen.
Ihr Kater Filou hatte wieder einmal Unfug getrieben. Sie war sofort hinter ihm her gewesen, hatte die Schuhe ins Vorzimmer geworfen und vergessen, danach die Neuen ins Auto zu legen.
Walli Winzer seufzte und beschloss, das Treffen mit ihrem Ex, Thomas, auch gleich dahin gehend zu nutzen, eines ihrer Lieblingsschuhgeschäfte in der Wiener City aufzusuchen, um für Nachschub zu sorgen.
Ein Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Es war das Hochklappen der Radfixierung am Postwagen gewesen. Der Mann, der zuvor im Zimmer mit dem Rücken zu ihr gestanden war, hatte sie an diesem gelöst und setzte sich mit seinem Rad langsam in Bewegung.
»Nico? Nico Salmer?«, fragte sie erstaunt. »Das gibt’s doch nicht!«
»Hallo, Frau Winzer«, freute sich dieser sichtlich über die unvorhergesehene Situation. Er verließ den Wagen und kam auf sie zu.
Walli Winzer streckte ihm die Hand entgegen. Sie freute sich in dem Moment tatsächlich, ein vertrautes Gesicht aus Großlichten zu sehen. Obwohl: Nico Salmer hätte sie hier nie vermutet.
»Es ist schon lange her, dass wir einander das letzte Mal gesehen haben.«
»Fast a Jahr wird des jetzt her sein«, behielt er den Überblick.
»Dass Sie so plötzlich aus dem Dorf weg sind, hat mich, ehrlich gesagt, überrascht. Aber nicht nur mich.«
Nico Salmer hielt kurz inne, bevor er fortfuhr: »Ma muass amoi aus der gewohnten Umgebung ausse. I wollt wissen, wie’s da in der Stadt is.«
»Und wie ist es?«, fragte Walli verschmitzt und genoss es, ihr Gegenüber durch ihre Anwesenheit ein bisschen verlegen zu sehen.
Eine Antwort blieb er ihr schuldig, denn die Lifttür öffnete sich. Walli Winzer ging darauf zu und stellte sich wenig damenhaft zwischen die Aufzugstüren. »Nico, wir sehen einander jetzt öfter. Ich werde nämlich die PR-Kampagne für die neue Produktlinie von Bachwirken betreuen und daher ab und zu vorbeikommen.«
An seiner Mimik konnte sie erkennen, dass er angenehm überrascht war. Er hätte sicher gerne etwas länger mit ihr geredet, aber der Augenblick schien wenig geeignet zu sein. Daher sagte er wie so oft – nichts.
Walli Winzer blieb noch kurz stehen. Sie wartete auf eine weitere Reaktion. Doch als sie merkte, dass er wie angewurzelt stehen blieb und keine Antwort von ihm kommen würde, stieg sie ohne abschließendes Wort ein. Mit ihren Gedanken war sie längst anderswo – bei Thomas, der schon auf sie wartete.
3. Kapitel
Was für eine Schnapsidee das von ihr war, mit dem Auto in Wien herumzufahren. Walli ärgerte sich. Bereits das dritte Mal war sie erfolglos um denselben Häuserblock im 18. Wiener Gemeindebezirk gekurvt. Kein Parkplatz weit und breit.
Nur ruhig bleiben. Irgendwo würde sich schon etwas finden, hoffte Walli Winzer. Auch, wenn ihre Geduld bereits an einem seidenen Faden hing.
Sie beobachtete bereits zum zweiten Mal, wie ein Mann versuchte, sein Motorrad zu starten, dessen Zündung offenbar streikte. Eine Frau, die einen Kinderwagen vor sich herschob und ein Kleinkind an der Hand hielt, war während ihrer Runden auch nicht viel weiter gekommen. Und ein alter Mann, der zuvor auf der einen Straßenseite gestanden war und versucht hatte, mit dem Feuerzeug seine Zigarette anzuzünden, hatte es aktuell nur auf die gegenüberliegende Seite geschafft.
Endlich! Walli Winzer war erleichtert, als schließlich jemand vor ihr aus einer Parklücke fuhr. Diese kleine Freude des Alltags hob gleich ihre Stimmung. Das war auch notwendig. Vor allem, wenn sie an die Moralpredigt von Thomas dachte, die demnächst auf sie niedergehen würde. Er wartete immerhin schon eine halbe Stunde auf sie. Und eines wusste Walli mit Sicherheit: dass er das ganz und gar nicht mochte.
Zu warten. Auf sie zu warten.
Wie er das früher, während ihrer Ehe, so oft getan hatte. Das von ihr hinnehmen musste, als sie noch verheiratet waren.
Walli hatte nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen und begonnen, ihre Agentur aufzubauen. Viel Unvorhersehbares trat natürlich in den ungeeignetsten Momenten ein. Eh klar! Walli musste darauf reagieren und hatte Berufliches immer vor ihre Ehe mit Thomas Drexler gestellt. Ja, und? Okay, das geht mit einem bürgerlichen Mann nicht. Auf Dauer hatte sich das gerächt. Ihre Ehe zerbrach. Sicher nicht nur daran.
Thomas war letztlich kein einfacher Charakter. Spröde und voll hoher Erwartungen an seine Umgebung. Natürlich war er das in gewisser Weise bis heute geblieben. Denn keiner konnte seine Persönlichkeit um 180 Grad ändern. Schließlich war bei jedem nur so viel da, wie eben da war. Auch wenn Mentaltrainer und Psychiater einem das mehr oder weniger anders verklickerten.
Zugegeben, Thomas war in den letzten Jahren etwas nachsichtiger geworden. Musste er wohl auch, denn welche Frau ließ sich heutzutage von einem moralisierenden Spießer auf Dauer gängeln und sich permanent sagen, wo’s langginge?
Walli Winzer nahm den Weg zum Café quer über den Platz.
Bemängelte Walli einst Schrulliges an Thomas, reagierte der jedes Mal eingeschnappt. Irgendwann wurde es ihr zu bunt. Nämlich dann, als sie bemerkte, dass sie im Beruf immer erfolgreicher wurde und sich die charmantesten Männer für sie zu interessieren begannen.
Als Thomas allerdings anfing, eine Reptiliensammlung anzulegen, und diverse Schlangen und Leguane zeitweise ihren Käfig verließen, um über ihre Bettdecke zu huschen, wurde es Walli Winzer zu viel. Sie musste raus. Raus aus diesen sie einengenden Verhältnissen. Raus aus der kleinbürgerlichen Lehreridylle. Und raus aus diesem Unverständnis gegenüber ihrer Gesamtsituation.
Überall hieß es: Frauen ran an die Schaltstellen der Macht! Kam frau dem nach, gab es nicht nur diesen einen Thomas, der einen daran hinderte, obwohl man ihn sogar liebte.
Viele machten es wie er. Als Lehrer erzogen sie die nächsten Generationen, manchmal noch nach längst überholten Gesellschaftsmustern. Auch Konzernbosse tickten nicht anders – außer man zog sie ganz schnell mit weiblicher Strategie ins Vertrauen – dazu gehörte auch Sex.
Selbst dieser fehlte Walli irgendwann in ihrer Beziehung. Doch wie hieß es später so oft: Alles war mittlerweile Geschichte, und Walli Winzer war eine der mächtigsten PR-Ladys in Österreich geworden.
»Hallo, Thomas!« Walli sah ihn, gebeugt über seinem Handy mit einer Tageszeitung neben sich. Er blickte auf und sein Gesicht verriet bereits eine gewisse Angespanntheit.
»Sorry! Aber du weißt, der Verkehr in Wien, vor allem seit Corona …« Walli ersparte sich weiterzusprechen. Thomas würde ihr sowieso kein Wort glauben.
Er sagte auch nichts, stand hingegen auf, küsste sie auf die Wangen und wies ihr den Platz.
»Komm setz dich!« Vorher nahm er seine Jacke vom gegenüberliegenden Stuhl und wartete darauf, dass Walli ihr Cape auszog. Damit machte er sich auf den Weg zum Kleiderständer, der sich neben der Eingangstür befand.
Walli sah ihm nach. Sie konnte es nicht glauben. Wo war seine Moralpredigt? Gut, über seine Belehrungen war sie altersmäßig hinausgewachsen. Aber wo blieben seine Vorwürfe? Gift hätte sie darauf genommen, dass er seinen Ärger nicht für sich behielt. War das wirklich Thomas? Ihr Thomas, den sie seit nunmehr 30 Jahren kannte?
Irgendetwas war da im Busch, dessen war sie sich sicher. Irgendetwas, worüber sie nicht informiert war. Sie spürte es förmlich. Was war es nur?
Die Spannung stieg. Augenblicklich würde sie es erfahren. Erfahren wollen! Was überlegte sie da überhaupt noch. Thomas würde damit sowieso nicht hinter dem Berg halten. So gut kannte sie ihn. Gleich würde er es ihr sagen, es sozusagen aus ihm heraussprudeln.
Thomas Drexler kam an den Tisch zurück. Walli schaute ihn vielsagend an. Er erwiderte ihren erwartungsvollen Blick und sagte: »Erholt schaust du aus! Das Waldviertel tut dir wirklich gut. Die Ruhe, die Stille.« Er musterte sie weiter.
Walli sagte nichts und wartete ab, was noch kommen würde. Das konnte doch nicht alles gewesen sein. Etwas hatte er noch in petto, da war sie sich sicher.
Aber was?
Es kam nichts. Auch weiterhin.
Stattdessen verhielt sich Thomas wohlwollend und friedlich. Schenkte ihr Beachtung. Er lächelte sie sogar an. Und das, obwohl sie zu spät gekommen war.
Die Situation war Walli nicht geheuer.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Eine Idee. Eine Eingebung. Ja, langsam wurde sie sich dessen immer sicherer. Nur das konnte es sein. Er wirkte so ausgeglichen, so in sich ruhend. Yoga machte er bestimmt nicht. Das konnte sich Walli nicht vorstellen. Also blieb nur eins: Thomas war einer Sekte beigetreten.
Ohne ihn weiter anzusehen, griff sie sich mit Zeige- und Mittelfinger an die Schläfen und begann dort einen Punkt zu massieren. Nicht zu fest und nur langsam. Walli schloss dabei die Augen. So hatte ihr Erna Reisinger, Hebamme und Kräuterexpertin in Großlichten, es gezeigt. Die Spannungen würden sich dadurch lösen, die Sauerstoffzufuhr im Gehirn angekurbelt und die Atmung langsamer werden.
Tatsächlich.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte Thomas besorgt. Er griff nach ihrer Schulter und wartete auf eine Reaktion.
Walli Winzer verharrte in ihrer Position und änderte diese nur langsam. Sie richtete sich auf und blickte in Thomas’ erwartungsvolles Gesicht. Gleich darauf starrte sie auf das kleine Blumenarrangement neben der Getränkekarte auf dem Kaffeehaustisch. Sie atmete tief ein, ohne die Luft hörbar wieder abzugeben. Walli war sich nicht sicher, wie und ob sie Thomas in seiner Lebenskrise würde beistehen können. Denn nur so etwas konnte es sein, wenn er bereit sein würde – obwohl katholisch –, sich jetzt für eine Sekte zu interessieren.
Nun ja, verklemmt war Thomas allemal. Auch wenn man es ihm auf den ersten Blick nicht gleich ansah. Aber seine Liebe zu strikter Regelmäßigkeit, zu Ritualen und seine Starrheit waren schon Hinweise darauf, dass er in einer immer komplexeren und unvorhersehbareren Welt nach Ankern suchte. Und das besonders in einer Chaoswelt, wie sie es mancherorts an Wiens Schulen war.
Orientierung verkündeten die neuen Heilsbringer aus den Sekten. Zufriedenheit und Gemeinschaft versprachen sie. Gaben esoterische Ziele vor. Emotionalisierten. Stimulierten unter ihrem Einfluss mehr Lebenszufriedenheit, um danach ihre jeweilige Ideologie besser durchsetzen zu können.
Walli wusste nicht, mit welchen Personen ihr Ex gerade abhing, wer Teil seines Freundeskreises war. Oder dirigierte ihn jetzt Alma, seine Frau, die bisher allerdings als eher aufgeschlossen gegolten hatte? Vielleicht war sie es, die Thomas so weit gebracht hatte? Na ja, nicht dass Walli Alma ablehnend gegenüberstand. Im Gegenteil! Sie war einst froh gewesen, dass Thomas eine Neue gefunden hatte. Und das, obwohl er zuletzt besonders anstrengend gewesen war.
Walli mochte ihren Ex ja nach wie vor. Aber anders eben. Auf Distanz. Na, war das schlecht, fragte sie sich, wenn man Jahre später einem vertrauten Menschen auf einer neuen Ebene begegnen konnte? Dabei auch all seine positiven Eigenschaften kannte und schätzte, die einem ja immerhin einmal etwas wert gewesen waren? Gewissermaßen in einem anderen Leben, aber eben doch. Zumindest einen Lebensabschnitt lang.
Thomas schaute Walli an. Er kannte ihren verhaltenen Blick. Irgendetwas schien sie zu beschäftigen. So, wie sie jetzt vor sich hin schaute und ihn dabei aus den Augenwinkeln heraus beobachtete, wusste er, dass sie sich eindeutig über etwas Gedanken machte. Nur worüber? Er erinnerte sich, dass sie das auch früher gerne gemacht hatte. Manchmal. Ihn heimlich beobachten. Das war aber schon lange her. Damals waren sie beide noch sehr jung gewesen.
Er erinnerte sich an den Sommer vor vielen, vielen Jahren, als er mit einer Gruppe von Freunden abhing. Lustig und frei ging’s damals unter ihnen zu. Sie besuchten den Prater. Genauer gesagt: den Wurschtlprater, den Wiener Vergnügungspark.
Ausgelassen waren sie gewesen.
Damals.
Ihr spärliches Taschengeld hatten sie zusammengekratzt und wollten unbedingt etwas erleben. Hoch hinaus! All die Träume, Hoffnungen, Wünsche! Die ganze Welt schien ihnen offenzustehen. Würde ihnen noch offenstehen.
Welches Hochgefühl! Mutprobe im Wurschtlprater war damals wie heute die Hochschaubahn. Diese riesige Achterbahn mit den vielen Kurven. Erst hoch – dann tief und steil nach unten.
Gut, dass sie alle vom Leben noch nichts gewusst hatten. Wie es sein konnte. Kommen würde. Kommen konnte. Nicht eben nur Sonnenschein, den sie damals erlebten, sondern auch trübere Tage. Solche, die sie noch nicht kannten. Worüber sie nie nachdachten, weil sie wohlbehütet aufgewachsen waren. Ihre Eltern Sorgen vor ihnen fernhielten. Sie innerhalb der Gruppe voller Übermut ihre Kräfte maßen. In Freundschaft natürlich. Meistens jedenfalls.
Thomas mochte es, an seine Jugendzeit zurückzudenken. Unbeschwert. Auch wenn er dabei einige unangenehme Lümmel aus seiner Klasse ausblendete. Doch all das hatte ihn ermutigt, ein Lehramtsstudium zu beginnen. Er liebte seinen Beruf. Auch heute noch. Viel hatte er für Kinder übrig. Obwohl sie tatsächlich anders als früher waren: anstrengender, fordernder, individueller, kurz gesagt: nerviger.
Aber an diesem Punkt konnte er sich schon während seiner Ehe mit Walli abarbeiten. Dieser Unsteten, Wechselhaften und nur in einem Punkt Beständigen: in ihrem Anstrengend-Sein!
Sei’s drum. Trotzdem war’s das alles wert gewesen. Sie beide – ein Team. Wie Walli damals schreiend und lachend in der Gondel der Hochschaubahn gesessen hatte, die Arme voller Begeisterung in die Höhe gerissen und danach schwankend, aber glücklich zum Ausgang getorkelt war. Dies alles hatte Thomas plötzlich wieder deutlich vor Augen. Wie er sie dabei beobachtet hatte.
Damals. Sie ihn aber nicht wahrgenommen hatte. Nicht bemerkte.
Vorerst.
Er sie schon. Denn sie gefiel ihm. War sexy, schlank, sinnlich.
Sie war auch lustig. Er hatte sie angesehen und sich in ihren Anblick vertieft. Die junge Frau berührte sein Herz. Sehr. Damals. Just in diesem Moment hatte sie seinerzeit zu ihm herübergeblickt. Eine Welt war für ihn aufgegangen.
In diesem Augenblick spürte er – nur sie.
Walli wurde langsam unrund. Sie bereitete sich darauf vor, Thomas sein Geheimnis zu entlocken. So behutsam sie konnte. Dabei sah sie ihn freundlich an. Überlegte vorerst aber, was sie beim Ober bestellen sollte. Es fiel wenig originell aus. Sie bestellte: »Einen Caffè Latte, bitte!«
»Auf dich ist eben Verlass, zumindest dabei«, witzelte Thomas gut gelaunt.
Walli war erstaunt. Er zeigte Humor. Auch wenn der gerade auf ihre Kosten ging. Aber immerhin. Ein neuer Zug an ihm. Thomas bestellte eine Melange. Das war ein Espresso mit doppelt so viel Wasser und Milchschaum. Sie wusste, er liebte diese klassische österreichische Kaffeespezialität.
»Du bist ja so gut drauf. Gibt es da etwas?«, fragte Walli Winzer vorsichtig.
Thomas sah sie offen an und schüttelte bedächtig seinen Kopf. »Ich freu mich, dass wir einander wiedersehen. Das ist alles. Ist ja schon eine Ewigkeit her.«
»Ja, ich weiß gar nicht, wann’s das letzte Mal war?«
»Ein halbes Jahr ist das mindestens her«, war sich Thomas Drexler sicher.
Walli begann erst gar nicht nachzurechnen. Viel zu sehr war sie damit beschäftigt, die für sie ungewöhnliche Situation unter Kontrolle zu halten. Sie sah daher ihren Ex mild und verständnisvoll an.
Da Thomas die gedankliche Abwesenheit Wallis nicht erklären konnte, beschloss er, ihr von seiner letzten Reise zu erzählen: »Eine beeindruckende Reise und ein unglaublicher Gegensatz, diese Türkei, damals zu heute …«
4. Kapitel
»Pass doch auf!«
Ein Mann fortgeschrittenen Alters wandte sich behänd einem jüngeren zu und stöhnte. Das Silbertablett, das mit Schwarztee gefüllten Gläsern beladen war, kippte seitlich. Den langen Weg durch den Schauraum hatte der Kellner unbeschadet gemeistert, und jetzt dieses Malheur! Die braune Lure auf dem Tablett drohte, auf Walli Winzers Blazer zu tröpfeln. Im letzten Moment konnte der erfahrenere Mann das Schlimmste verhindern.
»Puh, das war jetzt knapp.« Walli Winzer war rechtzeitig in Deckung gegangen und geschickt ausgewichen. Dabei war sie vom Stuhl aufgesprungen und hatte sich ungewollt einem der Umstehenden angenähert. Sie lächelte entschuldigend, was dieser mit besonderer Höflichkeit erwiderte. Er verneigte sich mit sanft abwehrender Geste vor ihr, die wohl Gleiches verdeutlichen sollte.
»Ömer, du musst schauen, wo du hinsteigst!«, rief ihm dessen Vorgesetzter wenig freundlich zu, dann wandte er sich an Walli: »Entschuldigen Sie. Ist Ihnen auch wirklich nichts passiert?« Er musterte Wallis Blazer.
Walli merkte, dass er stoppte, um ihr nicht zu nahe zu treten, und dass er seine Augen von ihr abwandte. Er winkte eine junge Kollegin herbei, die in der Nähe einer Besuchergruppe stand. Sie sollte seinen Gast auf der Suche nach vermeintlichen Teespritzern auf der Kleidung unterstützen.
Walli neigte sich ein wenig und musterte ihren Blazer, konnte aber nichts erkennen. »Lassen Sie’s. Es passt schon«, entgegnete sie in Richtung der jungen Frau. Diese ließ sich nicht aufhalten und ging um Walli Winzer herum, die jetzt in der Mitte des Verkaufslokals stand. Es war geräumig und voller handgeknüpfter Teppiche. Einige lagen gestapelt im Seitenbereich. An den Wänden hingen in Muster und Farbe aufeinander abgestimmte Kostbarkeiten.
»Da, sehen Sie! Sie haben doch etwas Tee auf der Hose. Seitlich vom Bug. Schauen Sie mal.«
Walli Winzer winkelte ihr Bein ab und stand plötzlich mehr oder weniger nach Balance suchend da. Sie bot eine unfreiwillig komische Pose. Sie wusste nicht, ob es das oder doch eher die Gesamtsituation war, die die Blicke der anderen auf sie zog. Die junge Frau kicherte, als sie Walli Winzer auf einem Bein hin und her hüpfen sah. Walli musste ebenfalls darüber lachen. Sie fuhr sich mit der Hand über den Fleck.
Eine ältere Frau kam auf sie zu und zischte: »Adile, draußen sind noch einige Häppchen hereinzuholen.« Sie machte eine beschleunigende Geste in Richtung der Nebenräume.
Die junge Frau tat, wie ihr geheißen. Ihrem heiteren Gesichtsausdruck tat dies dennoch keinen Abbruch.
»Natürlich ersetzen wir Ihnen die Reinigung. Wir haben eine Putzerei, die das für Sie erledigen wird. Adile Gül wird morgen bei Ihnen vorbeikommen und das Ensemble abholen.«
»Nicht der Rede wert.«
»Doch. Es ist uns sehr peinlich. Aber Ömer ist erst seit vergangener Woche als Praktikant bei uns.«
Walli Winzer lachte: »Da hat er aber tatsächlich noch einiges zu lernen. Vor so vielen Leuten quer durch den Saal zu laufen, ist sicher nicht leicht. Angestarrt zu werden und nicht nervös zu werden, das muss man erst lernen. Beim nächsten Mal kann er es schon.«
Walli wunderte sich über ihre Nachsicht. Vor zwei Jahren, also vor ihrem Waldviertel-Trip, wäre sie in so einer Situation vor Zorn explodiert. Aber jetzt? Keep cool. Alles war ersetzbar.
Sogar ein Hosenanzug von Valentino. Sündhaft teuer zwar, aber ersetzbar.
Repräsentieren war diesmal nicht so wichtig. Denn das Geschäft zwischen Manfred Tuchner und Halim-Istanbul war bereits abgeschlossen. Er hatte bloß darauf bestanden, dass auch Walli sich die Teppiche der Kollektion ansehen sollte.
Die Männer des Teppichgeschäfts Halim-Istanbul hatten sich inzwischen einander zugewandt und besprachen letzte Details zur Vorführung der Stardesignerin Lale Eser. Sie war ein neuer Stern am Firmament des internationalen Kunstmarktes, lebte im Westen, bezog aber ihre Impulse weiterhin stark aus der türkischen-orientalischen Ornamentik. Wiens prominentester Teppichhandel mit exklusiven Kontakten zu ausgewählten anatolischen Teppichwerkstätten hatte von Bachwirken und der Designerin genaue Anweisung erhalten, geeignete Objekte passend zur Stoff- und Tapetenkollektion zu finden.
Junge Männer brachten unter hektischer Anweisung edle Stücke unterschiedlicher Größe in den Schauraum. Einige davon waren offenbar so schwer, dass nur mehrere zugleich die großen Rollen hereintragen konnten.
Beim größten und schwersten Teppich mussten zwei Männer ran. Nachdem sie ihn griffbereit platziert hatten, wurden noch einige oberhalb positioniert. Ein junger Mitarbeiter zog ruckartig an einem der unteren, worauf sich ein höher liegender löste, herabfiel und entrollte.
Der Verantwortliche, Bülent Yüksel, schnaubte vor Wut über die Ungeschicklichkeit, weshalb er kurzerhand auf seinen Mitarbeiter zuging und ihm vor allen einen Klaps auf den Hinterkopf verabreichte. Erschrocken mehr der Schmach als des Schlags wegen zog der Beschämte seinen Kopf ein und machte sich gleich daran, den Schaden zu beheben. Einige Kollegen halfen ihm dabei.






