- -
- 100%
- +
Während des Ersten Weltkriegs radikalisierte nun dieser bürgerliche Netzwerkknoten den bereits vor 1914 vorhandenen aggressiven Deutschnationalismus und völkischen Antisemitismus: Die Suche nach einem starken Mann, der Deutschland, aber auch Europa, aus der Krise und Bedeutungslosigkeit führen könnte, trat in den Vordergrund. Dadurch sollte auch die Frage nach der Moderne endgültig geklärt und entschieden werden. So war es kein Zufall, dass Hugo Bruckmann ein früher Verehrer des italienischen faschistischen Diktators Benito Mussolini war – wie übrigens kurze Zeit auch Hugo von Hofmansthal. Dieser entwickelte letztlich seine eigene autoritäre Ideenwelt mit dem Modell einer »konservativen Revolution«, die er bei einem Vortrag in München 1927 vorstellte.
In der großzügigen Wohnung der Bruckmanns am Karolinenplatz 5 stellte Elsa Bruckmann am 23. Dezember 1924 den erst zwei Tage vorher aus der Festungshaft entlassenen gescheiterten Putschisten Adolf Hitler erstmals ihren Gästen aus der bürgerlichen Gesellschaft Münchens vor. Begeistert erinnerte sich später die Verlegergattin: »Nun trat mir – in der bayerischen kurzen Wichs und gelbem Leinenjöpperl – Adolf Hitler entgegen: einfach, natürlich und ritterlich und hellen Auges!«126
In diesem kulturellen Umfeld – Elsa und Hugo Bruckmann hatten inzwischen die Vorzeige-NSDAP-Mitgliedsnummern 91 und 92 erhalten – schaffte es Baldur von Schirach, seine persönliche Nähe nicht nur zu Adolf Hitler zu vertiefen. Später zog er aus seiner Studentenwohnung in der Franz-Josef-Straße in Schwabing in eine komfortablere Wohnung bei den Bruckmanns in der Leopoldstraße 10 um, die ihren Salon Anfang 1931 vom Karolinenplatz hierher verlegt hatten. Im dritten Stock des großzügigen Gründerzeitbaus gelegen, bot sich von seinem neuen Zuhause der Blick auf das Münchner Siegestor.
Die Bruckmanns kannten Baldur von Schirachs Onkel, Friedrich Wilhelm von Schirach, Rittmeister a. D., der nach dem gescheiterten Putschversuch von Hitler und Ludendorff beim Prozess aussagen musste. Als Bezirksführer bei den Vaterländischen Verbänden Münchens hatte er Informationen über den geplanten Marsch auf Berlin des Reichsstaatskommissars Gustav von Kahr sowie zur Verhaftung von General Ludendorff.127 Friedrich Wilhelm von Schirach, der noch im selben Jahr des Prozesses 1924 starb, war in München ein Begriff – auch als Komponist.
Ein zufälliges Zusammentreffen mit Hitler Mitte November 1927 – an den Hochschulen stand die Wahl der »Allgemeinen Studentenausschüsse« bevor – wurde zum Auslöser für die Karriere Schirachs als Studentenvertreter: Nach einigem Hin und Her ließ sich der »Führer«, der seinen jungen Adepten zu einem Gespräch mit in die Wohnung in der Thierschstraße 41 genommen hatte, zu einem Auftritt vor Studenten im Festsaal des Hofbräuhauses überreden – er würde aber nur kommen, so die Bedingung, wenn der Saal »gut gefüllt« wäre. Schirach hielt Wort: Am 21. November 1927 war der Saal »so überfüllt, daß die Studenten auf den Kachelöfen hockten«.128 Hitler musste sein Versprechen einlösen und sprach zum Thema »Der Weg zu Freiheit und Brot«, der Auftritt wurde zu einem triumphalen Erfolg, und Schirach hatte von nun an bei Hitler einen Stein im Brett: Er war der Mann, der ihm die Studenten gebracht hatte. 1930 konnte Hitler, der anfangs bezüglich der Studenten so skeptisch gewesen war, in der NS-Wochenzeitung Die Bewegung schreiben: »Nichts gibt mir mehr Glauben an den Sieg unserer Idee als die Erfolge des Nationalsozialismus auf der Hochschule.«129
Im Februar 1928 wurde Baldur von Schirach Hochschulgruppenführer des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB) in München und leitete daneben auch noch einen SA-Trupp. Ab Juli 1929 übernahm er die Führung des NSDStB. Er gründete überdies 1929 den Akademischen Beobachter, eine Zeitschrift, die im Dezember 1929 eingestellt und durch die Wochenschrift Die Bewegung ersetzt wurde, die ebenfalls nicht lange existierte (bis Mai 1931).130
Hinter diesen nüchternen Daten zur erfolgreichen Parteikarriere verbergen sich heftige Auseinandersetzungen zwischen Wilhelm Tempel (1905–1983), dem Mitbegründer des NSDStB 1926, der die Reichsleitung übernommen hatte, und Schirach, der, wie erwähnt, die Münchner NSDStB-Hochschulgemeinde (HGM) leitete, die in der kurzen Zeit seit der Gründung bereits drei »HGM-Führer« verbraucht hatte.131 Während der Jurastudent Tempel und seine Gruppe eher auf Aktivismus setzten und sich als »Jugend- und Wehrbewegung« verstanden, die aber abseits von einigen Großversammlungen nicht wirksam wurde, wollte Schirach die kaum sichtbare HGM zu einem »geistigen Mittelpunkt im akademischen Leben Münchens« machen. So ließ er neue Klubräume mit einem Empfangsraum, einer Bibliothek, einem Schlafzimmer für sich selbst, Wohnräume für drei weitere HGM-Funktionäre und einem »Damenzimmer« einrichten.132 Dahinter steckte aber ein massiver strategischer Konflikt, denn Schirach wollte – ähnlich wie die Parteispitze – die NSDAP öffnen und durchaus bürgerliche Kreise ansprechen. Die Gruppe um Tempel hingegen zielte eher auf proletarische bzw. kleinbürgerliche und ökonomisch nicht so erfolgreiche Schichten.
Dazu gehörte unter anderem auch die zeitgleich im Mai 1928 erfolgte Gründung des »Kampfbundes für deutsche Kultur«, dem auch Schirachs Vater und die Bruckmanns als Proponenten angehörten. Tempel versuchte Schirach loszuwerden und enthob ihn seines Amtes. Längst hatte dieser aber nicht nur die Unterstützung Hitlers, sondern auch jene von Alfred Rosenberg und Joseph Goebbels und ließ sich im Juli 1928 zum neuen Reichsführer des NSDStB wählen.133 Da die Fraktionen in sich total zersplittert waren, entschied Schirach die Wahl mit sechs von 17 Stimmen nur knapp für sich, vier Delegierte votierten für den Dresdner Hochschulgruppenführer Herbert Knabe. Hitler hatte angeblich bei dieser Wahl den Kieler Vertreter Dr. Joachim Haupt forciert und Schirach nur als Stellvertreter gesehen, doch Haupt bekam nur drei Stimmen.134 Tempel selbst hatte zu sehr die Positionen des linken Otto-Strasser-Flügels vertreten, die der Münchner Parteizentrale, aber auch Goebbels in Berlin ein Dorn im Auge waren. Das eigentliche Ziel Hitlers zu diesem Zeitpunkt war bereits die Machtergreifung auf möglichst breiter sozialer Basis und unter Einschluss bürgerlicher Kreise.
Neben der Hinwendung der Studentenbewegung zu konservativ-bürgerlichen Schichten versuchte Schirach, der selbst keiner schlagenden Studentenverbindung (Korporation) angehörte, den NSDStB in Richtung traditioneller Korporationen zu öffnen.
Trotz des sehr glücklichen und knappen Erfolges in der Wahl zum Studentenführer nahm Schirach 1928 eine kurze Auszeit von der Politik, um mit seiner Mutter in die USA zu reisen und sie bei Verwandtenbesuchen in Philadelphia und New York zu begleiten. Dort erhielt er sogar von seinem Onkel Alfred E. Norris ein Angebot, in dessen Bank in Manhattan einzusteigen.135 Schirach hatte jedoch längst Gefallen an der Politik gefunden und war trotz des schwachen Wahlergebnisses der NSDAP bei der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 – die NSDAP erreichte nur 2,6 Prozent und zwölf Mandate – nach wie vor ein Anhänger Adolf Hitlers.
Insgesamt gesehen agierte der NSDStB unter Schirachs Führung als Mitgliederorganisation vorerst nicht besonders erfolgreich: 1933 waren nur 4,8 Prozent der Studenten beim Bund organisiert.136 Bei einigen Wahlen konnte der NSDSTB aber durchaus größere Stimmenzuwächse verzeichnen – etwa an den Universitäten in Greifswald und Erlangen im Wintersemester 1929/30 mit mehr als 50 Prozent, in Kiel erlangte der NSDStB beachtliche 33 Prozent.137
Doch Schirach war, das sollte sich bald zeigen, an klassischer Hochschulpolitik nicht wirklich interessiert, sondern versuchte, die Studenten als Wählergruppe insgesamt für die NSDAP zu erobern. So organisierte er eine Großveranstaltung, um Adolf Hitler in das akademische Milieu einzuführen. Inzwischen hatte er auch selbst schon einige Erfahrung als Redner gesammelt und inszenierte sich durchaus bereits als »Diva«: So gab es bei manchen Veranstaltungen sogenannte »Bedingungen für Schirach-Versammlungen«: »Es ist dafür zu sorgen, daß Pg. von Schirach nach der Rede nicht von jedem Pg., der hierzu Lust verspürt, befragt werden kann […] Pg. von Schirach ist stets in einem Hotel unterzubringen. Unterkunft im Privatquartier bedarf ausdrücklicher vorheriger Zustimmung.«138
Trotz der ideologischen Nähe blieben viele »Alte Herren« in den Korporationen, die den politischen Parteien im Allgemeinen grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden, auf Distanz zur NSDAP-Führung. Auch mit Schirach gab es immer wieder Konflikte, da er selbst keiner Verbindung angehörte. Schirach gelang es aber trotzdem, immer mehr junge Korporierte auf die Seite der NSDAP zu ziehen, 1929 hatte der NSDStB bereits in 170 Verbindungen Mitglieder. In den Jahren 1930/31 eroberte der NSDStB an elf Universitäten die absolute Mehrheit und wurde an zehn Hochschulen stärkste Fraktion.
Im Zeitraum Herbst 1930 bis Frühjahr 1931 gab es dann einen massiven Konflikt in München zwischen dem »Münchner Studenten-Convent« und Schirach, aber auch der NSDAP-Reichsleitung: Wilhelm von Holzschuher, der Sekretär des Untersuchungs- und Schlichtungsausschusses der NSDAP, war Mitglied der schlagenden Burschenschaft »Corps Franconia« und lehnte die Duellforderung eines anderen Mitglieds in diesem Corps ab. Schirach wurde – nach eigenen Angaben139 – ebenfalls zum Duell gefordert, da er das Corps kritisiert hatte. Angeblich nahm Schirach die Forderung an, bestand aber auf Pistolen.
Gleichzeitig versuchte seine spätere Frau Henny Hoffmann durch direkte Intervention bei Hitler, dieses Duell zu verhindern. Schirach wiederum stoppte die Publikation des Duellverbots durch Hitler im Völkischen Beobachter, dem Zentralorgan der NSDAP, um in den Kreisen der waffentragenden Corps sein Gesicht zu wahren. Letztlich wurde diese Auseinandersetzung aber auf höchster Ebene und durch das Einschreiten von Hitler und seinem Stellvertreter Rudolf Heß niedergeschlagen.140 Schirach wurde aber zu einer bedingten Strafe von sechs Monaten Festungshaft verurteilt, da er gegen § 201 des Strafgesetzbuches »Annahme einer Herausforderung zum Zweikampf mit tödlichen Waffen« verstoßen hatte. Diese heute absurd klingende Duell-Geschichte und die Reaktion des Staates darauf sind ein anschauliches Beispiel für die rückwärtsgewandten Diskussionen in der Weimarer Republik, die letztlich von den eigentlichen Problemen und den Zielsetzungen der NSDAP in Richtung totaler Machtergreifung ablenkten. Gleichzeitig symbolisieren sie den Versuch, die traditionellen Eliten wie die Corps für den Nationalsozialismus zu gewinnen.

Kultstätte: Der Ehrensaal der SA mit der »Blutfahne« in der Geschäftsstelle der NSDAP in der Münchner Schellingstraße 50. Foto: Heinrich Hoffmann.

Eva Braun im »Photohaus Hoffmann« 1930. Braun war seit 1929 bei Hoffmann angestellt und lernte über ihn Hitler kennen. Offiziell blieb sie bis 1945 Angestellte des Unternehmens Hoffmann. Foto: Heinrich Hoffmann.
Zwar gab es durchaus noch starke interne Widerstände, die sogar in einer von 31 Gruppen unterzeichneten Denkschrift endeten, in der Schirachs charakterliche und organisatorische Fähigkeiten massiv bezweifelt wurden. Diese Intrige organisierte sein Stellvertreter Reinhard Sunkel (1900–1945), der Reichsorganisationsleiter des NSDStB. Hitler schätzte aber Schirachs Fähigkeit, neue bürgerliche Wählerschichten anzuziehen und unter den Studenten Unterstützung zu finden. Daher stellte sich Adolf Hitler ostentativ und mit klaren Worten bei der Versammlung von Studentenführern hinter Baldur von Schirach: »Seit Pg. von Schirach die Führung des Studentenbundes hat, hat er in diesem Sinne unschätzbare Dienste dadurch geleistet, daß in Zeiten allgemeiner Depression und Stagnation immer dieser große Antrieb hineinkam: Es geht vorwärts!
Wenn der Theoretiker sagt, die NSDAP sei eine oberflächliche Partei, dann kann ich ihm nur antworten: Sie sind eben nur ein Theoretiker. Es handelt sich um eine Feldschlacht und nicht um das Betreiben kriegswirtschaftlicher Studien. Wir haben keine Zeit, Führer zu erziehen, die geistig hoch gebildet sind, denn wir befinden uns in einem Riesenschwung … Pg. von Schirach hat verstanden, auf was es ankommt: ausschließlich auf die grandiose Massenbewegung … Herr Sunkel141, ich bin jetzt das alte Frontschwein, das für seinen Kameraden eintritt und ihn auf Hieb und Stich deckt!«142
Nach dieser Rede bei der 5. Führerringsitzung am 2. Mai 1931143 brach die Berliner Kritik, die Reinhard Sunkel forciert hatte, endgültig zusammen, der »Rebell« Sunkel wurde aus dem NSDStB ausgeschlossen.
Schirach hatte nicht nur Sunkel kaltgestellt und durch die Ernennung zum Organisationsleiter neutralisiert, sondern reklamierte auch den Erfolg seines zweiten Gegners, des aus Hamburg stammenden Diplomlandwirts Walter Lienau (1906–1941), für sich. Lienau war – obwohl NSDStB-Funktionär – in Graz beim 14. Deutschen Studententag zum Vorsitzenden gewählt worden. Schirach meldete Hitler diesen Erfolg, der angeblich nur deswegen zustande kam, weil er verzichtet hatte, selbst anzutreten. Schirach hätte aber gar keine Chance gehabt, gewählt zu werden, da er kein Corps-Student war. Lienau hingegen war zeitweise aktives Mitglied beim Kösener Corps Isaria München gewesen.144 Zwar hatte der NSDStB damals nur viertausend Mitglieder, aber bereits 60.000 Wähler unter den rund 120.000 Anhängern der Deutschen Studentenschaft.145 Lienau seinerseits versuchte aber aus Konkurrenzgründen dennoch, Schirach loszuwerden, beschwerte sich bei Heß und stellte am 22. Oktober 1931 sogar einen Ausschlussantrag145, zog sich dann aber aus der Hochschularbeit zurück. So verwirrend waren damals die diversen internen Intrigen in der nationalsozialistischen Studentenorganisation, die Schirach aber geschickt für sich ausnützen konnte.146
Ein Duell, das nicht stattfindet
Schirach überlebte politisch auch eine weitere, selbst verschuldete Auseinandersetzung, die fast mit einem Duell geendet hätte – und das noch dazu mit einem alten Freund und Kameraden aus der Zeit der Knappenschaft in Weimar: Hans Donndorf. In der Silvesternacht 1929/30 hatte Schirach die Frau aufgesucht, die Donndorf, inzwischen SA-Mann und Angestellter der großherzoglichen Schatullenverwaltung, heiraten wollte, eine gewisse Elfriede M., und mit ihr geschlafen. Auf die heftigen Vorwürfe seines Weimarer Jugendfreundes reagierte Schirach mit einem Schreiben in zynisch-herablassendem Ton:
»Du bist scheinbar erzürnt, weil das kleine Mädchen, das Du als Madonna verehrt hast, eine höchst gewöhnliche kleine Katze ist. Daß Du diese Deine Enttäuschung so ungerecht in einen Groll gegen mich verwandelst, ist nun sehr töricht. Schließlich war es ihre Sache und Angelegenheit des Gewissens, ob sie Dir treu war oder nicht. Du warst mit ihr nicht verlobt, so war zwischen ihr und mir keine Schranke. Ich möchte nicht durch diesen Brief den Anschein erwecken, als legte ich der Episode irgendwelche tiefere Bedeutung bei. Für mich war das kleine Mädchen (ich habe sogar ihren Namen vergessen!) eine amüsante Nichtigkeit. Auch für Dich hoffe ich, daß Du so reif werden mögest, daß Du eines Tages über die ganze Angelegenheit so herzlich lachen kannst wie ich.«147
Donndorf beschimpfte Schirach daraufhin als »Judenjüngling«, dieser wiederum forderte im Gegenzug für diese Beleidigung Genugtuung durch ein Pistolenduell mit dreimaligem Kugelwechsel, das aber zwischen Parteiangehörigen verboten war. Donndorf revanchierte sich mit einem Parteigerichtsverfahren, bei dem ein weiterer alter Bekannter aus Weimar, Hans Severus Ziegler, Stellvertretender Gauleiter in Thüringen aus dem Weimarer Netzwerk, gegen Schirach aussagte. Die Beziehung zwischen den beiden war aufgrund »mancherlei Motive«, die nicht näher ausgeführt wurden, getrübt, sodass Ziegler Schirach schließlich vorwarf, seine Machtstellung in der Partei in »abwegiger Weise« zu missbrauchen.148 Letztlich musste Schirach, der gegen Donndorf noch eine »Verrufserklärung« angestrengt hatte, auf einen Vergleich eingehen, da er überdies in Parteikreisen der Feigheit beschuldigt wurde, nachdem er sich bei einer von angeblich kommunistischen Jugendlichen gestürmten Versammlung an der Universität Jena in ein Hinterzimmer geflüchtet hatte.
In der Retrospektive lassen sich alle diese Vorhaltungen und Gerüchte nicht mehr verifizieren, aber in der Dichte zeigen sie doch, dass Schirach in dieser Frühphase seiner Karriere ein selbstbewusstes und auch herrisches Auftreten hatte und einen aufwendigen Lebensstil führte – und das, obwohl er, wie er selbst 1931 in seinem SA-Führerfragebogen angab, auf »Aufwandsentschädigungen« der SA bzw. NSDAP angewiesen war. Bereits damals fuhr er immerhin einen Mercedes-Benz 8/38 – unklar ist aber, ob die viertürige Limousine oder das fünfsitzige Spezial-Cabriolet.

Das palastartige Wohnhaus des Malers Franz von Defregger in der Münchner Königinstraße 31: Die Schirachs wohnten hier ab 1932 im Parterre.
In seiner Münchner Studentenzeit wohnte Baldur von Schirach, wie erwähnt, in einer Dreizimmerwohnung bei Hugo Bruckmann, der auch Major der Reserve war, in der Leopoldstraße 10149, 1932 war er dann in der Königinstraße 31 gemeldet.150 Schirach logierte hier im Parterre des palaisartigen Wohnhauses des erfolgreichen Osttiroler Genre- und Historienmalers Franz Defregger, das der Architekt des Neuen Rathauses in München, Georg Hauberrisser, geplant hatte. Im ersten Stock hatte der Maler Carl Theodor von Piloty eine opulente Wohnung mit kleinformatigen Repliken seiner großen Museumsgemälde – wie etwa des berühmten »Seni vor der Leiche Wallensteins« –, die auch Adolf Hitler in Schirachs Wohnung bewunderte, in der sich ebenfalls Piloty-Kopien befanden. Schließlich erwarb auch der »Führer« selbst eine dieser Repliken.151
Der Kämpfer und das Opfer
Gerne inszenierte sich Baldur von Schirach auch in der Rolle des verfolgten Nationalsozialisten. So nützte er seine Verhaftung bei einer Auseinandersetzung nach einer Anti-Versailles-Kundgebung an der Universität Köln, um sich als Opfer der Weimarer Republik zu stilisieren. Er sei nur deshalb verurteilt worden, weil er gegen Frankreich (d. h. gegen den Friedensvertrag von Versailles, Anm. d. Verf.) gekämpft hätte. Geschickt nützte er den Auftritt vor Gericht – der Staatsanwalt hatte vier Monate Gefängnis gefordert – zu einer Anklage gegen die Republik: »Es steht in ihrer Macht, mich vier Monate festzuhalten und einzusperren, das wird aber an meinem Kampf, der gleichzeitig der Kampf des jungen Deutschlands ist, nichts ändern können. Nach Ablauf dieser vier Monate werde ich von Neuem den Kampf gegen Versailles auf die Fahnen der deutschen Hochschulbewegung schreiben, und Nichts wird mich daran hindern können.«152 Nach acht Tagen in Einzelhaft erhielt Schirach eine dreimonatige Gefängnisstrafe auf Bewährung. Auch ein Jahr später, am 13. April 1932, berichtete noch das Tagblatt in Linz von diesem Prozess im Juli 1931, um zu zeigen, wie die SA Richter unter Druck setzen konnten. 1931 waren nach einer Enthüllung der Rheinischen Zeitung in Köln per Standartenbefehl sämtliche verfügbaren SA-Männer in Zivil zum Gericht als Zuhörer und zur Demonstration von Macht bestellt worden.
Hier zeigte Schirach – wie viele andere junge Männer seiner Generation, die nicht im Ersten Weltkrieg gedient, aber die Propaganda darüber bereits wahrgenommen hatten – ein typisches Verhaltensmuster: Sie suchten ständig den Kampf – hier konkret den »Kampf gegen Frankreich«. Dies ging bei Baldur von Schirach so weit, dass er selbst gegenüber dem Hamburger Gauleiter und ehemaligen Frontsoldaten Albert Krebs, als ihm dieser einen Fehler in der Kriegsdarstellung aus dem Ersten Weltkrieg nachwies, auf die Schulter klopfte und selbstbewusst meinte: »Glauben Sie mir nur, lieber Doktor Krebs! Das ist doch so gewesen, wie ich es sagte!«153 Krebs nannte Schirach 1959 in seinem Buch über die Frühzeit der NSDAP einen zu jungen »überzüchteten Intellektuellen und Ästheten«154, der sich damals innerhalb der NSDAP noch nicht wirklich ideologisch festgelegt hatte.
Sinnbildlich für die permanente Sehnsucht, den Ersten Weltkrieg zu wiederholen und selbst erleben zu wollen, waren die in dieser Zeit entstandenen Gedichte Schirachs, die eine metaphysische Verbindung zwischen der Nachkriegsgeneration und den Gefallenen des Ersten Weltkrieges herstellen sollten:
Als wir noch Kinder, dröhnten die Kanonen,
und manches Kinderlachen brach entzwei,
kam eine Meldung von den Todeszonen:
»Dein Vater starb, damit die Jugend frei!«

Aus der Umgebung Hitlers war Schirach bald nicht mehr wegzudenken: Begeisterte Begrüßung durch NS-Anhänger bei einem Auftritt 1930.

Urlaub vom »Führer«: Henriette und Baldur von Schirach bei einem Spaziergang in den Tiroler Bergen.
Wehe dem Sohn, der das je kann verwinden
Und nach so großem Preis vom Kampfe schwieg!
Wir wollen unsres Daseins Sinn verkünden:
Uns hat der Krieg behütet für den Krieg! 155
Baldur von Schirach ging aus den vorhin skizzierten Konflikten gestärkt hervor, hatte er doch Hitlers eindeutige und in dieser Form ungewöhnlich starke Unterstützung erhalten. Meist ließ Hitler gerne seine Funktionäre in Konkurrenz gegeneinander um die Gunst des »Führers« wetteifern und traf häufig erst spät Personalentscheidungen.
Entscheidend für Hitlers Hilfe war sicherlich auch der Umstand, dass sich Schirach im Umfeld der Salonnière Elsa Bruckmann bewegte, die zur Irritation von Joseph Goebbels starken Einfluss auf den Parteivorsitzenden ausübte.156

Vorbildlich mit Scheitel und Braunhemd: Reichsjugendführer Baldur von Schirach. Kohlezeichnung von Karl J. Böhringer, Bayerische Staatsbibliothek.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.