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„Ist ziemlich alt. 40 Euro!“
Gustav bezahlte sofort und verließ glückselig und sehr aufgeregt die staubige Buchhandlung. Er hatte ein prächtiges Geschäft gemacht.
Vermutlich hatte der Händler wenig Interesse an deutschsprachigen Büchern und war schlichtweg ahnungslos über den tatsächlichen Wert.
Er sah nicht den seltsamen Blick des alten Buchverkäufers, dessen blasse Gestalt durch das Fenster schimmerte.
Ramona saß schon im Restaurant und schlürfte einen Espresso.
„Hast du was gefunden?“, fragte sie erstaunt, als Gustav das schwere Buch auf den Tisch legte. Wie ein aufgedrehtes Kind am Weihnachtsabend erzählte er seine Geschichte über die alten Handschriften zwischen den Buchseiten. Dabei streichelte er voller Hingabe seine „
Chronik der Weltgeschichte
“.
Ramona lächelte milde, denn auch sie mochte Bücher.
„Du bist närrisch! Wahrscheinlich sind es nur Handnotizen eines kundigen Lesers der Weltgeschichte. Achtlos im Buch liegengelassen. Vielleicht sind sie gar nicht alt und einfach nur unbedeutend und wertlos?“, sagte sie, nahm vorsichtig das Buch und öffnete es.
Gustav sah ihr gespannt zu und flüsterte:
„Zwischen den Seiten 388 und 389!“
Kurz darauf zog Ramona die Handschrift hervor und betrachtete das handgeschriebene Blatt aufmerksam. Sollte es wirklich aus dem Jahr 1699 sein, dann wäre es ungewöhnlich gut erhalten. Keine Einrisse, kaum Verschmutzungen und keine Spuren von Säureflecken.
Sie teilte Gustav ihre Beobachtungen mit und hoffte gleichzeitig, dass er keine allzu große Enttäuschung erlebte.
„Du hat Recht, mein kleiner Hasenpups. Aber vielleicht liegt die Handschrift schon Jahrhunderte in diesen Seiten. Damit wäre es vor Licht und Zerfall geschützt. Säurefraß war erst im 19. Jahrhundert ein Problem, da in der Papierherstellung Chemikalien benutzt wurden. Ursprünglich wurde Papier nur aus Holz hergestellt, ohne Chlor und dem ganzen Zeug. Aber die Tinte fraß sich in das Papier und war früher schwarz und nicht blau. Der Text wurde mit einem Gemisch aus Ruß und Öl geschrieben und ist sehr alt.
Und die Schrift stammt ebenfalls aus dem 17. Jahrhundert, so wie die Schreibweise.“, erklärte er aufgeregt.
Beide schauten auf das alte Dokument.
„Sieh! Das Wort Kurfürst wurde statt mit einem „
K
“ noch mit „
C
“ geschrieben, ein „
ie
“ gab es noch nicht und wurde nur als „
i
“, das „
t
“ meist als „
th
“ geschrieben…“
Ramona lauschte aufmerksam.
„Und noch ein wichtiges Detail. Der alte Kurfürst krönte sich selber 1701 zum ersten Preußenkönig. Danach nannte er sich nur noch
Friedrich I.
und so wurde er auch immer rückblickend genannt. Unsere Handschrift berichtet jedoch vom Kurfürsten
Friedrich III.
und wurde vor 1701 verfasst!“
Ramona nickte schweigend.
„Nun könnte es auch eine moderne Abschrift eines Dokumentes sein. Dennoch ist das Papier eindeutig alt und die Tinte auch. Vielleicht eine bewusste Fälschung? Warum sollte jemand soviel Mühe verwenden? So ein Text ist öffentliches Gut und kein Geheimdokument aus
Dan Browns
Romanen. Es gibt zahllose Abhandlungen über dieses Ereignis. Ich denke, dass es ein echtes Original ist und es wurde 1699 geschrieben. Leider ohne Namen und Unterschrift.“, erklärte er.
Gustav klappte das Buch mit Genugtuung zu, nahm Ramonas Hand und grinste zufrieden. Er würde das mysteriöse Schriftstück später noch richtig untersuchen und vielleicht gab es noch weitere Geheimnisse.
Nach dem Abendessen trafen sich beide im Zimmer von Gustav. Er hatte irgendwoher eine Kerze besorgt und angezündet, Italienischen Wein entkorkt und sein Bett als Sitzmöbel umfunktioniert. Die Beleuchtung hatte er gedämmt und den lokalen Musiksender eingestellt.
Ramona war entspannt. Gustav war es nicht und etwas nervös. War es sein Abend? Diesmal wollte er nicht zu unsicher wirken. Er strahlte doch stets Sicherheit aus.
Nach dem ersten Gläschen nahm er einfach ihre kleine Hand und streichelte sie wie einen alten Talisman. Aber schon nach kurzer Zeit fand er es albern und kindlich. Er ließ ihre Hand wieder los.
Unbeholfen schenkte er die Gläser erneut voll. Der Rotwein schimmerte durch das Glas auf Ramonas Wangen, sobald sie daran nippte.
Gustav hätte es gern fotografiert, aber dieser Moment war ein stiller Raum in angenehmer Untätigkeit. Jede Bewegung hätte gestört. Gustav mochte solche Momente, die ein Stück zeitlose Ewigkeit waren.
Aber was mochte Ramona? Wäre sie einverstanden, wenn er sie jetzt küsste, ihre kleinen Brüste liebkoste und ihr das Kleid öffnen würde? Gustav hatte keine Ahnung. Umso länger er sie kannte, desto unsicherer wurde er ihr gegenüber.
Von seinen Ängsten wusste Ramona nichts, der Rotwein schmeckte lecker und Florenz war einfach eine tolle Stadt. Ramona fühlte sich wohl.
Da Gustav nur schweigsam neben ihr saß, dachte sie über ihr Verhältnis nach. Eigentlich war er ein toller Freund. Gustav war witzig, klug und gegenüber der restlichen Welt sehr selbstsicher. Nie würde er ihr einen Wunsch verweigern, wäre ihr gegenüber niemals grob oder rücksichtslos und zärtlich wäre er ohnehin. Irgendetwas stand aber immer zwischen ihr und Gustav. Sie konnte es eigentlich nicht erklären, denn sie war gern in seiner Nähe.
Und nun saßen sie gemeinsam auf einem Bett, mit Rotwein und im Kerzenschein, an einem milden Abend unter Italiens Himmel.
Was würde sie machen, wenn Gustav sie plötzlich küssen würde, ihre Brüste streicheln und ihr Kleid öffnen würde? Hätte sie es gemocht und auch genießen können? Ramona dachte nach. Es war schon eine Weile her, als sie den letzten Sex hatte und auch die Enttäuschungen danach. Doch Gustav würde sie nicht enttäuschen.
Er gehörte zu den Menschen, die lieber überraschten, als enttäuschten. Sie konnte es sich fast vorstellen, wie er sie küssen würde, wie er ihre Brüste entblößte, ihr das Kleid öffnete und sie mit seinem Mund berührte. Sie stellte es sich vor und spürte die heimliche und warme Feuchtigkeit ihrer stillen Gedanken.
Jetzt hatte Ramona Lust.
Gustav saß schweigend neben ihr und schien über irgendein Problem zu brüten. Dann schaute er sie an, bemerkte ihre geröteten Wangen und seufzte ganz unmerklich, legte seinen Arm um ihre Hüfte und rückte ganz dich heran.
Sie waren sich nah und Gustav wollte schon seinen ganzen Mut zusammennehmen und sie leidenschaftlich bestürmen, sie küssen und lieben. Jetzt wollte er es wagen!
Beide schreckten hoch, denn es klopfte unvermittelt an seiner Zimmertür.
Verdammte Zimmertür!
Es war ein Junge, der einen Briefumschlag überreichte und gleich wieder verschwand. Gustav öffnete den Brief und las vor:
„
Mein Herr, Sie haben heute ein Buch bei mir erworben. Leider stellte ich fest, dass ich nicht befugt war, es Ihnen zu verkaufen. Der eigentliche Besitzer bekam das Buch von seinem Vater als persönliches Familienerbstück mit hohem, ideellem Wert und er besteht auf die Rückgabe des Buches.
Als Wiedergutmachung für die Unannehmlichkeiten, die ich Ihnen bereitet habe, erhalten Sie von mir 400 Euro. Bitte kommen Sie allein und bringen sie das Buch am Morgen um 10 Uhr in mein Geschäft, wo ich Ihnen das Geld aushändige.
Hochachtungsvoll, Rigonaldos
“
Gustav runzelte die Stirn.
„Was soll das?“, fragte er.
Ramona zuckte die Achseln.
„Satte 400 Euro ist kein schlechtes Geschäft. Vermutlich wusste der alte Buchkrämer nicht, welches Buch schon verkauft und welches Buch nur eine Leihgabe war.“, sagte sie und sah zu, wie Gustav das Buch hervor holte.
„Mag sein, dass der Alte die Übersicht verloren hat.“, antwortete er, „Aber wie sollte ein Erbstück, was dem Eigentümer so ideell wichtig war, in ein verstaubtes Bücherregal eines Antiquariats landen?
Viel wahrscheinlicher ist, dass er irgendwie von den Handschriften erfahren hat und diese weit wertvoller sind als lumpige 400 Euro.“, entgegnete er grübelnd. Ramona setzte sich aufrecht, zog ihr Kleid gerade und sagte etwas empört:
„Gustav, willst du das Buch behalten, obwohl du weißt, dass es nicht dir gehört?“
Ihre Wangen wurden noch roter, obwohl ihre Lust längst verflogen war.
Gustav zog ein Päckchen Zigaretten aus seiner Tasche und zündete sich eine an, trotz des Rauchverbotes. Damit zeigte er deutlich, dass er Regeln verabscheute und meist ignorierte, ohne Skrupel zu haben. Gustav war nie ein Mann, der unterwürfig handelte.
„Ich habe es ganz offiziell für 40 Euro gekauft und könnte es einfach behalten.“, antwortete er trotzig, „ Aber gut, wir gehen morgen hin und tauschen das Buch für 400 Euro zurück. Die Handschrift von 1699 behalte ich aber und werde behaupten, dass ich keine Handschrift gefunden habe. Und eigentlich schreibt der Mann auch nur von dem Buch und nicht von irgendwelchen Zetteln, die zufällig drinnen lagen. Ich werde mir das Buch genauer ansehen und die anderen Zettel auch. Irgendwas liegt hier verborgen und scheint wertvoller zu sein, als wir bisher glaubten.“, entgegnete er bockig und beleidigt.
Ramona erhob sich.
„Nun gut. Ich bin müde und gehe ins Bett.“, sagte sie ebenfalls beleidigt.
Dann küsste sie Gustav flüchtig und ging.
Wieder ein Abend ohne Liebe, Sex und ohne Körperlichkeit. Gustav verzog mürrisch das Gesicht, widmete sich aber gleich seinem Buch. Jede einzelne Seite überflog er, suchte nach Notizen und Unstimmigkeiten. Anschließend begutachtete er sämtliche Schriftstücke, die er lose im Buch gefunden hatte. Nichts!
Wie er bereits vermutete, waren es belanglose Steuerlisten aus ehemaligen Klöstern. Zwei Listen mit Zählungen von Einwohnern kleiner Dörfer und eine Rechnungsliste für Bier. Einzig und allein die Schriftakte aus dem Jahr 1699 blieb bemerkenswert, weil sie alt und geschichtlich war. Vielleicht war sie sogar 400 Euro wert, aber viel wertvoller war sie nun auch wieder nicht. Gustav grübelte und Stunde um Stunde verging. Er fand nichts Geheimnisvolles.
Müde und enttäuscht ging er zu Bett.
Er träumte. Ganz sicher, denn er fühlte sich körperlos und war nicht wach. Manchmal erkennt man die Traumwelt, egal wie realistisch sie erscheint. Und dieser Traum war einfach da, ohne Anfang, ohne Vorspiel, ohne Steuerung.
Eine wunderschöne Frau, voller Liebreiz und Anmut, saß an seiner Seite. Tatsächlich erkannte Gustav keine konkreten Formen, keine abspeicherbaren Gesichtszüge und keinerlei Farben. Sie war seine persönliche Empfindung, eine Euphorie seines Traumes.
Trotz der Formlosigkeit war sie eine handfeste Erscheinung. Sie war jung, viel jünger als Ramona, hatte etwas ungemein Vertrautes an sich und wirkte sehr anziehend auf Gustav. Wärme breitete sich aus.
Er wollte sie berühren, seine Arme um sie legen und sie nie mehr loslassen, aber sein Traum ließ es nicht zu.
„Geh morgen nicht allein!“, hauchte sie in sein Herz.
Dann verblasste der kurze Traum und endete ohne Rückkehr.
Gustav erwachte.
Ihr Hotel besaß ein kleines, aber gepflegtes Restaurant und Ramona wartete schon mit dem Frühstück. Obwohl sein Traum nur kurz war, schwirrte er noch immer verwirrend in seinen Gedanken.
„
Geh nicht allein!
“, hallte es in seinem Kopf. Verstehen konnte er es nicht.
„Ich würde mich freuen, wenn du mich zum Buchhändler begleitest. Anschließend lade ich dich zu einem Vormittagsgläschen roten Weines ein.“, sagte er liebenswürdig zu Ramona.
„Für 400 Euro sollte es mehr als nur ein Gläschen sein!“, lachte sie und der gestrige Abend war irgendwie verflüchtigt.
„Hast du noch etwas Interessantes gefunden oder gibst du dein Buch kampflos zurück?“, fragte sie weiter. Gustav schüttelte nachdenklich seinen Kopf. Nein, er sollte alles zurückgeben.
Etwas später schlenderten beide durch die Labyrinthe der Innenstadt. Inzwischen kannten sie sich etwas aus und weil es ein phantastisches Wetter war, wollten sie die knapp 5 Kilometer gemütlich laufen. Gustav hatte sein Buch im Rucksack verstaut und hatte seine Hände frei, um ab und zu Ramona anzufassen und zu berühren.
„Hast du, kleiner Hasenpups, keine Hemmungen schon am Vormittag die 400 Euro mit Wein zu versaufen?“, fragte er im neckischen Tonfall.
„Wenn es sein muss, dann betrinke ich mich auch zum Frühstück! Wärst du nicht so ein Geizhals, könnte jeder Vormittag schön sein!“, entgegnete sie und gab Gustav keck einen herzhaften Klaps auf den Hintern. Das machte sie sonst nie!
Lachend zog er sie an sich heran und küsste sie flink.
„Nachdem ich das Buch zurückgegeben und das Geld habe, mache ich dich betrunken, mein kleiner Hasenpups. Dann bist du endlich willenlos und verführbar!“, gab Gustav zurück und kniff ihr übermütig in ihren süßen Po. Es gab absolut keine Zweifel, denn für die vielen Passanten waren sie ein frisch verliebtes Pärchen. Ramona und Gustav hätten das natürlich anders gesehen.
Unbekümmert alberten sie die Straßen entlang.
„Wir kommen gleich ins Touristengebiet. Benehmen wir uns dann?“, fragte sie schelmisch.
„Ich weiß nicht, was du meinst. Ich bin ein seriöser Mann mit viel Würde.“, entgegnete er lachend.
„Apropos Würde! Würdest du bitte deine Hand von meinem Hintern nehmen? Das sieht nicht sehr seriös aus.“, sagte sie mit erhobener Nase.
„Du hattest zuerst deine Hand an meinem unschuldigen Arsch!“, versuchte er sich zu rechtfertigen. Beide sahen sich lauernd an wie spielende Welpen. Ramona grinste frech.
Immer wenn sie das tat, steckte sie ein wenig ihre Zungenspitze raus. Vermutlich bemerkte sie es nicht einmal, aber es passierte regelmäßig. Und nur, wenn sie leicht hinterhältig und mit geschlossenem Mund lachte. Gustav erkannte dadurch immer, wenn sie frech und spitz eine beiläufige Situation für sich beurteilte. Bei keinem anderen Menschen hatte er so etwas beobachtet. Nie hatte er gesehen, dass jemand beim Grinsen seine Zungenspitze flüchtig durch die Lippen stieß. So gern hätte er es fotografiert, aber es war eine so spontane Situation, dass sie nicht nachgestellt werden konnte. Für ihn hätte sie immer so herum laufen können mit herausgestreckter Zungenspitze, denn es stand ihr ausgezeichnet. Und in diesem Zustand war die Macht mit ihr. Manchmal überlegte er, ob er sich nur darum in sie verliebte, weil sie mit der kleinen Zungenspitze wirklich süß aussah.
Am Buchladen angekommen, stutzten sie.
Gestern war es ein anderer Anblick. Alles an diesem Laden war anders! Die schwere Ladentür war verschlossen. Der alte Buchhändler war nicht zu sehen. Das ganze Haus sah verlassen aus.
Gustav schaute auf seine Uhr, aber es war bereits nach 10 Uhr.
Im gegenüberliegenden Straßencafe fragten sie beim Personal nach.
„Das Geschäft ist schon seit Jahren verschlossen. Früher war dort eine wunderschöne Buchhandlung mit großem Antiquariat. Doch eines Tages fand man den armen Rigonaldos. Er wurde grausam ermordet und die Polizei konnte niemals herausfinden, wer diese Tat begangen hatte und warum. Rigonaldos hatte keine Nachkommen und keine Erben und so blieb das Geschäft versiegelt und geschlossen. Schade, denn damals kamen viele Buchliebhaber hierher und belebten das Viertel.“, berichtete der Inhaber des Cafes.
Ramona kräuselte ihre Stirnfalten und schaute fragend zu Gustav.
„Wir waren doch erst gestern dort …“, stammelte sie, doch Gustav schnitt ihr das Wort ab. Irgendetwas stimmte nicht!
Freundlich bedankte er sich für die Auskunft und zog Ramona mit sich fort.
„Ramona, hast du gesehen, dass die Eingangstür der Bücherei ein altes Polizeisiegel hatte? Es war ungebrochen! Und die Fenster waren verdreckt von innen, als wären tatsächlich seit 20 Jahren keine Menschen im Haus gewesen. Gestern sah es hier anders aus! Ich war drinnen und ich habe wirklich das Buch gekauft. Gestern war es ein offenes und fast normales Geschäft! Entweder haben sich hier alle gegen uns verschworen, oder wir sind beide über Nacht verrückt geworden, wahrscheinlich weil wir noch keinen Sex hatten. Allein das macht mich schon ziemlich verrückt!“, raunte er ihr laut zu.
Gustav holte tief Luft. Er war innerlich ziemlich aufgewühlt.
„Vielleicht bist du ja wirklich irre geworden!“, entgegnete Ramona aufgeregt, „Doch ich bin normal und ich sehe auch, dass hier etwas nicht stimmt. Sollen wir zur Polizei? Wir haben das Buch und den Brief und wir müssen herausfinden, was hier läuft!“
„Nicht zur Polizei! Die sperren auch dich in die geschlossene Anstalt, wenn du unsere Geschichte erzählst. Dann kann uns niemand mehr helfen. Wir brauchen einfach mehr Informationen. Lass uns erst einmal aus diesem Viertel heraus und uns ein ruhiges Restaurant suchen, um nachzudenken.“, erwiderte er. Ramona war einverstanden.
Gustav hatte sich wieder ein wenig beruhigt und eilig suchten sie nach einem geeigneten Ort, der abseits lag.
Endlich fanden sie ein winziges Restaurant und einen Tisch, der einsam genug stand. Gleich kam eine freundliche Kellnerin und stellte zuvorkommend eine große Flasche Wasser und zwei Gläser auf den Tisch.
„Wir wollen uns nicht waschen, sondern wir haben Durst!“, bemerkte Ramona spitzfindig und wandte sich fordernd an Gustav.
„Denke nicht, dass ich jetzt keinen Wein mehr möchte. Los, ich trinke erst ein kühles Bier und danach einen Rotwein.“, befahl Ramona.
Gustav liebte sie dafür.
Ähnlich wie er, achtete Ramona selten auf die Etikette. Die freundliche Kellnerin sah etwas beleidigt aus. Sie überlegte, ob und wie sie Ramona waschen sollte.
Zügig bestellte Gustav zwei Bier und eine Flasche Wein, gleichzeitig, …
„…und ja, auch für die Dame ein Bier.“
Ramona atmete erleichtert durch.
„So, mein Gustav, was soll das mit diesem Buch und dem verstorbenen Händler, dem lebenden Händler und seinem Brief? Hast du wirklich nichts Ungewöhnliches am oder im Buch entdeckt?“
Gustav kramte in seinem Gedächtnis und schüttelte enttäuscht den Kopf.
Das Bier kam und auch der Wein. Beide tranken ihre Biere in einem Zug aus. Gustav zündete sich eine Zigarette an. Er konnte sich dabei auch körperlich entspannen. Ramona mochte keine Zigaretten, aber bei Gustav störte es sie nicht.
„Wir gehen ins Internet und suchen nach dem Buch und der Buchhandlung. Irgendwas werden wir finden und vielleicht auch Antworten.“, schlug sie entschlossen vor. Er verzog sein Gesicht.
„Das Internet ist ein eigenes Universum, unendlich weit und unendlich voll gepackt mit menschlichem Geistesgut. Und so, wie sich im unendlichen Universum die kleinen Planeten verlieren, so verliert sich auch die Wahrheit im Internet.“
Ramona grinste, als sie Gustav zuhörte.
„Ja, mein kleiner Philosoph, aber im Internet finden sich trotzdem Wahrheiten. Man muss nur wissen wonach und wo man sucht und wir beide wissen genau wonach.“, sagte sie und dann hob sie ihren Zeigefinger und raunte in mystischer Tonlage:
„Mordsache Rigonaldos“.
Die Flasche Wein hatten sie schnell geleert und eilten zum Hotel zurück.
Ihr Zimmer war mit einem Internetcomputer ausgestattet und sofort gingen sie ans Werk. Tatsächlich fand Ramona auf Anhieb die lokalen Nachrichtenseiten und zwei Klicks weiter fand sie die Meldung von „
Rigonaldos
tragischem Ende“
.
„Ich übernehme die Übersetzungen in Italienisch und Latein, du bist dafür für Englisch, Französisch und Weibisch zuständig.“, sagte Gustav und lächelte Ramona mit breitem Grinsen an. Dann las er die Meldungen und erklärte:
„Rigonaldos fanden sie vor 23 Jahren. Tot in seinem Buchladen. Wenn ich das hier richtig lese, dann wurde er enthauptet. Nichts wurde gestohlen und es fanden sich keinerlei auswertbaren Spuren. Immerhin befanden sich eine reich gefüllte Ladenkasse und sogar alter Schmuck im Geschäft. Rigonaldos hatte wirklich keine Erben, nicht einmal eine Haushälterin. Da er das Geschäft als alleiniger Eigentümer besaß, versiegelte man kurzerhand das Haus. Erst wenn das Gebäude eingefallen ist, darf die Stadt das Grundstück neu benutzen. Kann aber wohl noch ein paar Jahre dauern. Außer den Mord gab es offensichtlich nichts Erwähnenswertes im Leben des Rigonaldos. Über die Bücher kein Wort.“
Ramona sah fragend Gustav an.
„Das hilft uns nicht weiter, verdammtes Internet!“, fluchte sie. Dann tippte sie wild auf die Tastatur. Auch der Buchtitel „
Chronik der Weltgeschichte
“ brachte keine neuen Erkenntnisse.
Inzwischen war es dunkel geworden und der Abend begann.
Müde und enttäuscht gaben beide die Internetsuche auf.
Vielleicht hatten sie gestern nur eine andere Wahrnehmung, vielleicht waren sie einfach nur in einem anderen Geschäft. Vielleicht war Rigonaldos ein häufiger Name für einen Buchhändler und vielleicht war alles nur eine Verwechslung.
Aber eigentlich waren es zu viele „
Vielleicht
“.
Eine schlüssige Antwort war einfach nicht zu finden.
Oder waren sie krank und litten an geistiger Verwirrung? Das war undenkbar!
Gustav war nie ernsthaft krank gewesen. Nur einmal ging er in den letzten Jahren zum Arzt. Er hatte Nierensteine, weil er beim einsamen Studium eines neuen Fachgebietes in seiner Bibliothek nicht ausreichend getrunken hatte. Die Geschichte der Kulturpflanzen hatte Gustav dermaßen beansprucht, dass er das Trinken einfach vergessen hatte. Prompt bildeten sich Nierensteine, die sich schmerzhaft festsetzten. Das war vor zwei Jahren. In seiner Not suchte er einen Urologen auf. Der Arzt war furchtbar nett und verordnete regelmäßiges Saufen. Ob das Bier dabei warm oder kalt wäre, spielte keine Rolle. Gustav war dankbar. Vielleicht sollte er öfter zum Arzt gehen. Doch der nette Urologe verlangte anschließend, dass Gustav seine Hose herunter ließ. Er sei inzwischen in einem Alter, wo man auch zur Vorsorge untersuchen müsste. Gustav gehorchte brav und als er noch überlegte, warum zur Vorsorge er die Hose heruntergelassen soll, verschwand der nette Urologe hinter seinem Rücken. Flink streifte der sich einen dünnen Gummihandschuh über, tauchte seinen Zeigefinger in einen Bottich mit Gleitmittel und steckte ihn bis zum Anschlag in Gustavs Hintern. Mit einem kräftigen „
Flutsch
“ fühlte sich Gustav irgendwie in seinem inneren Zentrum gestört und schrie entsetzt auf.
„Ganz locker! Bin schon fertig!“, erwiderte der nette Urologe.
„Aber doch nicht von hinten und ohne Ankündigung!“, wimmerte Gustav.
„Brauchen Sie dafür etwa ein Vorspiel?“
Gustav zog schnell seine Hose wieder hoch und war beschämt. Der nette Urologe schmunzelte und verkündete freundlich, dass die Prostata in Ordnung sei und Gustav sollte regelmäßig in seine Sprechstunde kommen.
„Immerhin sind Sie in einem gewissen Alter.“, erklärte der Doktor routiniert. Schweigsam verließ Gustav die Praxis des netten Urologen. Sein Hintern fühlte sich ziemlich entweiht an und beim Laufen flutschte es noch etwas, weil noch eine Menge Gleitmittel zwischen den Pobacken und im Anus haftete.
Seit diesem Erlebnis wollte Gustav nie wieder einen Arzt aufsuchen und dabei blieb er. Außerdem war er nicht krank und Ramona machte auch einen überaus gesunden Eindruck.
„Morgen sind wir klüger!“, beendete Gustav die abenteuerlichen Überlegungen.
Erschöpft und ziemlich hungrig gingen sie ins Bistro auf der gegenüberliegenden Seite des Hotels. Ramona verputzte einen riesigen Meeresfrüchtesalat, um sich anschließend auf ein saftiges Steak zu stürzen. Gustav bestellte zusätzlich Knoblauchkartoffeln, einen Teller Schafskäse mit Oliven und Tintenfisch. Beim Rotwein hielten sich beide nicht zurück und schnell wurden sie wieder heiter im Gemüt.