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Jetzt lehnte sie hier. Nur weil Lena unbedingt hierher wollte. Walli hatte schließlich zugestimmt. Ihre beste Freundin Lena Breitenecker hatte die Bar neu entdeckt und vorgeschlagen. Mit einigen Geschäftspartnern und ihrem Ehemann Hans ließ sie hier häufig erfolgreiche Verhandlungen ausklingen.
Es war noch sehr früh. Walli war vorzeitig gekommen, da sie nach den unerwarteten Ereignissen nicht mehr bei ihrer Wohnung vorbeifahren wollte. Es war zu spät geworden, um sich umzuziehen. Gut, da die Kleidungsvorschriften überall bereits salopper gehandhabt wurden, würde ihr Tageshosenanzug am Abend auch nicht weiter auffallen. Und wen das tatsächlich störte, der konnte auch wegschauen. Spießer! Solche konnte sie sowieso nie ausstehen.
Da Walli sonst nichts zu tun hatte und der Keeper gerade mit dem Eiscrusher beschäftigt war und daher für Small Talk nicht zur Verfügung stand, blickte sie in die Runde. Wen würde sie in der topmodernen und chillig designten Bar sympathisch finden? Hm. Auf den ersten Blick fiel das schwer. Heute waren außerdem Haltungen und Einstellungen nicht mehr so eindeutig wie früher mit Kleidung verbunden. Das hatte sich grundlegend verändert. Wer heute Geld und Einfluss besaß, kleidete sich oft im Sinne des Understatements, also mit Zurückhaltung. Fast könnte man sagen: verlottert.
Wallis Ding war so etwas allerdings nicht. Na ja, sie war ja auch nicht so vermögend wie etwa Bill Gates. Der konnte daher im ewigen Studentenlook herumlaufen. Er war und würde immer Bill Gates sein und bleiben. Da konnte eine Walli Winzer, auch wenn ihr das Glück bisher im Leben – mit Ausnahme einiger Ausreißer – hold geblieben war, eindeutig nicht mithalten. Und bei Frauen war das sowieso ganz anders als bei Männern.
Frauen waren einander die größten Kritikerinnen. Passende Kleidung putzte selbst graue Mäuse heraus. Da konnten einige reden, was sie wollten. Auch die wussten, dass es noch eine Zeit lang so bleiben würde. Die jahrhundertelang antrainierte Stutenbissigkeit würde nicht so schnell abgelegt werden können. Und die meisten Männer hatten sicher nichts dagegen, eine gepflegte, gut gekleidete Frau vor sich zu haben.
Auch wenn, wie bei Walli Winzer, die Kleidung in Gegenwart attraktiver Männer rasch wenig Bedeutung für beide hatte. Einfach deshalb, weil bald keiner mehr welche trug. Sie schmunzelte. Gut, das war wieder ein bisschen aus ihrem Nähkästchen geplaudert.
Also, wie tickte das Publikum hier, in dieser Wiener Nobelmeile? Walli Winzer fielen zwei smarte Männer auf. Beide elegant gekleidet mit perfektem Messerhaarschnitt. Sie redeten angeregt miteinander. Das Gespräch blieb vorerst ernst, um dann … aha, Walli grinste … ins Flirten umzuschlagen.
Lionel Richie tönte dazu mit seinem 1980er-Hit »All Night Long« aus der unsichtbaren Konserve. Ob das nun ein Geschäftsabschluss der beiden oder ein Date in der Bar war, die Grenzen verschwammen eben. Walli war sich nicht sicher. Durch ihren Mitarbeiter Tobias Stieglitz und seinen Lebensgefährten stand sie in engem Kontakt mit deren Freundes- und Bekanntenkreis. In der PR-Branche war das keineswegs ungewöhnlich, eher nützlich. Denn Männer tauschten regelmäßig Informationen miteinander aus. Auch aus ihrem Tätigkeitsbereich. Sie waren also meist auf dem neuesten Stand.
Was konnte einem daher Besseres passieren, als davon zu profitieren? Walli mochte die Jungs, und diese mochten Walli. Schließlich konnte sie durch ihre Umtriebigkeit auch die einen oder anderen News beisteuern. Denn Walli hielt ihre Ohren immer und überall offen. So ging’s!
Sie setzte sich auf dem Barhocker ein wenig seitlich und erblickte ein unauffälliges Paar mittleren Alters. Hierbei handelte es sich offenbar um ein Date. Beide saßen einander angespannt gegenüber und wussten nicht recht, was sie einander erzählen sollten. Wallis Einschätzung stand nach wenigen Minuten fest: Höchstwahrscheinlich würde es das letzte Date der beiden bleiben.
Allerdings sprach, statistisch erwiesen, auch ein Ehepaar nicht mehr als fünf Minuten am Tag miteinander. Dann befanden sich die beiden vielleicht doch schon am Beginn einer gemeinsamen Zukunft? Viele wollten letztlich nicht alleine bleiben. Aber ob sich so ein wortkarges Wesen besser machte als ein Haustier? So was war doch schrecklich, so ganz ohne die Liebe. Nur mit dem Kopf geplant, seufzte Walli. Aber gut, dass alle Menschen verschieden waren.
Sympathisch hingegen wirkte auf sie ein junges Paar. Walli Winzer vermutete, dass sie sich wohl auf einen Aperitif getroffen hatten, um danach noch etwas zu unternehmen. Sie wirkten aneinander interessiert und lachten immer wieder herzhaft. Glücklich nahm er zwischendurch ihre Hand und hielt sie sanft in der seinen.
Der Anblick erfreute Walli.
Plötzlich fiel ihr wieder Nico Salmer ein. Der hatte mit Sicherheit gerade keinen Grund zur Freude. Er würde in einer Verwahrungszelle des Grauen Hauses, der Justizanstalt Josefstadt, sitzen und darauf warten, was weiter mit ihm geschehen sollte.
Walli Winzer erinnerte sich an seinen flehenden Blick. Er hatte sich von ihr gewünscht, dass sie Sepp Grubinger über seine Unschuld informierte. Als könnte ihm der Polizist aus dem kleinen Kaff Großlichten im Waldviertel helfen! Bei der legendär grantigen Wiener Polizei. Die sich für das Maß aller Dinge hielt. Walli stellte sich Grubinger als Einsatzkommandant vor und musste lachen.
Allerdings war dieser Wiener Polizeimajor tatsächlich ein Kapitel für sich. Mit seiner Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit. Und wie er den Nico abgekanzelt hatte. Als wäre ohne echte Ermittlungen schon alles geklärt. Das hatte er ja auch laut hinausposaunt.
Walli holte tief Luft.
Ach, dieser Nico. Er war schon eine Nummer für sich. Eine ziemlich schräge. Mehr wollte sie jetzt nicht denken.
Um das Ende des Tages endlich auch für sich einzuläuten, stach sie mit der kleinen Plastikgabel zielsicher in die Limettenspirale und führte sie zum Mund. Sie spülte mit einem weiteren Schluck Lillet-Cocktail nach. Dann starrte sie reglos in ihr Glas. Dass ihr der Barkeeper inzwischen unaufgefordert nachschenkte, entging ihr.
Erst als jemand sanft ihre Schulter berührte, zuckte sie zusammen. Sie krallte sich am Tresen fest und verhinderte so, dass sie seitwärts vom Hocker kippte.
»Ah du, Lena!«, stieß sie daher vorerst wenig erfreut hervor.
»Klar, wen hast du sonst erwartet?«, grinste die Freundin sie erwartungsvoll an.
»Ach, ich dachte eben noch ein wenig über die Unterredung mit Thomas vor einer Stunde nach.«
»Ihr habt euch getroffen? Davon hast du mir nichts erzählt«, war Lena Breitenecker verwundert. Meist war sie über Gebühr über die privaten Aktivitäten ihrer Freundin informiert. Einschließlich sämtlicher intimer Details, auch wenn sie diese nicht interessierten. Wobei sie doch feststellen musste, das hatte sie Walli einmal erzählt, dass sie dadurch einiges zur Freude ihres Ehemanns Hans dazugelernt hatte. Vielleicht halfen Wallis detailreiche Erlebnis-Schilderung indirekt mit, ihre Ehe nach Jahrzehnten noch erotisch am Kribbeln zu halten. Vielleicht erfanden sich Lena und Hans immer wieder neu durch ihre Erzählungen von Erfolg und Niederlage in den obersten Etagen der internationalen PR-Branche, inklusive anziehender Männer. Das bot sicher viel Raum für die eigene Fantasie und erweiterte die Breitenecker’sche kleine Biobauernhof-Welt in Großlichten. Dabei wusste Walli, dass Lena manchmal ganz kräftig an den Gewohnheiten ihres Mannes rüttelte, damit der aus seinem Alltagstrott und der vielen Arbeit ausstieg, die wohl auf einem Bauernhof nie enden wollte.
»Ja, gleich bei ihm ums Eck. Du weißt schon, im 18. Bezirk im Kaffeehaus.«
»Und wie war’s?«
»Na ja, erstaunlicherweise ganz nett.«
»Ist doch erfreulich. Warum bist du trotzdem nachdenklich? Er entwickelt sich weiter. Ist doch gut. Das wolltest du doch immer.«
»Hm?«
»Was soll das heißen?«
»Verstehe mich nicht falsch: Klar fände ich es gut, wenn er etwas flexibler und großzügiger in seinen Standpunkten würde. Aber er ist so … also… er hat sich ganz anders verhalten. Als hätte man ihm … beinahe möchte ich sagen, einen Chip ins Gehirn gesetzt.«
»Geh, Walli! Nichts passt dir. Ist er so, hast du etwas zu meckern, ist er anders, ist es dir auch nicht recht. Du bist in letzter Zeit schon ein bisschen schrullig g’worden. Dir würde eine dauerhafte Beziehung auch mal wieder guttun.«
»Jetzt hör auf!«, entgegnete Walli Winzer grob. »Die hab ich mit Thomas gehabt. Deshalb weiß ich ja, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt. Nicht stimmen kann. Der ist sonst nicht so drauf!«
»Vielleicht bist du doch ein wenig eifersüchtig auf seine Frau? Dass sie deinen Platz eingenommen hat? Eine anhaltende Zweisamkeit ist nämlich schon etwas Schönes«, sagte Lena.
»Ach, lass mich!«, tat Walli Winzer gereizt, aber grinsend die ihr lästigen Worte mit einer Handbewegung ab. »Bestell dir lieber etwas zu trinken!«
Lena amüsierte sich wohl, weil sie es einmal geschafft hatte, ihrer eloquenten Freundin den Schneid abzukaufen. Als der Barkeeper ihr ein Campari-Soda hinstellte, nahm sie es und drehte sich um. Sie lehnte jetzt mit dem Rücken an der Theke. Währenddessen blieb ihr Blick an zwei jüngeren Frauen hängen, die eben zur Tür hereinkamen.
»Walli! Silvia und Anna sind da«, freute sich Lena.
Jetzt drehte sich auch Walli Winzer um und sah vorerst nur ins Dunkel der Bar, aus der schließlich die beiden attraktiven Frauen auf sie zukamen. Sie gingen ihnen auf halbem Weg entgegen und umarmten einander herzlich.
»Schön, dass ihr gekommen seid! Ist ja mal was anderes, sich nicht nur privat, sondern auch in einer Bar zu treffen.«
Silvia lachte und sah sich um. »Ja, sieht nicht schlecht aus. War noch nie hier … und dieser Blick auf den Stephansdom! Den findet man anderswo nicht.«
Anna stellte ihre Tasche auf einen der Barhocker und zog ihr läutendes Handy heraus. »Entschuldigt. Ah! Sybille, meine Tante, ruft gerade an.« Sie nahm das Gespräch entgegen und ging einige Schritte zur Seite.
Walli Winzer verdrehte die Augen. Wenn sie den Namen ihrer Nachbarin in Großlichten nur hörte, musste sie schon seufzen. Nie zuvor hatte sie eine derart neugierige und aufdringliche Person kennengelernt wie Sybille Karner. Zugegeben: Trotz ihrer nervigen Art hatte sie schon auch Gutes bewirkt. Etwa Wallis Kater Filou aus einer misslichen Situation gerettet. Diese Episode ließ bei ihr gleich mehr Milde für die spröden Charaktereigenschaften der Nachbarin aufkommen. Und immerhin war sie auch die Tante von Anna, die Walli Winzer nun wirklich sehr mochte. Eben hatte sie diese als Fast-Schwiegertochter umarmt. So ein Glück! Wie freute sie sich für ihre einstige Mentee und jetzige Miteigentümerin der PR-Agentur Silvia. Sie und Anna waren seit Kurzem ein Paar.
Wie sehr hatte Walli sich das für die beiden gewünscht. Und jetzt war es so weit. Endlich! Lang hatte es gedauert. Aber dadurch indirekt mit Sybille Karner verwandt zu sein, bereitete ihr einiges Unbehagen. Aber that’s it! Life is life! Und Anna war großartig, wie sie sich seinerzeit gegenüber dem Toten und diesem Karpfenteichbesitzer verhalten hatte.
Walli war überhaupt davon überzeugt, dass man Menschen nur in Ausnahmesituationen richtig kennenlernen konnte. Wie sie sich darin verhielten, ließ Rückschlüsse auf deren Grundwesen zu. Die soziale Maske fiel. Der wahre Charakter kam zum Vorschein. Wie bei Anna. Daher ein Glücksfall für Silvia. Durch dieses Zeitlassen war jede der anderen auf besondere Weise vertraut geworden. Sie verstanden einander immer besser. Die Liebe konnte wachsen. Und das war gut so!
Silvia bestellte ihren Cocktail an der Bar und wandte sich Walli und Lena zu.
»Was? Du bestellst einen Ananas- und einen Gemüsecocktail? Bist du noch zu retten? Ich wusste gar nicht, dass es hier so etwas überhaupt gibt«, entrüstete sich Walli, nachdem sie die Bestellung gehört hatte.
»Warum nicht? Zwischendurch ein bisschen Abstinenz schadet nicht.«
Walli Winzer ließ das nicht gelten: »Ja, dafür gehe ich doch nicht in eine Bar.«
»Lass mal, Walli! Das ist doch ihre Angelegenheit. Was mischt du dich schon wieder ein?«, versuchte Lena Breitenecker die Situation zu beruhigen.
Walli hatte verstanden und ließ die eindrucksvollen Fruchtcocktails, die der Barkeeper brachte, unkommentiert.
Silvia nutzte Annas Abwesenheit, um Walli schnell noch Infos über ihr aktuelles Projekt zuzutragen. Auch Walli informierte ihre Co-Geschäftsführerin über den Stand in der Angelegenheit des Bachwirken-Projekts, samt der tragischen News über den Tod des Auftraggebers Manfred Tuchner.
»Nein, das kann doch nicht sein!«, rief Silvia Manner erschrocken.
Im Hintergrund tönte zeitgleich aus den Lautsprechern eine Coverversion von »As Time Goes By« aus dem Film »Casablanca«.
Ja, time goes by, dachte auch Walli Winzer in diesem Moment. Ihre Stimmung wurde auf einmal ganz ernst. »Den Nico haben sie dann gleich mitgenommen«, ergänzte sie und trank in einem Zug ihr Glas leer. »Noch einen«, orderte sie beim Barkeeper. Während sie wartete, stützte sie ihren Kopf auf ihrer Hand ab und suchte weiter nach einer Erklärung für dessen Anwesenheit am Tatort. Ihr fiel jedoch keine ein.
»Nein! Der Nico? Das kann ich mir nicht vorstellen. Nie und nimmer.«
Nervös wischte sich Walli völlig undamenhaft mit dem Unterarm ihres Blazers den Mund ab und schniefte danach laut. Silvia war geschockt. Lena über Wallis unübliche Reaktion wohl auch. Sie verloren darüber kein Wort. Im Gegenteil: »Komischer Tag heute. Nicht?«
Anna kam zurück zur Gruppe: »Beim Tantchen ist alles in Ordnung. Und bei euch?«
7. Kapitel
Plötzlich begann ein Höllenlärm.
Im selben Augenblick hielt Sepp Grubinger sich mit den Händen die Ohren zu. Er kniff seine Augen zusammen, ging allerdings weiter. Obwohl er Krach hasste. Auf ihn allergisch reagierte, ihn dieser körperlich schmerzte.
Er hatte sich heute in den Kopf gesetzt, seinen Revierrundgang zu Fuß zu absolvieren. Jetzt war er hier. Auch wenn er es bereits bereute. Denn bis zu Harry Kains alter Mühle zog sich der Weg von der Ortsmitte Großlichtens weg. Davon abgesehen war es ein schöner Frühlingstag. Deshalb hatte der Dorfpolizist heute beschlossen, sein Dienstmoped in der Außenstelle der Polizei stehen zu lassen. Seine Frau Resi hatte ihm den ganzen Winter über zugesetzt. Mehr Sport sollte er treiben, hatte sie gemeint. Und ihn ständig daran erinnert. Das hatte ihn ziemlich genervt. Aber irgendetwas blieb dann doch bei ihm hängen.
Und jetzt stand er vor Harry Kain, der überhaupt nicht auf ihn reagierte.
Wie sollte er auch? Mit den Lärmschutzkopfhörern. War ja gut, dass er die aufhatte. Aber seine Umgebung hatte einen solchen nicht.
Harry hielt eine Kettensäge in den Händen und schnitt durch den am Boden liegenden Baum in etwa nach jedem Meter. Dabei konzentrierte er sich sehr. Man merkte ihm seine geringe Erfahrung und die große Anspannung an, die er förmlich ausstrahlte. Seine Bewegungen waren entsprechend linkisch. Nicht so routiniert wie bei Waldarbeitern.
Diese nämlich legten ihre Sägen fest ans Holz und schnitten es ohne große Umschweife auseinander. Harry hingegen tänzelnde um den Stamm. Beinahe wie ein Raubtier, das seine Beute einzukreisen versuchte.
Als hätte er Sepp Grubingers Gedanken erraten, drehte sich Kain abrupt um. Er riss die dröhnende Säge hoch und hielt sie von sich weg. Da er Grubinger bestimmt nicht gehört hatte, erkannte er ihn erst jetzt. Seine Miene hellte sich auf. Er drehte den Motor ab und legte die Säge beiseite.
Harry Kain war ein Mann mittleren Alters, groß, blond mit angegrauten Schläfen. Vor einiger Zeit war er aus Wien ins Waldviertel gezogen. Alle hatten sich darüber gewundert. So viel wusste man, dass er in Wien ein einflussreicher Medienmann gewesen sein soll. Im Zeitungswesen. Aber was suchte so einer hier?
Gesprochen hat er nie über sich. Über den Grund, der ihn hierher verschlagen hatte.
Einst. Vor Jahren. Kein Wort.
Grubinger könnte es wissen. Zumindest aus dem Wirtshaus. Vom Stammtisch. Aber niemand interessierte sich dafür. Für Kains Vergangenheit.
Keiner.
Es fragte auch niemand danach. Und irgendwann gehörte jeder zum Inventar. Zum Dorfinventar. Das dauerte zwar. Doch Harry war eben bereits lang genug da.
Vielleicht war das auch das Gute am Waldviertel. Hier am vermeintlichen Ende der Welt. Wer sonst wollte da schon freiwillig wohnen? Ganz oben. Am nördlichen Ende Österreichs? Ohne Stadtnähe. An der Grenze zu Tschechien. Natur pur. Mit Wölfen.
Nur jemand, der Ruhe wollte und sie auch brauchte.
Lange Zeit galten die Menschen hier oben lediglich als billige Arbeitskräfte der Land- und Forstwirtschaft. Von denen gab es viele. Um deren Persönlichkeit kümmerte man sich nicht. Musste man sich nicht kümmern. Daher spielte auch Bildung bloß eine Nebenrolle. Wenn überhaupt. Nur bei Katastrophen brauchte man einander. Das schweißte zusammen.
Sonst ließ man sich gegenseitig in Ruhe. Hielt Abstand voneinander.
Sprach nur mit denen, die man kannte. Von Kindheit an.
Man redete allgemein wenig miteinander. Das war nicht nur mit Fremden so. Man lebte mehr für sich. Manchmal auch in der Vergangenheit. Doch die war recht überschaubar geworden.
Inzwischen.
Jetzt.
Denn viele von damals, gab es heute nicht mehr. Selbst viele von denen, die noch lebten, wohnten nicht mehr hier. Wollten nicht da sein. Waren wegzogen. In ein besseres Leben. Häufig in die Stadt.
Nur die blieben, die auch hierbleiben wollten.
In der Einsamkeit. In der Stille.
In vermeintlich geordneten Strukturen.
Hier, am oberen Ende der Welt.
Der Natur-Idylle.
Wo sie der Rest Österreichs nicht wahrnahm. Nicht wahrnehmen wollte.
Im Armenhaus. Dem jahrhundertelangen Armenhaus Österreichs. Immer noch. In vielem.
Sepp Grubinger bemühte sich, als Dorfpolizist alles im Blick zu haben. Nicht strafend. Nein! So etwas mochte er nicht. Er ging auf alle ganz unterschiedlich ein. Kannte ihre Sorgen und Nöte. Half und vermittelte daher, wo er konnte. Verhinderte dadurch oft Übles.
Vor allem aber war Sepp Grubinger gerne hier. Nichts würde ihn wegbringen, aus dem kleinen Dorf Großlichten. Bei Gföhl. Im südlichen Waldviertel. Nicht freiwillig.
Er mochte seine Landsleute. Er verstand sie. Auch ihre Eigenheiten. Ihre Ängste und Sorgen. Manchmal waren die völlig unbegründet. Überzogen. Wirklich nicht nachvollziehbar. Was da manche daherredeten. Im Wirtshaus. Am Sonntag nach der Kirche. Oder am Abend, wenn sie nach ihrer Arbeit noch schnell zum Hannes Lechner einen heben kamen.
Ja, der Hannes. Und sein Wirtshaus.
Gut, dass es ihn noch gab. Denn im Reiterhof von dieser Walli Winzer hatte er seit einigen Jahren zusätzlich ein Haubenlokal eingerichtet. Für die Reichen und Schönen, die aus der Stadt kamen. Weniger für die Einheimischen. Die kamen nach wie vor lieber in sein Dorfwirtshaus und die angeschlossene Bäckerei.
Wenn er nicht gerade einen seiner beliebten Back- und Kochkurse für die Wiener Schickeria abhielt, traf man ihn regelmäßig hinter dem Schanktisch des Wirtshauses an. Dort zapfte er dann Bier für die Großlichtenerinnen und Großlichtener ab. Manchmal gab’s sogar welches für die aus der Hauptstadt. Die verirrten sich zwar selten hierher, aber doch auch. Ihnen schob er dann ein Bier zu. Ein Bier, das aus den kleinen Brauereien im Waldviertel stammte. Von denen es eine Vielzahl gab. Die sogar in Wiener Lokalen immer beliebter wurden.
Der Hannes Lechner war als TV-Starkoch bekannt. Sein Lokal war seit einigen Jahren in Großlichten zur Genussdrehscheibe geworden. Seinetwegen kamen viele Gäste aus der Stadt und vom Land extra ins Waldviertel, um bei ihm kochen zu lernen. Mit gesunden Lebensmitteln, in aller Ruhe. So, wie man jeden Tag auch zu Hause in Ruhe kochen und essen sollte.
Hannes Lechner hatte eine Nase dafür. Für die Kulinariktrends. Für das, was die Menschen wollten, was sie brauchten. Und für die Menschen selbst. Deshalb saßen sie auch gerne im Wirtshaus. Bei ihm. Die aus dem Dorf und die anderen aus der Stadt. Die dort rauswollten. Oder zurückkamen. In ihre Wochenendhäuser.
Manchmal, zu fortgeschrittener Stunde, sprachen sie sogar miteinander. Das hatte der Sepp Grubinger schon beobachtet, wenn er beim Hannes saß und mit seinen Landsleuten sprach. Ein bisschen. Was sie denn dachten und was sie innerlich bewegte. In Zeiten wie diesen. In so unbestimmten. Bereits illuminiert vom Wein. Aus dem Kamptal. Aus dem Kremstal. Manche mehr, andere weniger. Da, im südlichen Waldviertel.
Im Wirtshaus bekam Grubinger den Puls der Zeit mit. Meistens. Vor allem nachdem sie sich alle fallen ließen. Am Abend. Beim Wein. Zurücklehnen, entspannen, genießen, zu dem manch gutes Tröpfchen ihnen verhalf. Beim Zusammensein. Und dann doch jeder für sich.
Aus solchen Gesprächen bemühte sich Sepp Grubinger das Richtige abzuleiten. Er für sich. Auch für die anderen. Meist hatte er recht. Im Weiteren, wenn sich etwas zuzuspitzen begann. Oder wie in letzter Zeit: als Morde geschahen. Hier. Wo sonst nie etwas passierte. Wo alles ruhig war. Weil nur wenige hier heraufkamen.
Dabei bot sich so viel an. Burgen und Schlösser, die in der Vergangenheit des Waldviertels, in der ganz alten Zeit der Kuenringer, also im Mittelalter, eine wichtige Rolle gespielt hatten. Auch ganz oben. An der tschechischen Grenze. In Gmünd. In Groß-Siegharts. An der bekannten Textilstraße.
»Sepp, hallo! Was machst du denn da?«, wandte Harry Kain sich dem Dorfpolizisten zu und freute sich über sein Kommen.
Sepp Grubinger musste sich erst gedanklich ordnen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Harry ihn so rasch bemerken würde.
Harry Kain hatte die Kettensäge inzwischen beiseitegelegt und sich die Hände an seinen Jeans abgewischt. Grubinger hielt ihm die Hand zum Gruß hin. Mit ausladender Männergeste schlug er freundschaftlich ein.
»Warst lang nicht da!« Die beiden standen einander gegenüber.
»Es hot si afoch net ergeben. I hob’s öfter vorg’habt. Sonst gab’s kan Grund«, räumte Grubinger Bedenken aus.
»Ja, aber jetzt bist einmal da«, grinste Harry und stemmte seine Hände in die Hüfte.
Sepp Grubinger blickte kurz auf den zerteilten Baumstamm, um sich danach wieder Harry Kain zuzuwenden: »Sag, warum mochst du die Arbeit allein? Wo is denn der Franz, der dir sonst hilft?«
»Der holt g’rad die Walli Winzer vom Bahnhof ab. Die hat ihr neues Auto noch nicht, das sie sich vor Wochen beim Gföhler Autohändler bestellt hat. Heute ging das alte auch noch kaputt. Daher kommt sie mit der Bahn aus Wien.«
»Die hab ich ja auch schon lang nicht mehr g’sehn! Was kauft sie sich denn?«
»Einen Elektro.«
»Was für einen?«
»Einen Tesla Model S.«
»650 Kilometer weit kommt man aktuell mit einem Tank Strom. Also schon mehr als im Vorjahr.«
»Und wieso weißt du das? Interessierst dich doch sonst nicht für so was. Du mit deinem Moped!«
»Bei der Polizei, reden s’ halt auch. Wollen mit gutem Beispiel vorangehen. Wegen Klima und so. Trotzdem müss’ ma noch, wenn notwendig, schnell damit unterwegs sein können. Zum Unfallort. Zum Tatort. Is ja schließlich ein Einsatzfahrzeug und keine Freizeitkarosse. Wird also noch einige Zeit Diesel bleiben, vermute ich. Und a so teures Auto kriag ma sowieso net.«
Harry Kain war erstaunt: »Bin überrascht, dass du dich damit auskennst.«
»Bleibt mir nix anderes übrig. Wenn i in der Bezirksinspektion in Gföhl bin, hör i nix anderes. I hab das G’fühl, die freuen sich schon alle über die Neuanschaffungen. Ja, aber mir is des eh wurscht. Bis des alles zu mir kommt, is des eh schon wieder veraltet.«
Harry lachte laut: »Jetzt wart erst einmal, bis er da is. Aber i glaub, du fährst trotzdem mit deinem Moped weiter. Auch wenn das tollste Auto vor deiner Tür steht.«
»Du, i bin froh, wenn i in ka Auto einsteigen muass. Warum auch? I hab alles gleich vor der Tür. Die Natur zum Spazierengehen. Zu die Nachbarn und zu eich in den Ort geh i zu Fuß. Zu meine Kinder in den Nachbarort: Jo, da foarn die Resi und i mit’n Auto. Sie wü net mit’n Moped foan.«
»Jo, da versteh i sie. Wie soll man da was transportieren können?«






