- -
- 100%
- +
»Ja, bei uns geht’s manchmal ohne viele Worte.« Adile Gül lächelte verlegen. Sie hatte Walli Winzers verwunderten Blick gesehen. »Chef der Mannschaft ist Bülent, ein Verwandter von mir. Manchmal wird er sehr zornig, er meint es aber nicht so.«
»Aha«, sagte Walli überrascht. »Na ja, ich müsste lügen, wenn ich sage, dass ich so etwas nicht selbst kenne. Die g’sunde Watschn, wie man eine Ohrfeige nennt, war bis vor Kurzem in Österreich gang und gäbe. Jetzt sieht man’s zumindest halt in der Öffentlichkeit weniger.« Walli drehte sich von der Szene weg.
Adile gab sich erstaunt: »Mag sein. In meiner Genossenschaftswohnung in Donaustadt schreit oberhalb von mir manchmal ein Zehnjähriger furchtbar laut. Die Mutter schlägt ihn regelmäßig. Alle hören das. Sie sperrt ihn in seinem Zimmer ein. Dort jammert er oft stundenlang. Sie tut nach außen immer sehr freundlich. Niemand macht etwas dagegen.«
»Und Sie?«
»Ich? Denken Sie, dass mir beim Jugendamt jemand glaubt? Als junger Türkin? Gegen eine Österreicherin? Eine Lehrerin noch dazu? Damit ich im Haus alle gegen mich aufbringe?«
Die junge Frau wandte sich ebenfalls ab. »Ich habe Ihnen ein feuchtes Tuch mit ein bisschen Fleckenreiniger darauf geholt. Damit trocknet der Tee nicht zur Gänze ein.«
Walli nahm Adile Gül das Schwammtuch aus der Hand. Tatsächlich hellten die Flecken bereits nach Kurzem auf.
Inzwischen kam auch der Geschäftsführer, Eraydin Turan, aus einem der Nebenräume zielstrebig auf Walli Winzer zu. Von all dem, was sich in den letzten Minuten abgespielt hatte, hatte er nichts mitbekommen. Er stellte sich daher gleich neben sie und gab ihr Unterlagen, die er vor der Schau für sie vorbereitet hatte.
»Ah, ich sehe, die Teppiche sind schon griffbereit gestapelt.«
Die Belegschaft hatte sich ebenso versammelt und blickte erwartungsvoll zu Turan.
»Ich fasse für Sie kurz zusammen, was einen türkischen Teppich, in unserem Fall einen anatolischen, ausmacht: Dass die türkische Knüpfkunst sehr alt ist, wissen Sie. Sie geht bis ins zwölfte Jahrhundert zurück. Und ihre Einflüsse sind global. Über die Jahrtausende hinweg! Die Muster wären nicht so charakteristisch, wenn es keinen regelmäßigen Austausch mit anderen textilknüpfenden Nationen gegeben hätte. Das sind nicht nur Persien, Indien, Armenien, China, sondern auch Pakistan, Syrien, Griechenland und die Kurden. Sprich: jedes Land, das in der Welt des Teppichs je Bedeutung erlangt hat. Wir werden das gleich sehen. Eine Erlebniswelt vom Feinsten. Eine Reise durch die Jahrtausende.«
Walli Winzer hielt alle Ausdrucke in ihren Händen, war aber nicht interessiert, darin zu blättern, weil sie den Ausführungen Turans lauschen wollte. Sie überlegte bereits, wie sie ihn im Pressegespräch einsetzen könnte. Eine kleine exotische Note wäre in der globalen Kollektionsausrichtung sicher willkommen. Und wer, wenn nicht er, wäre dazu besonders geeignet?
Eraydin Turan erzählte weiter von der turkmenischen und der kaukasischen Tradition. Von der höfischen, feineren Webkunst in Istanbul sowie den hochwertigen Gebrauchsteppichen Anatoliens, Richtung Osten der Türkei.
»Und die Leute lebten tatsächlich für und mit ihren Teppichen?«, fragte Walli zwischendurch erstaunt.
»Ja, der Teppich ist heute noch in unserer Kultur ein wichtiger Bestandteil der Wohnung. Seine Muster erzählen Geschichten. Tiere und Menschen werden selten abgebildet. So wie Bilder an Wänden kaum üblich sind.«
Turan gab Bülent Yüksel den erwarteten Wink. Daraufhin zogen zwei junge Männer einen der Teppiche vom Stoß und rollten ihn nach kurzem Anheben und einem kräftigen Ruck in der Mitte des Schauraums aus.
»Sehen Sie: Türkische Teppiche können unterschiedlich aussehen. Dieser hier wird den höfischen Teppichen zugeordnet und ist in seiner floralen Ornamentik stärker an Persien orientiert. Allein aufgrund der Größe der Türkei gab und gibt es bis heute große regionale Unterschiede, die sich auch in der Webkunst wiederfinden: der Teppich als Ausdruck künstlerischer Eingebung und kultureller Vielfalt.«
Eraydin Turan winkte nach dem nächsten Teppich. Wie zuvor wussten seine Angestellten genau, welche der riesigen Kostbarkeiten sie zu wählen hatten.
Der Experte fuhr fort: »Nomaden hingegen konnten aufgrund ihrer mobilen Verhältnisse keine großen Webstühle aufbauen. Sie spezialisierten sich daher auf kleinere Fertigungen. Charakteristisch sind geometrische Muster, die sich konzentrisch zu verkleinernden Rautenformen verdichten.«
Walli Winzer staunte nicht schlecht.
Turan fuhr fort: »Die Istanbuler Stardesignerin Lale Eser interessiert aber mehr das 21. Jahrhundert, in dem sie die Weiterentwicklung und Gegenüberstellung geometrischer Muster aus dem Narrativ des anatolischen Formenkanons heraus verortet, den sie in ihren neuen Mustern der Pluralität des digitalen Binärcodes im Kontext des stilistischen Formenkanons des Jugendstils künstlerisch gegenüberstellt. Ihre neue Stoff- und Tapetenkollektion für Bachwirken befindet sich in Ihrer Mappe.«
Uff! Das war Walli Winzer nun doch zu hoch. Gedanklich begann sie sich jetzt auszuklinken. Was war denn ein Formenkanon? Sie kannte Kanon nur von der Musikstunde. Das war, was sie in der Schule mehrstimmig miteinander gesungen hatten. Ja, das hatte ihr immer gut gefallen. Aber ein Kanon mit Teppichen? Was sollte das sein?
Sie versuchte dennoch weiterhin gute Miene zur Ausführung zu machen. Auch wenn diese sie langsam zu ermüden begann. Zugegeben, der Totaleinsatz und die Begeisterungsfähigkeit dieses gut aussehenden morgenländischen Prinzen gefielen ihr. Also versuchte Walli Winzer bei der Sache zu bleiben.
»Und jetzt zeigen wir Ihnen noch unseren größten und kostbarsten Teppich aus Ostanatolien. Jahrelang arbeiteten viele Menschen an ihm. Er war für einen mächtigen Sultan bestimmt, der sein Reich einen wollte, und überlebte viele Jahrhunderte. Weshalb und wie er nahezu unbeschädigt so lange Zeit überstehen konnte, ist eines der Geheimnisse, die ihn bis zum heutigen Tag umgeben. Auch die Symbolik der Muster gibt Experten seit jeher Rätsel auf. Sein Mythos ist noch nicht erforscht.«
Walli Winzer war bewegt, als sie das hörte. Ein Mythos barg Faszinierendes. Etwas, das man Presse und dem Publikum gut weitervermitteln konnte. Das für Aufsehen sorgen würde – neben der Künstlerin natürlich.
Diesmal stellte sich eine ganze Riege von Männern in Position, um den Teppich in die richtige Position zu bringen. Dann reihten sie sich im Abstand von einem Meter nebeneinander auf. Der mittlere machte ein Zeichen, worauf alle den Teppich mit einem kräftigen Ruck nach vorne schüttelten. Schwungvoll rollte er auf der weiten Fläche des Schaubodens aus, aber das tat er anders als seine Artverwandten zuvor. Als er sich bis kurz vor Walli komplett entrollt hatte, war da noch etwas anderes, das die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich lenkte.
Das Teppichmuster anzusehen, interessierte augenblicklich niemanden mehr. Der Schrei einer jungen Frau durchfuhr den Raum. Es war Adile Gül. Schockstarre erfasste sie.
Vor ihr lag ein Mann. Nicht nur Walli Winzer erkannte ihn. Alle hier taten das.
Es war Manfred Tuchner.
5. Kapitel
»Schnell! Ein nasses Tuch. Habt ihr nicht gehört: Wir brauchen ein nasses Tuch und ein Glas Wasser. Sofort!«
»Sie bewegt sich nicht, aber sie atmet.«
Adile Gül lag am Boden. Ihren Kopf hatte man sanft auf eine Teppichrolle abgelegt. Der Anblick des toten Mannes hatte ihr so zugesetzt, dass sie plötzlich in sich zusammengesunken war. Walli Winzer hatte neben ihr gestanden und sie noch rechtzeitig auffangen können. Den unsanften Aufprall mit dem Kopf auf dem harten Parkettboden konnte sie dadurch gerade noch so verhindern.
Geschäftsführer Eraydin Turan kniete hilflos neben der jungen Frau und starrte sie unentwegt an. Als müsste er sich auf das Schlimmste gefasst machen. Ob die umstehenden Männer tatsächlich auf seinen vorherigen Zuruf reagierten, darauf achtete er nicht. Der Anblick der leblosen Adile setzte ihm dermaßen zu, dass er damit rang, nicht selbst das Bewusstsein zu verlieren.
»Jetzt machen Sie mal und fangen sich wieder. Das geht so doch nicht. Eine Leiche und eine Ohnmächtige reichen mir für heute.« Walli Winzer, die Adile Güls Kopf streichelte, klopfte plötzlich dem Teppichhändler auf die Schulter, um ihn bei Bewusstsein zu halten. Der schwankte daraufhin ein wenig, fand aber sein Gleichgewicht wieder. Im selben Moment blickte er zur Seite auf den Toten.
Keiner der umstehenden Männer war unterwegs, um ein Tuch zu besorgen. Nur eine junge Frau kam damit angelaufen und reichte es Walli Winzer. Diese legte es Adile auf die Stirn und tätschelte ihre Wange. Langsam kam sie wieder zu sich. Noch benommen wollte sie sich aufrichten, aber es gelang ihr nicht. Vom Schock zuvor war sie noch zu geschwächt.
Im Nebenraum breitete sich Tumult aus. Es klang fast wie ein Handgemenge. Die im Raum verbliebenen Männer eilten hinaus, nur um wieder zurückgedrängt zu werden. Konfus stießen sie einander an und wichen vor Bülent Yüksel zurück, der einen großen hageren Mann mit groben Hieben vor sich hertrieb. »Ich habe ihn im Lager erwischt, als er gerade hinauslaufen wollte.«
Yüksel versetzte ihm einen kräftigen Stoß, der den Mann Halt suchen ließ. Mit seinen Armen konnte er gerade noch sein Gleichgewicht wiederfinden und landete vor Walli Winzer.
»Nico! Was machen Sie denn da?«
Die mittlerweile fast überforderte PR-Expertin erhob sich, fühlte sich aber selbst nach all der Aufregung einem Schwächeanfall nahe. Und jetzt auch noch die Überraschung mit dem Waldviertler. »Was soll das?«, stöhnte sie genervt.
Nico Salmer sah sie mit großen, ausdruckslosen Augen an, wirkte hochgradig nervös und brachte keine Silbe heraus. Stattdessen hob Bülent Yüksel zu einem wahren Orkan der Worte an.
»Er wollte flüchten, als er mich sah. Außerdem habe ich vorher gesehen, dass er in einer Kiste nach Unterlagen geschnüffelt hat. Dann habe ich ihn gepackt. Er wollte entwischen …«
Walli Winzer stoppte den aufgeregten Wortschwall, indem sie laut dazwischenfuhr: »Ja, das haben wir schon gehört! Was war das für eine Kiste?«
»Also, so eine kleine war das. Mit Lieferscheinen und anderem. Sonst hab ich keine Ahnung.«
Walli Winzer sah zu Nico Salmer, der sich immer noch nicht zu den Vorwürfen äußerte. Sie raufte nervös ihre blonde Haarpracht. Im selben Moment entsann Walli sich, dass sie dadurch die Wirkung des Tafts, den sie morgendlich sanft über ihre Frisur hatte gleiten lassen, zerstörte. Schnell richtete sie mit ein paar Handgriffen die widerspenstigen Strähnen und bemühte sich, den vorherigen Zustand wiederherzustellen. Den Umstehenden hingegen war es völlig egal, wie die flotte Geschäftspartnerin aktuell aussah. Keiner der Männer nahm Notiz von ihr. Alle starrten auf Nico Salmer und ließen ihn keine Sekunde aus den Augen, oder sie hefteten ihre Blicke aufgeregt Richtung Fenster. Denn obwohl es draußen noch hell war, flutete jetzt das Blaulicht der Einsatzwagen den Schauraum.
Abgefahrene Situation, dachte Walli Winzer und schloss vor der neuen Situation kurz die Augen.
Es war keine Viertelstunde her, dass Adile Gül ohnmächtig geworden war und bezüglich Nico nicht einmal die gröbsten Umrisse seiner überraschenden Anwesenheit geklärt waren. Weshalb war er wirklich ins Teppichgeschäft gekommen? Und wieso war Manfred Tuchner zurückgekommen? Wer hatte ihn getötet? Warum?
Einen Augenaufschlag nach Wallis Überlegung kämpfte sich ein Polizeibeamter in zivil durch die Menge. Sein Blick blieb sofort am toten Tuchner hängen: »Da liegt er. Holt’s die Silvia rein. Die soll sich das gleich genauer anschauen und dann zu mir kommen. Ich will ihre ersten Eindrücke hören. Dann bestellt’s die Spurensicherung. Und du, Martin, komm sofort her!«
Ein schlanker junger Mann hörte auf diesen Namen. Sein Gesicht war auffällig blass. Sonne schien es schon länger nicht abgekommen zu haben. Er stellte sich neben den leitenden Ermittlungsbeamten: »Martin, schau, dass keiner von denen da das Geschäft hier verlässt.« Er zeigte auf die Männer. »Verstanden? Wir vernehmen sie hier an Ort und Stelle, einen nach dem anderen. Das Protokoll schreibst du nachher aber nicht selbst, sondern lass es unseren Kleinen von der Polizeischule am Laptop abtippen. Das geht schneller.«
Der junge Mann verzog unwirsch sein Gesicht und bestätigte mit »Jawohl, Major Kuntner«. Er war wie sein Chef in Zivil und versammelte eine Gruppe uniformierter Beamter um sich. Die Polizisten begleiteten die Mitarbeiter des Geschäfts in einen Nebenraum.
Bülent Yüksel schien davon wenig begeistert zu sein. Er wehrte sich. »Was? Sind wir jetzt alle verdächtig?«, richtete er dem Polizeimajor seinen Protest im Vorübergehen aus.
»Na, so wie’s ausschaut, wollen wir wissen, was ihr vorher g’macht habt. Alle. Ohne Ausnahme. Der Reihe nach.«
Widerwillig ließ sich Yüksel zu den anderen begleiten. Nur noch wenige Beamte blieben im Schauraum zurück. Mit einem Mal war es ziemlich ruhig geworden.
Major Kuntner stellte sich neben die Leiche. Er starrte sie wortlos an, dann beugte er sich über sie. Die Augen des Toten standen noch offen. Kuntner schien das nicht zu stören. Vielmehr vermittelte er auch hierbei den Eindruck von abgebrühter Routine. Nach kurzer Zeit ging er in die Hocke, um den Körper näher zu betrachten. Was er vor sich hinmurmelte, hätte Walli Winzer in diesem Moment interessiert. Sie stand jedoch entfernt und konnte die Situation daher nur aus dem Augenwinkel wahrnehmen.
Einige Polizisten hatten Nico Salmer in eine Ecke des Zimmers gedrängt. Er stand lammfromm da und wartete geduldig, was mit ihm nun weiter geschehen würde. Walli Winzer ging auf ihn zu. Sie spürte seine Erleichterung. Trotzdem sah sie die Verzweiflung in seinem Blick. »Nico, was ist denn passiert? Warum sind Sie hier?«
Er blickte ins Leere und schloss dann die Augen. Noch bevor er antworten konnte, gab Major Kuntner eine laute Anweisung an zwei seiner Mitarbeiter: »Nowak, Wastracil! Wo ist die Dr. Eichinger? Ich hab doch nach ihr rufen lassen. Wie lang soll ich noch warten, bis die endlich da ist?«
»Wir haben sie angerufen, und die Frau Dr. Eichinger hat gesagt, dass sie gleich da sein wird.«
»Dann ruafts es glei noch amoi an: Sie soll sich beeilen.«
Dieser Zeitgenosse der Polizei war definitiv keiner von der angenehmen Sorte, stand es für Walli eindeutig fest. Ob das überhaupt jemand jemals in solch einem Beruf würde sein können? Sie hatte ihre Zweifel.
Walli Winzer beschloss, sicherheitshalber in Nico Salmers Nähe zu bleiben. Auch wenn er in einem Alter war, in dem ein Mann für sich selbst einstehen konnte. Doch Nico schien da eine Ausnahme, das hatte sie im Gefühl.
Warum er prinzipiell verstummte, wenn sie in seine Nähe kam, konnte Walli sich sowieso nicht erklären. Dabei hatte sie ihn einmal mit dem Sepp Grubinger im Wirtshaus vom Hannes Lechner in Großlichten erlebt. Da war der Nico ganz und gar nicht schüchtern gewesen. Vielmehr war er lustig. Aber das war vielleicht wegen des Grubingers. Weil der die Dorfleute mit seiner speziellen Art nahm, so wie sie waren. Und mit ihnen beinahe konspirativ die Köpfe zusammensteckte. Auch mit dem Nico. Dadurch viel von ihnen erfuhr und aus ihnen herausholen konnte. Für die im Waldviertel meist gewählte Knappheit der Worte war das offenbar etwas Besonderes. Den Inhalt verstand nur der engere Kreis der Alteingesessenen. Zumindest konnte man das leicht glauben. Denn Fremden gegenüber verhielten sie sich anders. Bei genauerer Analyse dieser Kommunikationstechnik stand Walli Winzer vor einem Rätsel. Bestand sie doch weniger aus zusammenhängenden Sätzen, als aus lose aneinandergereihten Worten, die mit Kopfnicken und Anheben und Absenken der Schultern bestätigt oder infrage gestellt wurden.
Manchmal überkam Walli der Eindruck, dass die regionale Kommunikation überwiegend aus Pausen bestand, in denen man einander ansah und abwartete. Jedenfalls hielten jene, die so redeten, mehr Stille miteinander aus, als Walli Winzer sich das für sich vorstellen konnte. Dabei fand sie, dass es ihr nach ihrem Sabbatical im Waldviertel mittlerweile besser gelang als zuvor.
Betrachtete sie allerdings den groben Wiener Polizeikommandanten, war ihr inneres Gleichgewicht – so sie dies überhaupt zustande brachte – gleich dahin.
Adile Gül erhob sich langsam von ihrem Stuhl und ging, begleitet von ihrem Chef Eraydin Turan und dem ungeschickten Praktikanten, in Richtung Vernehmungszimmer.
Sie drängten sich an einigen neu eintreffenden Polizisten vorbei, die den Schauraum betraten. Eine junge Frau in weißem Arztkittel und einige Rettungseinsatzkräfte kreuzten ebenso ihre Wege. Diese ließ sich, ohne genauer in die Runde zu blicken, neben Kuntner nieder, ignorierte ihn trotz kurzen Grußes und betrachtete das Mordopfer. Sie holte Untersuchungsinstrumente aus ihrer großen Arzttasche und begann sofort mit einer ersten Einschätzung.
Kuntner blieb neben ihr und schaute eine Weile zu. Die Ärztin leuchtete dem Toten mit einer Taschenlampe in die Augen. Hob dessen Lider mit einer Pinzette, bewegte die Leiche aber keinen Millimeter.
»Hast du schon die Spurensicherung verständigt?«, fragte sie schließlich den Polizisten.
»Ja, schon vor einer halben Stunde.«
Die Ärztin spürte unweigerlich den vorwurfsvollen Unterton in Kuntners Stimme und fühlte sich bemüßigt, darauf zu antworten: »Also, ob man jetzt fünf Minuten früher oder später bei einem Toten ankommt, is a scho wurscht – bei dem Autoverkehr. Denn, der da is eindeutig tot. Wie du unschwer erkennen kannst, wurde er erdrosselt. Die roten Abriebe an seinem Hals bestätigen das. Da, schau!« Sie reichte Kuntner mit einer neuen Pinzette ein buntes indisches Halstuch, das sie dem Opfer abgenommen hatte. Der wich überrascht zurück. »Da!«, wiederholte sie mit Nachdruck: »Die Tatwaffe gibt’s schon.«
»Martin!«, rief der Polizeimajor so laut, dass sogar Dr. Silvia Eichinger zusammenzuckte. Seine Hände beließ er in den Hosentaschen.
»Ja, was gibt’s?« Der Kriminalbeamte war sofort zur Stelle.
»Geh, gib des Tüchl in eines von unseren Plastiksackerl und dann gleich an die Spurensicherung weiter.« Gesagt – getan.
Kurz darauf übergab der Polizist seinem Vorgesetzten das sorgsam in Plastik verpackte Tatwerkzeug. Der leitende Ermittler hielt die Tüte von sich weg, sah sich aber das Halstuch genauer an. Polizeibeamter Martin machte sich unaufgefordert wieder in Richtung des Vernehmungstrupps auf.
»Sag, Klaus, was ist dir über die Leber gelaufen, dass du in letzter Zeit so unwirsch bist?«, fragte Frau Dr. Eichinger, während sie ihre Arzttasche einräumte.
Der Polizeimajor kam nicht mehr dazu, darauf zu antworten. Die kurze private Unterredung wurde unterbrochen. Die Spurensicherung war eingetroffen, und die ersten von ihnen begannen, sich ihre weißen, keimfreien Overalls überzuziehen.
Klaus Kuntner schien das nur recht zu sein, nicht mehr auf die zuvor gestellte Frage antworten zu müssen. Stattdessen ließ er die Ärztin wortlos stehen und ging auf den Ranghöchsten zu. Offenbar kannten sie einander, das ließ der sehr akzentuierte, feste Männerhandschlag vermuten. Ein nachfolgender freundlicher Gruß bestätigte das. Die Spurenermittler gruppierten sich ohne Anweisung um die Leiche und begannen mit deren Vermessung. Ein Fotograf hielt zusätzlich die Position der Leiche fest. Auch der Teppich wurde ins Bild gesetzt.
Nach kurzer Absprache mit den Kollegen von der Spurensicherung, ordnete Kuntner an, Männer zu rufen, die mit Plastikhandschuhen beim Einrollen des riesigen Stücks helfen sollten. Es boten sich gleich mehrere an. Offensichtlich hofften sie, dadurch schneller beim Verhör dranzukommen. Sie drängten zur Tür herein, was wieder für Unruhe sorgte.
Auch Nico Salmer wurde langsam unrund. »Ich hab damit nix zum tuan und möcht endlich ham gehen.« Er wollte sich an Walli Winzer und den nebenstehenden Polizeibeamten vorbeischlängeln, was diese mit sicherem Griff zu verhindern wussten.
»Sie mochn jetzt amoi goar nix und bleiben da. Punktum!«, befahl Klaus Kuntner barsch.
Nico rüttelte an der offenbar zu groben Fixierung seiner Arme.
»Also, was soll das? Sie können doch niemanden auf Verdacht festhalten. Was können Sie Herrn Salmer konkret vorwerfen?«, schaltete sich Walli Winzer ein.
»Ganz einfach: Er wurde in einer eindeutigen Situation beim Schnüffeln entdeckt und wollte fliehen. Ein Mitarbeiter stellte ihn. Der Flüchtende reagierte zuvor nicht auf Zurufe. Eine Erklärung gibt er bis jetzt nicht ab.«
»Sie hobn mei Halstuch in der Hand! Was mochn Sie damit?« Nico starrte auf die textile Tatwaffe.
»Nein, das gibt’s ja net!«, war Klaus Kuntner nun fassungslos. »Das ist Ihres?«
Walli Winzer wurde in diesem Moment kreidebleich. Auch ihr neues Make-up konnte nichts daran ändern. Ihr fiel wieder ein, Nico Salmer am Gang vor Tuchners Büro mit diesem auffälligen Halstuch gesehen zu haben. Ach Gott! Die Situation schien im Augenblick verfahren.
Nico sah sie verzweifelt an. Kuntner gab den Befehl, ihn sofort ins Polizeirevier mitzunehmen. »Frau Winzer! Bitte, ich hoffe, Sie glauben mir. Ich war’s nicht. Bitte helfen Sie mir und sagen S’ das auch dem Sepp Grubinger!«
»Schluss jetzt. Wir sind fertig. Raus mit Ihnen!« Ein unsanfter Ruck versetzte Nico Salmer in Bewegung. Kuntner wies die Umstehenden an, ihre Berichte so schnell wie möglich fertigzustellen und an ihn zu schicken. »Fall geklärt!«, rief er ihnen triumphierend zu. Dann murmelte er hörbar und amüsiert vor sich hin: »So blöd muass ja amoi einer sein, dass er net nur davonrennt, sondern freiwillig zugibt, dass die Mordwaffe a no sein Tüchl is!«
Zugegeben, auch Walli Winzer stand jetzt betroppezt da und war ratlos. Doch sie glaubte Nicos Worten. Zumindest – wollte sie es.
6. Kapitel
Noch war sie allein. Sie hatte sich inzwischen einen Drink bestellt. Nach dem ersten Schluck ihres Gin-Lillet-Cocktails stieß sie in regelmäßigen Abständen gedankenverloren die Limettenspirale darin mit einem pinken Plastikgäbelchen an. Ausweichend wippte das Geschmacksaccessoire neben einem Eiswürfel hin und her. Ihren linken Ellbogen stützte Walli Winzer auf den Tresen der Bar und hielt mit der Hand ihren Kopf. Starr hatte sie ihren Blick auf das kleine optische Schauspiel vor sich gerichtet.
Was war das nur wieder für ein Tag gewesen, fragte sie sich. Dabei war sie selbst glimpflich davongekommen. Ihre Einvernahme in der Polizeistation würde erst morgen stattfinden. Da konnte sie noch genauer nachdenken, was tatsächlich abgelaufen war oder was sie bemerkt hatte. Leider war das eben nicht viel. Schließlich hatte sie sich während der Vorbereitungen zur Teppichschau im Vorgespräch mit dem Geschäftsführer befunden, was interessant gewesen war. Walli Winzer hatte daher nicht darauf geachtet, was sich um sie herum abgespielt hatte. Sie erinnerte sich nur, dass viele Menschen im Schauraum gewesen waren.
Sie nahm einen Schluck.
Den dazu gereichten Snack allerdings nichts.
Noch ein Schluck.
Nichts. Rein gar nichts fiel ihr ein.
Walli behielt das Cocktailglas in der Hand und schwenkte es. Das Bild der tanzenden Limette beruhigte sie.
Langsam sah sie hoch und ließ ihren Blick durch die dämmrige Bar in der Wiener Innenstadt gleiten. Diese befand sich über den Dächern der Altstadt. Aus der Ferne sah sie die beleuchteten Türme des Wiener Stephansdoms.
Postkartenidylle.
Walli Winzer kauerte auf dem Barhocker. Trotz des malerischen Ausblicks, dessentwegen viele Touristen hierherkamen, schloss sie die Augen. Sie wollte bei sich sein. Durchatmen. Bevor die anderen da sein würden. Kurz noch.
Solche Momente schob sie jetzt öfter in ihren Alltag ein. Abschalten. Zwischendurch regenerieren. Nichts beachten. Nicht einmal sich selbst.
Das hatte sie im Waldviertel gelernt. Auf ihren Spaziergängen. Den vielen. Durch die Wälder oder auf den Wanderwegen durch die Felder.
Es waren Orte der Stille. Kraftorte gewissermaßen. Um aufzutanken.
Wie laut war für sie daher das Getöse, das sie in Wien erwartete. Die vielen Menschen. »Mittlerweile zu viele«, murmelte sie bereits entspannter vor sich hin. Vor allem hier im Zentrum, um den Stephansplatz herum. Menschenmassen schoben einen tagtäglich wie in Venedig vor sich her. Ein Zielort war bei ihnen nicht auszumachen. Und betrachten oder fotografieren konnte man bei diesem Gedränge und Geschiebe auch nichts. Also, warum das alles?






