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Auf Graffiticrews lässt sich ebenfalls übertragen, was LAVE & WENGER für „Communities of Practice“ im Allgemeinen formulieren. Sie gehen davon aus, dass es sich um ein „set of relations among persons, activity, and world, over time and in relation with other tangential and overlapping communities of practice“ handelt (1991: 98). „Communities of Practice“ sind demnach nicht gleichbleibend und beständig, sondern von der jeweiligen Zeit, den Mitgliedern, den Aktivitäten etc. geprägt. Auch Graffiticrews bestehen in wechselnden Konstellationen. Mitglieder verlassen die Gemeinschaften, wenn ästhetische Vorstellungen nicht mehr übereinstimmen, persönliche Differenzen vorliegen oder aus Furcht vor (erneuten) strafrechtlichen Folgen (SCHMITT UND IRION 2001: 20, SCHRÖER 2013: 180ff.). Es werden dann entweder neue Mitglieder aufgenommen oder Crews zugunsten neuer Formationen völlig aufgelöst. Nach SCHMITT UND IRION bestehen die Gruppierungen selten länger als einige Jahre (2001: 20).9 Die Crewzugehörigkeit ist dementsprechend locker geregelt und freiwillig (SCHNEIDER 2012a: 24).10
Es ist durchaus üblich, dass Graffitiakteure verschiedenen Crews angehören und somit in wechselnden Konstellationen arbeiten.11 In der Graffitiszene existieren damit „overlapping communities of practice“ (LAVE & WENGER [1991] 2003: 98). Die Writer taggen dementsprechend auch die Namen verschiedener Crews.12 Trotz Crewzugehörigkeit arbeiten die Akteure auch allein – sie sind bei ihren Aktivitäten nicht an die Gruppe gebunden (SCHNEIDER 2012a: 24). Die Mitglieder der Crews bilden mitunter enge soziale Bindungen aus, was etwa die folgende Aussage des Berliner Writers KOSEM anzeigt, der im Interview auf die Frage antwortet, was ihm seine Crew CRN bedeute:
Na, so wie es bei den meisten ist, ist die Crew mehr für einen, als nur 3 Buchstaben die man neben das Bild malt. Mittlerweile bin ich auch 10 Jahre bei CRN und ich hoffe es werden mindestens nochmal 10. Man identifiziert sich ja irgendwo damit.. Und die Jungs werden mir auch von Jahr zu Jahr symphatischer! (KOSEM auf ilove-graffiti.de 2012)
Nach TAYLOR ET AL. können die Mitglieder ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit entwickeln, was wiederum zu einer Anhäufung von „social capital resources“ führt (2016: 196). Unter „social capital resources“ verstehen die Autoren in Bezug auf die Graffitiszene den andauernden Zugang zu „sociological support networks“, der für eine starke Bindung der Crewmitglieder untereinander sorgt und sie erfolgreich als eine Einheit agieren lässt (2016: 196). Daraus schlussfolgern sie,
that the receipt of social capital support resources not only enhances crew members’ sense of place affinity and sense of belonging, but also their psychological sense of wellbeing. Specifically, by providing the archetypical types of social capital support resources (e.g. reciprocal trust, information sharing, social engagement networks, camaraderie and protection) crews provide their members with an increased sense of purpose, self-worth and group identity […]. (TAYLOR ET AL. 2016: 196)
Die Crewmitglieder können dadurch sogar den Status einer Ersatzfamilie erlangen.13 Dies wird auch dadurch deutlich, dass sie sich – wie Familien in der bürgerlichen Welt – einen gemeinsamen Namen teilen (SCHNOOR 2005: 88). Häufig taggen die Mitglieder ihren Individualnamen und den Crewnamen nebeneinander, was an die Zweigliedrigkeit des bürgerlichen Namensystems aus Ruf- und Familiennamen erinnert (s. Abb. 7).


Abb. 7: Individualname und Crewname werden oft zusammen getaggt (21739, 21769).
Der Zusammenschluss der Writer zu „Communities of Practice“ bietet auch den Vorteil, dass die Mitglieder arbeitsteilig vorgehen können und ihre Fähigkeiten somit zusammenführen. Großflächige Throw Ups und Pieces entstehen dadurch in kürzerer Zeit, was den Bekanntheitsgrad der jeweiligen Crew steigert. Außerdem können sich die Mitglieder bei Aktionen gegenseitig schützen. Die Mitglieder einer Crew werden in den Graffitis auch häufig gegrüßt, indem ihre Namen um den zentralen Schriftzug herum geschrieben werden (vgl. hierzu Abschnitt 7.5.1). Dass es sich dabei um Grüße handelt, markieren Wörter wie „YO“ oder „TO“, was alternativ oftmals als „2“ realisiert ist.


Abb. 8: Grußlisten in Throw Ups bzw. Pieces von 12 (28206) und KORMA (31150), jeweils links neben dem flächig ausgestalteten Namen im Zentrum platziert
Bei Arbeiten im Kollektiv müssen sich die Mitglieder vorher allerdings absprechen und auf die Aufgabenverteilung einigen. Der Writer MENK von den RADICALS aus Leipzig erklärt im Interview mit „Backspin“, wie eine derartige „Aktion“ abläuft:
Bei jeder Aktion versuchen wir vorher alles genau abzusprechen und zu planen, damit das Ganze möglichst professionell und zügig über die Bühne geht. Wir verteilen klare Aufgaben wie Vorziehen, Füllen, Cutten, Backline etc. (MENK in Backspin 87/2007: 59)
Die Aussage von MENK deutet darauf hin, wie gut organisiert Crews bei ihren illegalen Aktivitäten vorgehen.
Darüber, wie viele Akteure bei derartigen Aktionen zusammenwirken und aus wie vielen Writern eine Crew besteht, finden sich in der Literatur nur einige wenige Angaben. TAYLOR ET AL. beziehen sich primär auf die amerikanische Szene und geben an, dass es kleine Crews mit zwei bis fünf Mitgliedern, große Crews mit 20 bis 50 Zugehörigen und sehr große Crews mit 50 bis 100 Personen gibt (2016: 195f.). SCHNEIDER schreibt, dass die Personenzahl der Crews stark variiert und zwischen fünf und 20 Personen liegen kann (2010: 75).14 Nach KARL, der sich auf die deutsche Szene der 90er-Jahre bezieht, gibt es auch Gruppen mit nur zwei Mitgliedern (1986: 47). Selbst Szeneangehörigen fällt eine Schätzung schwer, wie die folgende Aussage des Writers Jörg zeigt:
Innerhalb der lokalen Szenen gibt es […] Crews, das sind, was weiß ich, 10, 20 Leute, die dann unter ihre eigenen Bilder noch ein paar Namen von den Leuten aus der Crew setzen […]. (Writer Jörg zitiert in HITZLER ET AL. 2005: 109)
Diese unterschiedlichen Aussagen deuten darauf hin, dass Crews in ihrer Größe und in ihrer Bestandszeit sehr variabel sind.
2.3.3 Soziale Szenestrukturen
Da die Writer illegal agieren, gibt es kaum Informationen zur sozialen Zusammensetzung der Szene. Anhaltspunkte über Altersstrukturen, Milieuzuschreibungen und Geschlechtsspezifika stammen überwiegend aus qualitativen Studien mit Writern oder ausführlicheren Erfahrungsberichten von Writern selbst. So findet sich beispielsweise bei KARL, der ehemals selbst unter dem Pseudonym STONE aktiv war, eine Einschätzung zu den durchschnittlichen Altersstrukturen der Writer: Er gab 1986 aus eigener Erfahrung 13 bis Mitte 20 als Alter der Akteure an (KARL 1986: 41). Die Mannheimer Ermittlungsgruppe Graffiti nennt 1999 17 bis 23 als durchschnittliches Alter der Akteure, wobei die untere Grenze bei zehn Jahren, die obere Grenze bei etwa 25 Jahren liege (WILLMS 1999: 6).1 Diese Angaben beziehen sich allerdings eher auf die Anfangszeit der deutschen Szene. Etwas aktuellere Erkenntnisse liefern RHEINBERG UND MANIG 2003. In einer in Deutschland durchgeführten Studie zu den Anreizen des Graffitisprühens ergab sich bei 294 Probanden ein Altersmittel von 18,82 Jahren, wobei der jüngste Akteur 14 und der älteste 34 Jahre als Alter angab (RHEINBERG UND MANIG 2003: 230).2 SCHNEIDER stellt 2010 fest, dass der Großteil der Akteure zwischen 14 und 25 Jahre alt ist (71f.). Auch wenn sich mit diesen Angaben nur vorsichtige Tendenzen für die aktuelle Zusammensetzung der Szene formulieren lassen, so zeichnet sich dennoch das Bild ab, dass aktive Writer typischerweise im Teenager- oder im jungen Erwachsenenalter sind. Ältere Writer verabschieden sich oftmals vom illegalen Writing und halten sich stattdessen an legale Wände oder sie vermarkten ihre Werke sogar als Auftragsarbeiten auf dem Kunstmarkt (SCHNEIDER 2010: 72).
Über die Geschlechterverteilung in der deutschen Szene gibt es meines Wissens keine aktuellen Studien. Die Ermittlungsgruppe Graffiti der Polizei Mannheim gibt 1999 an, dass männliche Jugendliche „mit mehr als 90 % den Hauptteil der aktiven Szene ausmachen“ (WILLMS 1999: 5). Auch qualitative Interviews aus den 90er-Jahren ergeben eine deutliche Dominanz männlicher Sprüher. So ist in DOMENTAT 1994b zu lesen, dass es in der deutschen Szene nur wenige Frauen gibt. Zudem hätten die Sprüherinnen in der Szene teilweise einen schweren Stand. Einige Sprüherinnen stellten zwar auch heraus, keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern bemerkt zu haben, andere sprachen vor DOMENTAT jedoch von Aktionen der männlichen Sprüher, die sie in den lokalen Szenen gezielt ausgrenzen sollten (DOMENTAT 1994b: 72f.).3
Umfassendere Erkenntnisse gibt es zu Frauen in den Londoner und New Yorker Szenen.4 2001 erschien MACDONALDS ethnographische Studie „The Graffiti Subculture: Youth, Masculinity and Identity in London and New York“, in der sie die männliche Dominanz in der Graffitiszene herausstellt und nach Erklärungsansätzen sucht.5 MACDONALD zeigte dabei u.a. auf, dass junge Frauen in stereotype Rollenklischees gedrängt werden, die sie als „timid, delicate little thing with absolutely no fear threshold and a tendency to burst into tears at the slightest hint of danger“ darstellten (2001: 130). Sich von diesem Bild zu befreien, habe sich für die jungen Frauen als schwierig erwiesen. Insgesamt stellte MACDONALD heraus, dass die männlichen Sprüher primär anhand ihrer Graffitis beurteilt worden sind, während bei den weiblichen Sprüherinnen auch stark das Erscheinungsbild bewertet wurde: „[M]ale writers tend to pay more attention to what the female writer does with her body than her spray can, that is, her sexual activities, rather than her subcultural ones.“ (MACDONALD 2001: 146f.)
Obwohl Sprüherinnen vermutlich bis heute in der Minderheit sind, sprechen sich die Autoren neuerer Publikationen insgesamt für eine Etablierung weiblicher Sprüherinnen in der Szene aus. Davon zeugt auch der Bildband „Graffiti Woman“ (GANZ 2008), in dem Graffitis weiblicher Akteurinnen aus der ganzen Welt zusammengestellt sind. In der Einleitung zu diesem Band spricht sich GANZ gegen die Vorstellung aus, Graffiti sei ausschließlich eine Männerdomäne (2008: 10):
Schon von Beginn an waren Frauen genauso aktiv, wenn auch in der Unterzahl. […] Die Graffiti-Literatur hat den Eindruck noch unterstützt, indem sie sich fast nur mit Männern beschäftigte. Eine wirklich umfassende Darstellung der weiblichen Graffiti- und Street-Art-Szene von ihren Anfängen bis heute wäre also ein hoffnungsloses Unterfangen, da es kaum eine Dokumentation gibt. (GANZ 2008: 10)
Nach GANZ gab es stets Frauen in der Graffitiszene, über die in Publikationen jedoch kaum berichtet wurde. PABÓN (2013) betont, dass insbesondere das Internet6 dazu beigetragen habe, dass Frauen in höherem Maße an den Szeneaktivitäten partizipieren:
The shift to the Internet is definitively reordering the dynamic of participation and visibility for female graffiti writers. With the availability of the Internet, female graffiti writers are not only performing their countercultural identities and demonstrating their belonging, but they are also building and sustaining their communities and crews through the openness enabled precisely by the technology itself. (PABÓN 2013)
Auch MACDONALD konstatiert in einem Beitrag von 2016, dass sich die Szenestrukturen seit ihrer Studie im Jahr 2001 verändert haben (191). Die internetbasierte Kommunikation mache es für weibliche Sprüherinnen besser möglich, sich zusammenzuschließen und auszutauschen. Des Weiteren habe sich seit 2000 die Street-Art stetig weiterentwickelt, die Frauen für das „urban art movement“ gewinnen konnte (MACDONALD 2016: 191).7 Künstlerisch ambitionierte Frauen würden eher im Bereich der Street-Art aktiv werden, weil diese Bewegung gegenüber Frauen toleranter sei und die „Männer nicht so sehr das Bedürfnis haben, ihre Männlichkeit hervorzuheben“ (GANZ 2008: 11).8
Zum Milieu, aus dem die Writer stammen, finden sich in der Graffitiforschung keine verlässlichen Informationen. SCHNEIDER gibt in ihrem Beitrag zur Graffitiszene im Sammelband „Leben in Szenen“ (HITZLER UND NIEDERBACHER (Hg.) 2010b) an, dass die Akteure tendenziell „überwiegend der Mittel- und Oberschicht“ entstammen und beschreibt den durchschnittlichen Bildungsstand als „überdurchschnittlich“ (71f.).9 Eine ähnliche Formulierung findet sich bei MÜLLER UND JÄGER: Diese beziehen sich in ihrer Studie zur Essener Graffitiszene auf die Aussage eines Jugendrichters, nach der die verurteilten Sprüher „nicht im Arbeitermilieu groß geworden“ seien und eher „der Mittel- und Oberschicht“ entstammen würden (1998: 230f.). Die Ermittlungsgruppe Graffiti der Polizei Mannheim gibt hingegen an, dass Writer aus allen gesellschaftlichen Schichten stammen und sowohl „in gehobenen Wohnvierteln als auch in Gebieten, die als soziale Problemzonen gelten“, wohnen (WILLMS 1999: 6). Dies deckt sich mit den Erkenntnissen von SNYDER (2016), der Feldforschung zum New Yorker Graffiti betrieb und feststellte, dass die Szene sehr heterogen zusammengesetzt ist und sich daher keine Kategorisierungen vornehmen lassen: Die Writer bilden eine „multi-class, race, ethnic, religious and lingual culture of younger and older people“ und definieren sich nicht über ethnische oder religiöse Zugehörigkeiten, sondern über das Graffitisprühen (SNYDER 2016: 206).
2.3.4 Szenetypisches Vokabular
Bei der Beschäftigung mit dem Thema Graffiti fällt auf, dass in der Szene Wörter verwendet werden, deren Bedeutungen sich einem Laien nicht sofort erschließen. Aus diesem Grund findet sich in vielen Publikationen zum Szenegraffiti zunächst ein Glossar mit Erläuterungen zu Szenetermini wie Piece, Tag und Toy (z.B. in COOPER UND CHALFANT 1984). Diese Bezeichnungen sind Bestandteil einer Szenesprache. Als Szenesprachen werden hier mit ANDROUTSOPOULOS „sozial identifizierte Konfigurationen von Merkmalen aus verschiedenen sprachlichen Ebenen [verstanden], die sich spezifischen jugendkulturellen Praxisgemeinschaften zuordnen lassen“ (2005: 174).1 Im folgenden Abschnitt geht es primär um die besondere Lexik, die die Graffitiszene herausgebildet hat.
Da Tag, Throw Up und Piece sowohl für die Szene selbst als auch für diese Arbeit besonders relevante Bezeichnungen sind, werden sie im Folgenden kurz erläutert. Es handelt sich hierbei um Termini, „which are known to all graffiti writers“ (CASTLEMAN 1989: 26), denn mit ebendiesen wird in der Szene auf die Werke referiert. Die Termini werden von den Writern in Gesprächen und Interviews verwendet und sind damit ein wichtiger Bestandteil der Szenesprache.2 Darüber hinaus geben die Bezeichnungen auch Aufschluss darüber, „welche Eigenschaften innerhalb der Graffiti-Szene die Einordnung und Bewertung von Graffiti bestimmen“ (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 91).
Der Begriff Tag referiert auf die linienförmigen Realisierungen eines Graffitinamens. Tag kommt aus dem Englischen und hat eine Vielzahl von Bedeutungen, u.a. ‚Anhänger‘, ,Marke‘, ,Etikett‘ und ,Preisschild‘. Im übertragenen Sinn markieren Writer mit ihrem Tag also die entsprechenden Straßen oder Gebäude. Weil die Anbringung zügig erfolgen muss, werden Tags meistens in einer einzigen, viel geübten Handbewegung angebracht (VAN TREECK 1993: 148). Die Buchstaben sind oftmals wie bei einem Logo oder Monogramm ineinander verschlungen und zusammengerafft (BOWEN 1999: 24). Wie die Beispiele in Abb. 9 zeigen, bestehen Tags nicht nur aus Buchstaben, sondern auch aus weiteren Elementen.3






Abb. 9: Tags von EURO, TIGHT, RTA CREW, WORNONE EAST, FBS und CRACK (19939, 19542, 30466, 30314, 25768, 31332)
Als zu Beginn der Entstehung des amerikanischen Graffitis immer mehr Jugendliche damit begannen, ihren Namen im öffentlichen Raum anzubringen, gestalteten die Writer ihren Namen zunehmend aus, um unter der wachsenden Anzahl von Writern aufzufallen (WACŁAWEK 2012: 16). Durch diese zunehmende gestalterische Komplexität bildete sich aus dem Tag ein neuer Graffitityp – das Piece – heraus (REINECKE 2012: 29). Ein Piece – Kurzform für engl. Masterpiece – gilt heute als höchste Ausprägung der Sprühkunst und kann nur von erfahrenen Writern hergestellt werden (SNYDER 2009: 32). Ursprünglich galt die Bezeichnung ausschließlich für stilistisch besonders herausragende Werke, heute steht sie jedoch für alle großformatigen Graffitis dieser Art (VAN TREECK 2001: 310).
Das Zentrum eines Pieces bildet grundsätzlich der Name des Writers. Die Unterscheidung von Piece und Tag bezieht sich damit primär auf die unterschiedliche Ausgestaltung der Schrift (VAN TREECK 2001: 310, KREUZER 1986: 264). Im Falle eines Piece ist der Schriftzug typischerweise vor einem gestalteten Hintergrund platziert, etwa auf einer Wolke oder einer an den Rändern ausgefransten Fläche (KREUZER 1986: 264). Darüber hinaus treten zum Namen häufig weitere Elemente hinzu, die ihn umgeben oder in die flächigen Buchstaben eingeschrieben sind. So enthalten sie beispielsweise häufig Zeichen wie Dollarzeichen oder Totenköpfe, mitunter auch figürliche Elemente (Characters) aus Comics und Fernsehserien (KREUZER 1986: 265).
Neben dem Tag als einfachen, schnell gesprühten Form des Namens und dem Piece als besonders aufwendig gestalteten Form lässt sich das Throw Up als dritter Graffitityp nennen. Es entwickelte sich als letzter der drei Typen heraus. Ursprünglich bezog sich die Bezeichnung Throw Up auf gering ausgestaltete Pieces, später verfestigte sie sich jedoch als eigene Bezeichnung für „schnell hingesprühte und meist wenig gestaltete Sprühbilder“ (VAN TREECK 2001: 384). Die Anbringung von Throw Ups ist zwar mit mehr Aufwand verbunden als die Fertigung von Tags, sie sind in ihrer Gestaltung jedoch weniger aufwendig als Pieces und wirken oft wie flüchtig an die Wand geworfen (throw up engl. ,aufwerfen‘). Bei einem Throw Up wird typischerweise mit zwei Farben gearbeitet: eine für die Umrandung („first outline“), die andere für die Füllung („fill in“) (VAN TREECK 2001: 384). Da die Herstellung mindestens zwei Arbeitsschritte erfordert, ist sie zeitintensiver als die eines Tags. Dies erhöht die Gefahr, bei den illegalen Aktivitäten erwischt zu werden. Der Vorteil gegenüber den Tags besteht hingegen in der eindrucksvolleren Wirkung, weil ein Throw Up in der Regel eine größere Fläche einnimmt.4
Zwischen den drei Typen Tag, Throw Up und Piece gibt es viele Zwischenformen und die Zuordnung eines Graffitis zu dem einen oder anderen Typ ist oft keinesfalls eindeutig. Während sich Tags mit ihren linearen Buchstaben noch relativ klar von Throw Ups und Pieces mit flächigen Buchstaben unterscheiden lassen, kann eine Unterscheidung von Throw Ups und Pieces oft nur vage bleiben.



Abb. 10: Throw Ups von 8BIT (29447), ZONK (31371) und HDF (30453)
Neben den wichtigen Bezeichnungen Tag, Piece und Throw Up verwendet die Szene noch eine Vielzahl weiterer anglo-amerikanischer Termini, die mehrheitlich bereits seit den 80er-Jahren in Verwendung sind (vgl. dazu etwa den Glossar in COOPER UND CHALFANT 1984: 27). Bei der Entwicklung von Bezeichnungen zur Bezugnahme auf Techniken, Werke etc. wurden wenig neue Wörter gebildet und stattdessen Lexeme aus der Standardsprache verwendet und umgedeutet. Die Lexeme erhielten in der Graffitiszene eine neue Bedeutung, während sie außerhalb der Szene weiterhin mit ihrer ursprünglichen lexikalischen Bedeutung verwendet wurden. Beispiele für dieses Verfahren sind die Substantive King, Style, Fame, Crew und Writer sowie die substantivierten Verben Throw Up und Getting Up. Szenetypische Verben sind to bomb, was das massenhafte Anbringen des eigenen Namens bezeichnet, sowie to tag, was den Vorgang bezeichnet, den Namen im Stadtbild anzubringen (COOPER UND CHALFANT 1984: 27). To bite bezeichnet des Weiteren das Nachahmen eines fremden Styles, to buff meint die Entfernung eines Graffitis mittels chemischer Reinigung (COOPER UND CHALFANT 1984: 27).
Das amerikanische Vokabular wurde zur besseren Vermittlung in Lexika gesammelt (vgl. z.B. die Lexika von KREUZER 1986 und VAN TREECK 1993, 1995, 2001). In den Lexika finden sich neben den bereits genannten Termini auch viele Komposita, die auf Graffitis auf unterschiedlichen Oberflächen und in unterschiedlichen Positionen auf Zügen referieren. Die Tätigkeit des Schreibens oder Sprühens auf Mauern und Wänden wird etwa als Wall Writing bezeichnet, Graffitis auf Zügen lassen sich anhand der eingenommenen Fläche in Whole Trains, End-to-Ends, Top-to-bottom Whole Cars und Window-Down Whole Cars weiter differenzieren (KREUZER 1986: 443).5 Das szeneinterne Bezeichnungssystem für Graffitis richtet sich somit nicht nach den inhaltlichen Eigenschaften der Werke, sondern nach deren Größe, Ausgestaltung und Positionierung. Eine inhaltliche Differenzierung – etwa in Wortgraffitis und Spruchgraffitis – ist für die Szene nicht relevant, weil es typischerweise der Name ist, der gesprüht wird.
Auffällig ist, dass alle zentralen Bezeichnungen aus der englischen Sprache übernommen wurden und sich keine deutsche Terminologie entwickelt hat (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 91).6 Diese Übernahme deutet zum einen darauf hin, dass sich die Writer „in der Tradition des American Graffiti sehen“, und zum anderen zeugt die Verwendung englischsprachiger Termini auch von der internationalen Orientierung der Szene (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 91).7
Bei vielen dieser szenetypischen Begrifflichkeiten lässt sich außerdem eine „aggressive Nuance“ ausmachen (STEINAT 2007: 28). Wörter wie biten (engl. bite ,beißen‘, steht in der Szene für das Kopieren von Stilen anderer Writer), racken (engl. rack ,foltern‘, ,quälen‘, ,plagen‘, in der Szene für das Stehlen von Sprühdosen) und crossen (engl. cross ,kreuzen‘, ,durchstreichen‘, in der Szene verwendet für das Übermalen von Graffitis anderer Writer) rufen Konnotationen von Gewalt und Illegalität auf. Szenebezeichnungen wie bomben (engl. to bomb), style wars (engl. ,Stil-Kriege‘, die ab 1973 in New York ausbrachen, als der Stil der Writer entscheidend für den Wettkampf um Ruhm wurde) und battle (engl. ,Kampf‘, in der Szene als Bezeichnung für Sprühwettbewerbe zwischen Sprühern oder Crews) erinnern beispielsweise an Kontexte wie die Kriegsberichterstattung.
Graffitis sind in der Forschung zwar häufig als Mittel dargestellt worden, mit denen der urbane Raum annektiert wird (vgl. dazu etwa KAPPES 2014, SCHNEIDER 2012b),8 die „aggressive Nuance“, die sich in den Szenebezeichnungen findet, lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres für die Writer annehmen (TOPHINKE 2016: 426). Anspielungen auf kämpferische Handlungen und Gewalt finden sich zwar auch in den Kommentaren (Comments) um Pieces herum platziert (z.B. TRAINED 2 KILL! (31444), SHOOT TO KILL (30451)) – und auch viele Namen weisen eine aggressive Semantik auf (z.B. TUMOR, 30470). Nimmt man jedoch die szeneinterne Kommunikation in den Blick, so zeigt sich, dass diese Formen eher als Spiel der Szene mit den von außen zugeschriebenen Eigenschaften zu deuten sind – und nicht als Ausdruck echter Aggressivität (TOPHINKE 2016: 426).










