Dialektik des geisteswissenschaftlichen Universums

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Manchmal müssen wir unser Verhalten ändern: „Es ist äußere Wachsamkeit und Aufmerksamkeit, die es uns ermöglicht, unser Verhalten zu ändern“ (K. Rinpoche). Und: „Menschliches Verhalten ist in der Regel ein gutes Erkennungszeichen.“* Aber: „Man kann es nicht allen Leuten recht machen“ (J. de la Fontaine). Wer beispielsweise mit seinem Finger argwöhnisch auf einen anderen Menschen zeigt, sollte er folgendes nicht ignorieren: „Der Fingerzeig ist eine Stichwaffe“ (A.M. Meneghin). Auch: „Wer mit dem Zeigefinger auf andere Leute zeigt, der zeigt mit drei Fingern auf sich selbst“ (G. Heinemann). Abschließend: „Mit voreiligen Beschuldigungen sollten wir sowieso vorsichtig sein.“* „Achtsam müssen wird dann sein, wenn man uns hereinlegen will. Unser Verhalten sollte nicht aus dem Misstrauen heraus erfolgen, aber auch nicht aus Blauäugigkeit.“*
„Gegen Schurken ist Schurkerei keine unbrauchbare Waffe“
(Epicharmos)
„Jedes Verhalten wird allein durch die Absicht gut oder böse“ (G. Beck). Und wir sollten niemals vergessen: „Alles, was wir tun, hat eine Folge“ (J.P. Eckermann): „Das Böse bringt negatives Verhalten und das Gute positives Verhalten mit sich. Anstrebenswert ist, dass man nach dem Guten bzw. nach Zufriedenheit strebt, geradlinig handelt und auch im Erfolg immer auf dem Boden bleibt.“*
2.7.1 Aggression
Eine Aggression ist ein affektbedingtes Angriffsverhalten des Menschen gegen Mitmenschen, Tiere, Organismen oder Gegenstände. Sie geschieht in vielen Fällen in der Absicht, anderen Menschen zu schaden, z. B. als verbale Diffamierung, Ausgrenzung oder als tätlicher Angriff, z. B. in Form von Gewalt. Sie dient der Durchsetzung eigener Interessen, z. B. im Alltag, aber auch sehr häufig im Sport. Beispielsweise im heutigen Spitzenfußball werden Aggressionen zum Teil in nicht mehr vertretbarer Weise ausgelebt, wie die langen Verletztenlisten belegen. Dagegen tut aber niemand etwas, vor allem nicht die Schiedsrichter. Hauptmotivation für die Aggressionen manchen Spieler ist wohl das viele Geld, das im Spitzenfußball verdient wird.
Aggression hat viele Ursachen. Sie kann auch eine Reaktion auf die Bedrohung der eigenen Machtsphäre sein. Zum Teil ist sie auf Frustrationen oder auch auf milieubedingte Verhaltensprägungen zurückzuführen, z. B. auch auf Alkoholeinfluss. Bei Tieren ist die Angriffsbereitschaft gegen Rivalen weit verbreitet, z. B. im direkten Wettbewerb um Ressourcen, um Nahrungsaufnahme oder wenn es um die Fortpflanzung geht. Aggressionen können auch mit Angriffshandlungen eines Staates gegen einen andern Staat verbunden sein. Die Bewertung von Aggression ist heute sehr unterschiedlich, zum Teil sogar ärgerlich.
► Nach Meinung des dänischen Therapeuten Juul kann Aggression nach durchaus konstruktiv sein:214Aggressionen bei Kindern sind normal. Seine Meinung: „Kinder sind, Opfer’! Eltern als, Rabauken’!“ Die Wut des Kindes ist zu respektieren. Aggressionen bei Kindern dürfen nicht unterdrückt werden! Unterdrückte Wut macht krank!“ Und er geht noch weiter: „Die Gewalt der Freundlichkeit kann mehr Schaden anrichten als ein Wutausbruch“ (J. Juul).
Der deutsche Aphoristiker P. Rudi sagt es vorsichtiger: „Leidenschaft ist der besser Teil der Aggression und mitunter ihre „bessere Hälfte.“ Wir müssen uns manchmal nicht wundern: „Wo keine Gerechtigkeit herrscht, da entsteht mit der Zeit Aggression“ (O. Demir). Denn: „Wenn wir Angst haben, werden wir gewalttätig“ (J. Krishnamurti).
► Mit der obigen Argumentation von Juul bin ich zum großen Teil nicht einverstanden. Eltern als Rabauken zu bezeichnen ist eine Unverschämtheit. Viele Kinder werden aber falsch erzogen, weil die Eltern zu viel durchgehen lassen und in ihrer Erziehung nicht konsequent sind. Ich fordere seit Jahren, dass wir für eine bessere und konsequentere Erziehung kämpfen müssen.215 Denn viele Eltern wissen nicht mehr, was es heißt, Eltern zu sein.216 Nicht die totale Selbstverwirklichung und das Ausleben der Kinder kann das Ziel sein, sondern konsequente Erziehung zu Nächstenliebe, Fleiß und Disziplin. Konservative Werte werden heute zum Teil mit Füßen getreten. Statt Pflichterfüllung werden nur die Rechte wahrgenommen. Wir müssen uns also nicht wundern, wenn sich aus unseren Kindern zum Teil kleine Tyrannen herausbilden.217
Auch für Erwachsene gilt: „Aggressives Verhalten macht Menschen krank und ist nicht zu tolerieren, sondern zu bekämpfen!“* Frechheiten, Rotznasigkeiten und Respektlosigkeiten müssen nicht sein: „Respektlosigkeit ist der erste Schritt in Richtung Revolte“ (F.F. Kovacs). Und: „Aggressive Worte tun anderen Menschen weh und verletzten sie“ (K. Rinpoche). „Aggressive Menschen befinden sich vor allem im Krieg mit sich selbst“ (R. Schützbach). Deshalb brauchen sie gute psychologische Betreuung. Überraschend ist die Spannbreite der Aggression bei P. Rudi: „Aggression ist eine beunruhigende Dimension, die vom skrupellosen Massenmord bis zuweilen gutem Sex reicht.“ Zum Schluss: „Jede Aggression sucht sich zu rechtfertigen. Angefangen hat doch immer der andere“ (F. Hacker).
► Was lernen wir daraus? Bevor wir über Menschen negativ urteilen, sollten wir immer prüfen, warum jemand aggressiv ist. So sieht es auch Autor Juul. Außerdem sollten wir genauer zwischen Aggressionen bei Kindern bzw. Pubertierenden und bei Erwachsenen unterscheiden. Aggressionen sind bei Kindern nicht zu verhindern, z. B. toben, spucken, kratzen, beißen und schlagen. „Wer Kindern aber locker zugesteht, ihre Wut massiv an Anderen auszulassen, lässt den Ungehorsam galoppieren.“* Hier muss gegengesteuert werden: Zuerst sollte man das Kind beruhigen und dem Kind pädagogisch verdeutlichen, dass klare Grenzen zu beachten sind. „Wer sich als Kind voll ausleben kann und die Beherrschung nicht rechtzeitig lernt, wird später bei der Eingliederung in die Erwachsenenwelt und den Arbeitsprozess große Probleme bekommen.“* „Die Erziehungskatastrophe trifft dann aber keinen der Erzieher, sondern die ehemaligen Kinder.“*
Weil es im Spitzenfußball zu viele Fouls gibt, sagte der geachtete Weltmeister Paul Breitner218: „Ich behaupte, wir müssen den Jugendlichen lehren, foul zu spielen.“ Das unterstütze ich überhaupt nicht. „Gute Erziehung ist wichtiger als ein Fußballspiel zu gewinnen.“* Hier beziehe ich mich gern auf das Vorbild M. Ghandi, der sagte: „Ich glaube an die Gewaltlosigkeit als einziges Heilmittel.“ Es gibt nämlich keine „sinnvolle“ Aggression. Auch dem Ausleben von Aggressionen bei Erwachsenen sollte man entgegentreten. „Wer Aggression toleriert oder gar sät, wird weitere Aggression ernten.“* Im Umgang mit aggressiven Menschen heißt es Ruhe bewahren und sich nicht provozieren lassen. Dabei Aggressivität nicht ignorieren, sondern die weiteren Folgen dieses Verhaltens aufzeigen. Die Erklärung für Aggressionen liegt in den Wurzeln: „Es ist ein Unterschied, ob man von Kindheit an lernt, die Hände zu falten oder sie zur Faust zu ballen“ (H. Walters). Der griechische Philosoph Platon sagte treffend: „Wenn die Guten nicht kämpfen, werden die Schlechten siegen.“ Also kämpfen wir weiter für das Gute.
2.7.2 Vorsicht
Vorsichtiges Verhalten basiert auf der menschlichen Fähigkeit, die Folgen seiner Aktion oder seiner Aussage zu bedenken, z. B. bei Geldgeschäften, im Straßenverkehr, an einer Bahnsteigkante, an einem Abgrund, beim Umgang mit Glas oder bei frisch gestrichenen Gegenständen. Vorsichtiges Verhalten ist mit Besonnenheit und Behutsamkeit verbunden. Mangelnde Vorsicht kann zu Leichtsinn werden. Das ist dann gegeben, wenn sich Menschen unvorsichtig verhalten. Übertriebene Vorsicht kann zu Ängstlichkeit, Unentschlossenheit und zu Wankelmut führen. Aber: „Die Gefahr lässt sich nicht auslernen“ (J.W. von Goethe). Auch die Vorsicht hat zwei ganz verschiedene Seiten.
► Thesen: Wer Menschen sollten uns im Leben grundsätzlich besonnen verhalten, denn: „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste“ (Sprichwort). Wenn schwierige Situationen zu bewältigen sind, dann gilt: „Schwierigkeiten heilt man nicht mit Gewalt und Kalamitäten, nicht mit Beschlüssen, sondern mit Klugheit und Vorsicht (C. Spitteler). Und: „Gut ist Bedachtsamkeit und weise die Vorsicht (Krösus). „Wer eine Sache mit Abstand betrachtet, kommt ihr häufig näher“ (H. Fleitmann). Dazu passt folgender Reim: „Stets äußert sich der Weise leise, vorsichtig und bedingungsweise“ (W. Busch). Auch im Krieg wird die Tapferkeit nicht immer belohnt: „Der bessere Teil der Tapferkeit ist Vorsicht“ (W. Shakespeare). Weitere Stellungnahmen zum Thema Vorsicht:
▪ „Tanze nicht, wenn du einen Korb mit Eiern trägst“ (Sprichwort).
▪ „Wenn der Affe zuschaut, pflanze ich keine Erdnüsse“ (aus Afrika).
▪ „Rede nicht in den Wind, wenn du dessen Richtung nicht kennst“ (W. Brudzinsky).
▪ „Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen“ (Sprichwort).
▪ „Wenn alles still ist, geschieht am meisten“ (S. Kierkegaard).
▪ „Vorsicht ist die preiswerteste Lebensversicherung“ (E.H. Bellermann).
▪ „Alte Fische schnuppern mehr als einmal am Haken, bevor sie ihn schlucken“ (aus Schweden).
▪ „Scherben soll man noch am Abend wegräumen, damit man sich am Morgen nicht mehr daran schneiden kann“ (unbekannt).
▪ „Die Vorsicht stellt der List sich klug entgegen“ (J.W. von Goethe).
▪ „Vorsicht ist eine Bürgermeistertugend“ (unbekannt).
▪ „Schweigen ist der beste Ausweg für den, der seiner Sache nicht sicher ist“ (F. de La Rochefoucauld).
► Antithesen: Allzu große Vorsicht kann im Leben falsch sein: „Wenn Gefahr im Verzug ist, dann muss schnell gehandelt werden“ (Praxisweisheit). Beispielsweise dann, wenn es heftig zu brennen beginnt oder wenn große Bäume morsch sind und umzufallen drohen. Der englische Sprachforscher S. Johnson meint darüber hinaus: „Vorsicht ist die Einstellung, die das Leben sicherer macht, aber selten glücklich.“ Manchmal muss man eben etwas riskieren, wenn man etwas erreichen möchte. Zum Nachdenken: „Vorsicht und Misstrauen sind gute Dinge, nur sind auch ihnen gegenüber Vorsicht und Misstrauen nötig“ (Ch. Morgenstern). Oscar Wilde ist kein Freund allzu großer Vorsicht: „Vorsicht ist das, was man bei anderen Feigheit nennt.“ Zum Schluss zum Nachdenken: „Die Wesensart des Menschen beeinflusst die Beurteilung eines Phänomens beträchtlich.“*
► Synthese: „Im Urteilen bzw. Verhalten und auch sonst im Leben ist immer wieder eine gewisse Vorsicht angebracht.“* Denn: „Selbst Blindgänger können einschlagen wie eine Bombe“ (W. Mocker). „Aber wir sollten es mit der Vorsicht auch nicht übertreiben, denn Ängstlichkeit und Unentschlossenheit können ein schlechter Ratgeber sein, z. B. wenn Gefahr im Verzuge besteht.“* Andererseits soll man sich nicht unnötig in Gefahr begeben: „Wo du keinen Grund erkennst, sollst du nicht durch Wasser laufen wollen“ (aus Russland). Und es gilt: „Irrtümer müssen nicht automatisch zu Katastrophen werden, man muss sie nur rechtzeitig erkennen“ (unbekannt). Dennoch ist man nie vor Überraschungen sicher:
„Glaube dich nicht allzu gut gebettet; ein gewarnter Mann ist halb gerettet“
(Johann Wolfgang von Goethe)
Zum Thema Vorsicht gibt es weitere interessante Stellungnahmen: „Wer zu kurz kommt, ist vermutlich zu weit gegangen“ (W. Mocker). Hier stellt sich die Frage: „Wenn wir immer nur vorsichtig sind, sind wir dann noch Menschen?“ (A. Solchenizyn). Dazu der Rat: „Urteile von einem Menschen lieber von seinem Handeln, als nach seinen Worten, denn viele handeln schlecht und sprechen vortrefflich“ (M. Claudius). Aber: „Vorsicht mit Rücksicht auf Leute, die keine Nachsicht mit einem haben“ (G. Uhlenbruck). Und: „Solange du lebst, hüte dich davor, einen Menschen nach seinem Aussehen zu beurteilen“ (J. de la Fontaine). Also sollten wir immer auf der Hut sein: „Weil das Los des Menschen niemals sicher, lasst uns bedacht sein auf den schlimmsten Fall“ (W. Shakespeare).
2.7.3 Anstand
Anstand ist das durch Konvention geregelte Verhalten eines Menschen, das sich z. B. im guten Benehmen in der Gesellschaft zeigt. Der Zweck dieser Konvention besteht darin, den richtigen Umgang miteinander durch Zügelung der individuellen Willkür und durch grundlegende Wertvorstellungen zu vermitteln. Der anständige Mensch respektiert die Persönlichkeit des Anderen und achtet darauf, dass dieser nicht bloßgestellt, gedemütigt oder benachteiligt wird. Die Basis des Anstands bildet nach A. von Knigge die Einhaltung gewisser Regeln. Gute Umgangsformen sollten vor allem durch das Elternhaus verbreitet werden.219 Manche Menschen nehmen diese Regeln allerdings überhaupt nicht ernst. „Im Extrem sind die einen hemdsärmelig frech und die anderen neigen zur Vornehmheit.“* „Vornehmheit und Herzensgüte sind nicht alles, aber sie sind sehr viel“ (T. Fontane). Auch der Anstand wird sehr unterschiedlich beurteilt.
► Pro: Der französische Philosoph Honoré de Balzac hat es klug ausgedrückt: „Feinster Anstand und wahrhaft gute Manieren kommen von Herzen und von einem ausgeprägten Gefühl persönlichen Wertes.“ Ähnlich sagt es P. Schibler: „Anstand ist Respekt vor der Würde des anderen.“ Auch der Umgang mit Unterstellten zeigt uns: „Je vornehmer einer ist, desto höflicher behandelt er den Niedrigen“ (L. Börne). Weitere Aussagen zum Anstand sind:
▪ „Was das Gesetz nicht verbietet, verbietet der Anstand“ (Seneca).
▪ „Der Anständige vereinigt das sittlich Schöne mit dem Sittlichen“ (C. Garve).
▪ „Je mehr ein Mensch sich schämt, desto anständiger ist er“ (B. Shaw).
▪ „Echter Anstand mündet in Vertrauen.“*
▪ „Anstand kokettiert zuweilen mit Abstand.“*
▪ „Das Betragen ist ein Spiegel, in dem jeder sein Bild zeigt“ (J.W. von Goethe).
▪ „Gute Manieren bestehen aus lauter kleinen Opfern“ (R.W. Emerson).
„Die Pflege des Anstands ist für jede gute Gesellschaft unentbehrlich. Anstand vereinfacht das Zusammenleben der Menschen.“* Die Regeln des Anstands kann jeder lernen, z. B. Höflichkeit, gutes Benehmen, sich entschuldigen und Grüßen auf der Straße. Der anständige Mensch war der Idealfall des Weltbilds der Aufklärung. Der Anstand ist auch ein zentrales Anliegen der Moraltheologie und der Moralphilosophie.
► Contra: Leider hat der Anstand heute keinen so hohen Stellenwert, wie es früher war: „Heute muss man annehmen, dass Menschen den Anstand für etwas halten, bei dem es nicht auf das Benehmen ankommt, sondern auf den Ansitz des Jägers beim Schießen.“* Schlechte Manieren sind sehr weit verbreitet: „Umgangsformen sind Formen, die zunehmend umgangen werden“ (O. Hassenkamp). Leider gilt heute: „Auch Anstand kann man verlernen.“ (Sprichwort). Peter Ustinov argumentiert in eine andere Richtung: „Liebe ist keine Entschuldigung für schlechte Manieren.“ „Wer anständig ist, drängt sich nicht vor und handelt sich dadurch mitunter Nachteile ein.“* Und: „Anstand stellt sich hinten an und kriegt nichts ab“ (M. Hinrich). Außerdem:
▪ „Wer an Wissen zunimmt, und an Anstand abnimmt, nimmt mehr ab als zu“ (Sprichwort).
▪ „Wer nur aus Berechnung anständig ist, der ist ein Tor!“*
▪ „Nicht jeder Vorstand hat Anstand“ (unbekannt).
▪ „Manche verstehen unter Verschwiegenheit, dass sie die ihnen anvertrauten Geheimnisse nur hinter vorgehaltener Hand weitererzählen“ (M. Aurel).
Hat man Menschenmassen im Blickfeld, dann hat sich oft bewahrheitet: „Menschen in Massen verlieren ihren Sinn für Anstand“ (J. Galsworthy). Mitunter wird der Anstand in totalitären Staaten (z. B. Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus) als nicht so bedeutend bewertet und leider als „großtuerisch“ abgewertet. Im Rahmen der Russischen Revolution in 1917 wurde die Etikette als überholt angesehen, äußerliches Gepflegtsein galt als übertrieben und peinliche Hemdsärmlichkeit machte sich breit. „Politische Verlogenheit, Fremdenhass und mangelnde Barmherzigkeit sind mit Anstand nicht vereinbar.“*
► Conclusio: „Wesentliche Merkmale des Anstands sind gutes Betragen, Respekt, Höflichkeit, Takt, Umgangsformen, gute Manieren und Achtsamkeit gegenüber anderen. Hochmut, Selbstüberschätzung, Frechheiten bzw. Egozentrismus haben hier keinen Platz.“* Aber man stellt auch fest: „Natürliche Dinge sind nicht unanständig“ (Vergil). „Anständigen im wahren Sinne begegnet man nur unter Menschen, die feste Überzeugungen haben“ (A. Tschechow). Die eindeutige Beurteilung des Anstands ist nicht einfach:
„Es ist schwierig zu beurteilen, ob ein aufrichtiges und ehrliches Benehmen das Ergebnis der Anständigkeit oder der Berechnung ist“
(Francois de la Rochefoucauld)
Unter Anstandsliteratur werden Werke bezeichnet, die sich mit den gesellschaftlichen Umgangsformen beschäftigen, z. B. das heute noch verfügbare Buch von Freiherr A. von Knigge mit dem Titel „Über den Umgang mit Menschen“.220 „Der Lebenskampf gibt der hohen Schule des Anstands seine Bewährungschance“ (H. Arndt). Dabei ist Missbrauch nicht ausgeschlossen: „Ein schlechter Mensch ist nicht immer an seinen Sitten zu erkennen“ (aus China). Das respektvolle Miteinander der Menschen zeigt sich in folgender „goldener Regel“: „Rechte und Freiheiten eines jeden Menschen finden ihre Grenze in den Rechten und Freiheiten des anderen.“221 Zum Schluss ein klares Plädoyer für den Anstand: „Takt und Benehmen sind auch in unserer heutigen Gesellschaft unverzichtbar.“222
2.7.4 Entschuldigung
Die Entschuldigung ist eine Bitte um Verzeihung, z. B. nach einer nicht beabsichtigten, beleidigenden Äußerung. Mit ihr zeigt ein Mensch ein Verhalten, dass eine bestimmte Tat bedauert, die seinerseits eine moralische Verfehlung war. Der Betroffene kann die Entschuldigung annehmen oder ablehnen. Bei einer Annahme der Entschuldigung ist es üblich, diese durch Worte oder Gesten dem Gegenüber mitzuteilen, z. B. durch einen Händedruck. Damit sollte die Angelegenheit als erledigt betrachtet werden. Allerdings wissen wir: „Abbitte leisten ist ein Kraftakt, den nicht jeder schafft“ (M. Hinrich).
Folgendes Beispiel einer Entschuldigung ist nicht ganz ernst zu nehmen. In Grünstadt/Pfalz ist eine Maus in ein großes Weinfass voller Rotwein gefallen. Sie ruft voller Angst: „Holt mich raus! Holt mich raus!“ Eine Katze kommt neugierig gelaufen, freut sich schon über den Leckerbissen und sagt: „Ich hole dich raus, aber nur unter der Bedingung, dass ich dich dann auch fressen darf!“ Maus: „Ja! Ja! hol mich raus, ich ertrinke …!“ Die Katze greift mit ihrer Pfote nach der Maus – und weil diese schlüpfrig war – sprang sie hinweg, war in ihrem Mauseloch verschwunden und schaute dort keck heraus. Die Katze schreit: „Komm sofort heraus, du hast gesagt, ich darf dich fressen!“ Maus: „… Tschuldigung! Im Suff verspricht man viel!“
Aber nun wieder zur Realität: Im täglichen Leben gilt es als Zeichen der Höflichkeit und als Anstand, auch dann um Entschuldigung zu bitten, wenn kein eigenes Verschulden vorliegt, z. B. bei einer witterungsbedingten Verspätung. In anderem Sinne gibt es die Entschuldigung beispielsweise als schriftliche oder mündliche Mitteilung über das Fehlen in der Schule. Was spricht für und was gegen die Entschuldigung?
► Wer eine moralische Verfehlung begangen hat, die er so nicht wollte, muss sich dafür entschuldigen. Das erfordert der Anstand. Es gibt viele gute Gründe, sich zu entschuldigen.223 Die Entschuldigung sollte möglichst bald nach dem Vorgang geschehen: „Entschuldigung duldet keinen Aufschub, sonst wird – schneller als uns lieb ist – unlösbare Endschuld daraus“ (Ch. Matthes). Also sind Fehler zu korrigieren: „Wer einen Fehler gemacht hat und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten“ (Konfuzius). Mit konsequentem Handeln nehmen wir Belastungen von uns: „Wer sich für einen schlimmen Fehler persönlich entschuldigt, entlastet seine Seele.“* Die Gründe für Entschuldigungen können vielfach sein: „Wer die Menschen kennen lernen will, der studiere ihre Entschuldigungsgründe“ (C.F. Hebbel).
► Wenn wir uns entschuldigen, dann sollten wir dabei bedenken: „Wer sich entschuldigt, klagt sich an“ (Hieronymus). Deshalb: „Wer sich entschuldigt, klagt sich an, dachte er sich entschuldigend“ (E. Baschnonga). Und: „Jede Rechtfertigung ist ein Indiz für Schuld und Schwäche“ (P. Rudi). Wir müssen u. U. damit rechnen, dass uns auf dieser Basis jemand niedermachen kann: „Jede Rechtfertigung gibt anderen das Recht, einen fertig zu machen“ (E. Lauscher). Auch: „Man fällt nicht über seine Fehler. Man fällt immer über seine Feinde, die diese Fehler ausnutzen“ (K. Tucholsky). Außerdem kommen wir damit nie rechtzeitig: „Eine Entschuldigung ist eine Höflichkeit, die immer zu spät kommt“ (unbekannt). Weitere Aussagen kommen hinzu, denn Entschuldigungen haben viele Seiten:
▪ „Sich zu entschuldigen ist die beste Grundlage für die nächste Beleidigung“ (A.G. Bierce).
▪ „Manchmal ist eine Entschuldigung noch eine größere Ungezogenheit“ (S. Johnson).
▪ „Wer eine Entschuldigung verlangt, hat eine neue Beleidigung verdient“ (E. Blanck).
Allerdings: „Manche nehmen unsere Entschuldigung nicht an und dann sieht man erst recht alt aus!“* Ist es dann grundsätzlich besser, sich gar nicht zu entschuldigen?
► Welches Verhalten ist richtig? Wenn ein Mensch eine Entschuldigung nicht annimmt, dann ist das niederträchtig: „Der gemeinste Mensch ist, wer keine Entschuldigung annimmt, keine Sünde deckt und keinen Fehler vergibt“ (aus Arabien). Fehler sind menschlich: „Jeder von uns macht Fehler.“* Dann sollte man zu seiner Schuld stehen und der Partner sollte uns vergeben.224 Manchmal fällt eine Entschuldigung schwer, wenn diese vom Partner als Zeichen von Schwäche empfunden wird.
„Zuweilen ist die persönliche Entschuldigung schlimmer als die Schuld selbst“
(Horst-Joachim Rahn)
In jedem Falle zeugt die Entschuldigung eines Menschen von dessen charakterlicher Stärke. Es ist besser, das Geschehene hinter sich zu bringen, als es weiterhin belastend mit sich zu tragen. Hat man einen Fehler begangen, sollte man umgehend auf die betroffene Person zugehen und sich dafür in einem persönlichen Gespräch entschuldigen. Dabei soll man aber den begangenen Fehler nicht herunter spielen, denn dann kann man den anderen erst recht verletzen. Das gilt es zu vermeiden, indem man bei seinem Verhalten die Erfolgsfaktoren für eine richtige Entschuldigung berücksichtigt.225
Auch in der hohen Politik werden Fehler gemacht. Wenn eine verbündete Nation eine andere gnadenlos ausspäht, dann sind die Folgen für alle Betroffenen fatal. Der amerikanische Präsident B. Obama sagte, als er um eine Entschuldigung für das Ausspähen anderer Staaten gebeten wurde: „Wir werden uns nicht entschuldigen, wenn wir erfolgreich abhören.“ Das ist falsch. „Am besten ist es immer, wenn man sich so verhält, dass man sich später nicht entschuldigen muss.“*
2.7.5 Freundlichkeit
Freundlichkeit ist das liebenswürdige und entgegenkommende Verhalten eines Menschen, das mit einer wohlwollenden Geneigtheit gegenüber seinem sozialen Umfeld zugunsten eines kooperativen Miteinanders und mit sozialer Kompetenz verbunden ist. „Meine Philosophie ist Freundlichkeit“ sagt der Dalai Lama. Dafür ist er auch bekannt. „Der freundliche Mensch bringt seinem Gegenüber Interesse bzw. Sympathie entgegen, nimmt Rücksicht auf andere und versucht sich so zu benehmen, dass niemand Anstoß an ihm nimmt“ (Aristoteles). Auch die christliche Theologie geht von einem freundlichen Umgang miteinander aus (Kolosser 3, 12). Es gibt eine echte, leider aber auch die falsche Freundlichkeit. „Eine Steigerung der echten Freundlichkeit besteht in der Herzlichkeit.“* Das Gegenteil von Freundlichkeit ist die Unfreundlichkeit.





