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„Mutti …“, druckste ich herum. „Ich … äh … ich finde es ja auch schön, wenn wir alle zusammen frühstücken, aber …“
„Ich verstehe“, lächelte meine Mutter. „Aber noch schöner ist es, wenn ihr unter euch seid!“ Sie zwinkerte mir zu. „Na, gib schon her. Ich mach euch ein paar Brötchen zurecht, dann könnt ihr in deinem Zimmer essen. Aber krümelt nicht so.“
„Danke, Frau Seefeld“, meinte Tommy und nahm mir die Tüte aus der Hand. „Aber heute machen wir das Frühstück, und Sie können es sich mit Ihrem Mann gemütlich machen.“
Mutti bedachte mich mit einem Blick, der so viel besagte wie: „Siehst du, Josef, daran kannst du dir ein Beispiel nehmen!“ Ich setzte einen unschuldigen Blick auf und folgte Tommy, der schon in der Küche verschwunden war.
Gemeinsam machten wir zwei Platten mit belegten Brötchen, kochten Eier und verzierten alles mit Erdbeeren und Weintrauben. Dann deckten wir für unsere Eltern den Tisch, setzten Kaffee auf, und anschließend beluden wir ein Tablett mit den Sachen, die wir mit in mein Zimmer nehmen wollten. Ich mixte uns noch eine Kanne Kakao, dann waren wir fertig.
Ich warf einen Blick auf die Küchenuhr, die über der Tür hing. Genau neun Uhr. Mein Magen knurrte wie ein wilder Wolf. Kein Wunder, dass ich Hunger hatte. Ich war schließlich schon seit vier Stunden auf!
Tommy ergriff mit sichtlicher Mühe das Tablett, und ich nahm schnell den Kakao wieder runter, damit es kein Unglück gab.
„Warte, ich geh vor und mach die Tür auf“, sagte ich.
„Was ist mit Sanne und Janine?“, fragte mein Freund. „Ohne sie will ich nicht anfangen.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich auch nicht. Ich kann’s gar nicht abwarten, ihnen die Sache mit unseren Träumen und dem fehlenden Stein zu erzählen. Ich werd gleich Sanne wecken, und du kannst ja inzwischen Janine anrufen.“
Tommy konzentrierte sich auf das Tablett und folgte mir. „Ja, mach ich. Um neun werden sie ja wohl nicht mehr schlafen.“
Als ich mein Zimmer betrat, bekam ich große Augen. Sanne saß putzmunter an meinem Computer und surfte herum!
„Hey!“, rief ich. „Was machst du an meinem Computer?“
Meine Schwester drehte sich um und blickte mich vorwurfsvoll an. „Erstmal guten Morgen, lieber Bruder! Und zweitens ist das immer noch unser Computer, er steht nur in deinem Zimmer, weil in meinem kein Platz ist. Und wenn du nicht da bist, kann ich soviel surfen, wie ich will!“
Kleinlaut grummelte ich: „Hast ja Recht“, und betrat vollends das Zimmer, Tommy im Schlepptau. Als Sanne Tommy erblickte, sprang sie auf.
„Hallo Tommy! Was machst du denn schon hier?“ Ihr Blick fiel auf das Tablett mit all den leckeren Sachen. „Hey, und Frühstück habt ihr auch schon gemacht? Hmm … hab ich einen Hunger! Ich bin schon stundenlang wach!“
Tommy und ich schauten uns an. Sanne auch?
„Wir auch“, sagte mein Freund und schaute sich um, wo er das Tablett platzieren konnte. Da wir sowieso immer auf dem Teppich aßen, bückte er sich und stellte es vorsichtig auf dem Boden ab. Dann kam er wieder hoch und schlug in Sannes Hand ein, die sie ihm hinhielt. „Was schaust du dir denn gerade an?“
„Ich war schon so lange wach“, meinte Sanne und warf mir einen Blick zu. „Eigentlich wollte ich mit dir reden, aber du warst nicht da. Ich hab mir gedacht, dass du mit Lazy raus bist. Und da wollte ich ein bisschen surfen, bis du zurückkommst. Ich hab Geheimnisse Ägyptens eingegeben, und da kamen unglaublich viele Seiten heraus.“
Sie blickte auf ihre Armbanduhr und machte ein überraschtes Gesicht. „So spät schon? Ich bin schon seit sechs Uhr hier! Ich hab gar nicht gemerkt, dass so viel Zeit vergangen ist. Aber da waren unheimlich spannende Sachen zu lesen. Gerade bin ich unter dem Gizeh-Plateau.“
Tommy war sofort Feuer und Flamme. „Unter dem Plateau?“
„Ja“, meinte Sanne aufgeregt. „Da soll es hunderte von Kilometern Gänge geben und an die tausendfünfhundert Kammern und Räume. Das ganze Gelände ist unterirdisch ausgehöhlt. Und alles ist geheim. Die ägyptische Regierung lässt niemanden graben und sperrt alles ab. Aber manches wurde doch heimlich entdeckt. Ich muss euch unbedingt was vorlesen. Das glaubt ihr nie!“
„Mach ruhig“, sagte ich gutmütig. „Aber wir müssen dir auch unbedingt was erzählen, was du garantiert nicht glauben wirst. Was ist eigentlich mit Janine? Kommt sie noch?“
Sanne hatte sich schon umgedreht und suchte auf dem Monitor die Stelle, die sie uns vorlesen wollte.
„Ja“, murmelte sie abwesend. „Aber sie kommt erst um elf. Sie gibt doch sonntags immer Nachhilfe.“
„Nachhilfe?“, staunte Tommy. „Wem denn?“
„Leon aus unserer Klasse. Der ist so schlecht, der braucht wirklich Nachhilfe. Er ist schon einmal sitzen geblieben, und wenn er so weitermacht, wird es ihn wieder erwischen.“
Tommy legte die Stirn in Falten, sagte aber nichts mehr darauf. Ich hatte ganz vergessen, dass Janine Nachhilfe gab. Na, eigentlich auch kein Wunder. Normalerweise schlief ich ja sonntags auch bis zehn oder noch länger. Da war Janine längst fertig, bevor wir gefrühstückt hatten.
„Hier!“, rief Sanne. „Da steht es! Das glaubt ihr nie!“
Tommy und ich stellten uns dicht hinter meine Schwester und schauten ihr über die Schulter, als sie zu lesen begann.
„Ein gewisser Andreas von Rétyi berichtet in seinem Buch Geheimakte Gizeh Plateau, dass es geheime Schächte gibt, die kilometerweit von den Pyramiden von Gizeh entfernt mitten in der Wüste in die Erde führen. Es ist verboten, diese Schächte zu betreten, aber von Rétyi hat einige von ihnen heimlich erkundet.“
Sanne tippte mit dem Zeigefinger auf eine Stelle auf dem Bildschirm. Ich bemerkte, dass ihre Hand leicht zitterte.
„Und jetzt das hier: Die Öffnungen können schnell zur Todesfalle werden, denn sie führen in wirklich tiefe Schächte. Wir haben einen Stein fallen gelassen und trauten unseren Ohren nicht, so lange dauerte es, bis wir den Widerhall des Steines hörten …“
Tommy und ich starrten uns sprachlos an, aber ehe einer von uns den Mund aufmachen konnte, las Sanne weiter.
„Eine der Kammern besaß einen verfallenen Eingang. Hinter dem zweiten Tor wurde es schnell stockfinster. Und dort lauerte ein quadratischer Schacht, der unbarmherzig ins Nirgendwo führte. Beinahe wäre es zur Katastrophe gekommen, als einer von uns versuchte, in die dahinter liegende Kammer zu gelangen …“
Sannes Stimme war in ein Flüstern übergegangen. „Ihr werdet es nicht glauben … aber … aber genau das …“
„Haben wir geträumt!“, entfuhr es Tommy und mir gleichzeitig.
Sanne fuhr herum. „Waas? Ihr auch?“
Ich nickte und spürte, wie es mir eiskalt den Rücken hinunterlief. „Ja, wir auch! Ich bin um fünf davon aufgewacht. Deswegen bin ich auch so früh mit Lazy runter. Da hab ich Tommy getroffen. Er hatte genau denselben Traum. Und jetzt du …“
Sanne schaute uns mit weit aufgerissenen Augen an. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte sie stockend. „Meint ihr …?
„… dass es wieder losgeht?“ Tommy blickte nachdenklich auf den Monitor. „Ich bin fast sicher. Du weißt ja noch nicht alles. Am Haus fehlt ein Stein.“
„Ein Stein?“, fragte Sanne irritiert. „Was für ein Stein?“
„Ein Mauerstein“, sagte ich. „Ein simpler Mauerstein. Vielleicht hat es ja nichts zu bedeuten, aber …“
„… vielleicht ja doch“, unterbrach mich Tommy. „Wir wollten mit euch zusammen noch einmal hingehen. Joe und ich fanden es schon unglaublich, dass wir beide das Gleiche geträumt haben, aber jetzt du auch noch … das ist garantiert kein Zufall mehr. Ich könnte jede Menge Chips wetten, dass auch Janine den gleichen Traum hatte. Es ist ein Zeichen oder eine Nachricht der unbekannten Herrscher für uns.“
„Aber warum?“, fragte ich heiser. Tommy zuckte die Schultern. „Das weiß ich auch nicht. Wann kommt Janine? Um elf?“
Sanne nickte.
„Am besten warten wir noch auf sie und beratschlagen dann“, meinte mein Freund. „Sag mal, Sanne, steht da noch mehr?“
Meine Schwester drehte sich um und vertiefte sich eine Zeitlang schweigend in den Bericht. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Nicht mehr viel. Es soll mehrere Eingänge mitten in der Wüste geben, und verbindet man sie mit einer gedachten Linie, weisen sie auf den Sphinx hin.“
„Sphinx?“, fragte ich erstaunt. „Ist das nicht dieser große Steinlöwe vor den Pyramiden?“
Tommy nickte. „Stimmt. Es ist mehr ein Löwenmensch mit einem Raubtierkörper und einem Menschenkopf. Man weiß nicht genau, wie alt er ist. Manche Forscher sagen, er ist viel älter als die Pyramiden. Vielleicht mehr als zehntausend Jahre.“
Sanne klickte noch hier und da auf einen Link, fand aber nichts Interessantes mehr.
„Soll ich ihn ausschalten?“
Tommy hatte sich schon zu dem Tablett auf meinem Teppich begeben und es sich bequem gemacht.
„Mach ruhig aus“, meinte er und griff sich ein Brötchen. „Was uns auch immer erwartet, ich muss jetzt einfach was essen, sonst kann ich nicht mehr denken!“
Ich musste lachen und gesellte mich zu ihm. Sanne fuhr den Computer runter und sah auf die Uhr.
„Noch eine Stunde, bis Janine kommt!“, stöhnte sie. „So lange kann ich auch nicht mehr warten.“
„Wir können ja zweimal frühstücken“, grinste ich und langte zu.
Die Stunde, die wir auf Janine warten mussten, verging wie im Flug. Obwohl ich vor Aufregung herumzappelte, hatte ich einen Bärenhunger und verdrückte sage und schreibe vier Brötchen. Unsere Köpfe rauchten, so sehr grübelten wir darüber nach, was die Träume und der fehlende Stein bedeuten konnten. Als ich einen Moment lang einmal nicht an Janine gedacht hatte, sprang Jever plötzlich auf, und im selben Augenblick ging die Tür auf und unsere Freundin kam herein. Und sie war nicht allein.
„Hallo ihr drei!“, rief sie mit fröhlichem Gesicht. „Habt ihr uns noch was übrig gelassen?“
Kaum hatte sie ausgesprochen, war ihr schon Jever in die Arme gesprungen. Lachend wehrte sie ihn ab.
„Hey, du kleiner Lümmel! Hat dich Tommy immer noch nicht richtig erzogen? Nimm dir ein Beispiel an Lazy!“
Mein eigener Hund hatte sich mittlerweile tatsächlich schon hoch gewuchtet und watschelte auf Janines Begleiter zu, der ein wenig unsicher dastand und nicht recht wusste, wie er sich verhalten sollte. Ein blonder Junge von vielleicht zwölf Jahren, mit pausbäckigem Gesicht und neugierig umher schauenden Augen. Lazy schien ihn zu mögen, denn er setzte sich direkt vor seine Füße und entließ ein leises Grunzen.
Der Junge ging in die Hocke und kraulte Lazy hinter den Ohren.
„Du bist nicht ganz so wild wie dein Freund, was?“, grinste er, und im selben Moment wurde er mir sympathisch.
„Na ja“, grinste ich. „Lazy ist nicht ganz so sportlich, dafür aber hochintelligent!“
„Lazy?“, lachte er und erhob sich wieder. „Dann heißt der andere Hund wohl Speedy?“
„Nein!“, lachte jetzt auch Tommy. „Er heißt Jever, weil er ausschließlich von Bier lebt!“
Janine ließ Jever vorsichtig wieder zu Boden und stellte ihren Freund vor.
„Das ist Leon. Er geht in meine Klasse, und ich mache mit ihm zusammen Hausaufgaben.“
Leon blickte Janine augenzwinkernd an. „Na ja“, meinte er, „eigentlich gibt sie mir Nachhilfe. Ich hab schon eine Ehrenrunde gedreht, und dieses Jahr war es auch knapp.“
Ich nickte verständnisvoll. „Letztes Jahr hätte es mich auch beinahe erwischt. Ich bin ein bisschen faul. Aber seit ich Tommy kenne, lerne ich mehr.“
„Echt?“ Leon verzog das Gesicht. „So einen Freund hätte ich auch gerne.“
Tommy machte eine einladende Geste in Richtung Teppich. „Ich hab gar nichts gemacht. Joe hat sicht eben nur mehr auf seinen Hintern gesetzt. Setz dich doch. Du kannst gern mit uns frühstücken. Es ist noch genug da. Ach ja … das ist Joe, seine Schwester Sanne und ich bin Tommy.“
„Freut mich“, grinste Leon. „Danke für die Einladung. Aber ihr wisst ja noch nicht, wie viel ich essen kann!“
Während wir uns alle wieder auf dem Teppich niederließen und es uns bequem machten, machte Tommy Sanne und mir ein Zeichen. Ich verstand. Tommy wollte, dass wir die Sache mit dem Traum und dem Stein noch nicht erzählten. Leon war zwar nett, aber dieses Geheimnis musste unter uns bleiben. Wir würden uns noch etwas gedulden müssen, ehe wir mit Janine reden konnten.
„Joe hat vier Brötchen gegessen“, meinte Tommy augenzwinkernd. „Den Rekord musst du erstmal einstellen!“
Leon und Janine langten ordentlich zu, und während wir anderen ihnen beim Futtern zuschauten, erfuhren wir mehr über den blonden Jungen.
„Hast du ein bestimmtes Fach, in dem du schlecht bist?“, wollte Tommy wissen.
„Nein“, grummelte Leon mit vollem Mund. „Ich bin überall schlecht.“
„Wirklich?“, fragte Sanne betroffen.
„Ja“, gab er zu. „Ich kann mir einfach nichts merken. Aber ich bin nicht faul …“ Er blickte in die Runde, um sich zu vergewissern, dass wir ihm auch glaubten. „Ehrlich nicht. Ich sitze jeden Tag bestimmt zwei Stunden an den Hausaufgaben und üben tue ich auch. Aber wenn ich eine Arbeit schreiben muss oder der Lehrer fragt mich ab, ist das meiste wieder weg. Das ging mir schon immer so. Es ist einfach, als würde es wieder aus meinem Kopf rausfallen.“
Ich goss mir nachdenklich noch einen Schluck Kakao aus der Kanne ein. „Ich bin schon faul“, gab ich zu. „Aber wenn ich mal büffel, bleibt es auch hängen. Ich hab nur keine Lust zu lernen.“
Sanne grinste. „Aber wann büffelst du schon!“
„Hey!“, wollte ich aufbrausen.
„Ist ja schon gut“, beschwichtigte mich meine Schwester. „In letzter Zeit lernst du ja wirklich viel. Aber nur, wenn dich was interessiert.“ Sie konnte es nicht lassen. Aber ehe ich etwas erwidern konnte, setzte Tommy nach.
„Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Ich merk mir alles, was ich lese oder höre.“
„Glückspilz“, grummelte Leon.
„Ja“, sagte Janine. „Tommy weiß alles. Na ja, fast alles. Ich kenne niemanden, der so wenig für die Schule lernen muss. Er hat so was wie ein fotografisches Gedächtnis.“
„So eins wünsch ich mir zum Geburtstag!“, entfuhr es Leon.
Wir mussten lachen. Ich musste an mein eigenes Zeugnis denken. Besonders gut war es nicht gewesen, aber immerhin hatte ich mich verbessert.
„Aber diesmal bist du versetzt worden?“, fragte ich.
„Ja, aber mit Ach und Krach. Sie wollten mich schon von der Schule verweisen. Ich soll auf eine Sonderschule gehen. Aber dort haben sie erst wieder im nächsten Halbjahr einen Platz frei. Solange darf ich noch bleiben. Aber dann muss ich wohl auf diese blöde Schule. Aber ich geh da nicht hin. Niemals!“
Ich sah, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Sein Gesicht nahm einen wild entschlossenen Ausdruck an. „Lieber hau ich ab! Dort gibt es eine Bande, die alle anderen bedroht und erpresst. Ich kenne ein paar von denen. Wenn ich da hin muss, reiße ich lieber aus!“
„Nein!“, sagte Tommy so laut, dass ich zusammenzuckte. „Das hilft auch nicht weiter. So wirst du nur noch größere Schwierigkeiten bekommen. Was ist mit deinen Eltern? Stehen sie dir bei?“
Leon blickte zu Boden. „Das können sie nicht. Sie sind nicht mehr am Leben. Ich war noch ganz klein, als sie bei einem Autounfall ums Leben kamen.“
Sekundenlang herrschte betroffenes Schweigen.
„Leon lebt bei seiner Tante“, sagte Janine leise. „Aber die ist schon recht alt und kann ihm nicht helfen. Tommy … ich hab Leon mitgebracht, weil ich dachte, dass du ihm vielleicht helfen könntest. Du weißt doch so viel.“
Tommy lächelte hilflos. „Ja, aber ich kann es nicht erklären, warum ich mir so viel merke. Ich lese es, und dann weiß ich es. Es ist einfach so. Das kann man nicht beibringen. Es ist eine Gabe, für die ich nichts kann.“
Tommy blickte Janines Schulkameraden ruhig an. „Leon …“, sagte er behutsam. „Ich habe meinen Vater verloren, als ich drei Jahre alt war.“
Bei Tommys Worten löste Leon seinen Blick vom Teppichboden und schaute überrascht in die Augen meines Freundes.
„Wirklich?“
„Ja. Ich weiß, wie es ist, das Beste zu verlieren, das man als Kind hat. Gott sei Dank war meine Mutter immer für mich da. Aber viele Dinge kann nur ein Vater erklären, und ich hab ihn viele Jahre so vermisst, dass ich oft nicht mehr weiter wusste. Als ich in die Schule kam, war ich so ein Problemfall, dass man mich auch auf eine Sonderschule schicken wollte.“
Janine hob überrascht die Brauen. „Das hast du noch nie erzählt!“
„War ja bisher auch nicht wichtig“, meinte mein Freund. „Aber vielleicht hat dich der Verlust deiner Eltern so getroffen, dass du deswegen nicht gut lernen kannst.“
„Meinst du?“, fragte Leon zweifelnd. „Aber es ist doch schon so lange her. Ich weiß nicht. Ich lerne doch wie verrückt. Und dann ist es wieder weg. Das ist so wie deine Gabe, nur umgekehrt.“
Tommy musste lachen. „Leon, du bist in Ordnung! Aber der Tod der Eltern kann etwas auslösen, das ein Leben lang da ist, und du merkst es gar nicht. Vielleicht willst du gar nicht älter werden, weil du die Zeit vor dem Tod deiner Eltern wiederhaben willst und lernst deswegen nichts.“
Verblüfft dachten wir einige Sekunden über das nach, was Tommy gesagt hatte. Das konnte ich mir gar nicht vorstellen. Obwohl … älter werden wollte ich eigentlich auch nicht. Mein Vater war oft zehn Stunden oder mehr von zu Hause weg. Da war mir die Schule doch lieber. Und spielen tat er auch nicht mehr. Und Abenteuer erleben auch nicht. Und …
„Aber jetzt hast du ja jemanden, der dir hilft“, unterbrach Tommy meine Gedankengänge.
„Ja“, sagte Leon dankbar. „Janine ist toll! Auf jeden Fall macht es jetzt mehr Spaß. Aber wenn sie mich am nächsten Tag abfragt, ist es auch nicht viel besser.“
„Dann helfen wir dir alle!“, sagte Sanne spontan. „Das können wir doch! Oder, Tommy?“
Tommy nickte. „Klar können wir das! Vielleicht können wir ein paar Tricks rausfinden, die du vor Klassenarbeiten gebrauchen kannst. Vielleicht hilft es dir, wenn du morgens früher aufstehst und vor der Schule lernst. Dann ist es noch ganz frisch. Du musst halt vieles ausprobieren.“
Hab ich schon“, murmelte Leon. „Ich hab alles probiert, was man sich vorstellen kann, aber es ist wie ein großes Loch hier oben.“ Er tippte sich an die Stirn. „Aber vielen Dank. Ihr seid echt nett!“
„Das sind wir!“, lachte Janine und griff sich ein paar Erdbeeren. „Auf jeden Fall werden wir versuchen, dir zu helfen.“
„Ja!“, rief Sanne. „Vielleicht helfen Lern-CDs. Ich höre oft abends im Bett Englisch-CDs. Das macht richtig Spaß!“
„Du lernst sozusagen im Schlaf!“, neckte ich sie.
„Besser, als immer Mickey-Maus zu lesen!“, grinste sie mich an.
Das saß. Ich hob abwehrend die Hände. „Die Hefte sind pädagogisch wertvoll“, meinte ich todernst. „Dagobert und Donald. Arm gegen reich.“
„Du bist eher wie Gustav Gans“, lachte meine Schwester. „Hast nur Glück, dass dich niemand abfragt in Englisch! Sitzt ja auch ganz hinten!“
„Wuff!“, machte Lazy. „Danke!“, sagte ich zu ihm und gab ihm einen Klaps. „Du hältst wenigstens zu mir.“
„Auf jeden Fall hast du jetzt ein paar Freunde mehr“, sagte Tommy. „Und gemeinsam geht alles besser. Wir werden schon dafür sorgen, dass du nicht auf diese Sonderschule musst. Das verspreche ich dir.“
„Danke“, sagte Leon mit leiser Stimme. „Das finde ich total toll von euch. Ich hatte noch niemals jemanden, der das für mich getan hätte. Und dabei kenne ich euch doch noch gar nicht.“
„Du wirst uns schon noch kennen lernen!“, grinste ich. In dem Moment ging die Tür auf, und meine Mutter steckte den Kopf herein.
„Wie lange wollt ihr denn noch frühstücken? Es ist schon zwölf! Ihr solltet die Sachen lieber wieder in den Kühlschrank stellen, sonst werden sie noch schlecht.“
Leon fuhr hoch. „Schon zwölf? Oh Mann, ich muss nach Hause! Meine Tante wird sonst sauer, dass ich zu spät zum Essen komme! Und ich muss noch eine halbe Stunde mit dem Bus fahren.“
„Essen?“, grinste Sanne. „Du willst bei deiner Tante schon wieder essen? Du musst doch pappsatt von unserem Frühstück sein!“
Leon stöhnte. „Bin ich auch! Aber wenn ich bei ihr nichts esse, gibt’s Ärger. Tut mir Leid, aber ich muss jetzt wirklich gehen.“
„Schade“, meinte Sanne. „Aber sag Bescheid, wenn du dich wieder mit Janine triffst, dann kommen wir auch und machen die ganze Arbeit gemeinsam.“
Leon erhob sich. „Ich bring noch die Sachen in den Kühlschrank, sonst kriegt ihr noch Ärger mit eurer Mutter!“
„Nein, lass man“, sagte meine Mutter gutmütig. „Dafür hab ich hier vier kräftige Kinder. Das schaffen sie schon allein.“
Wir verabschiedeten uns von Leon. Als er die Treppe runterstürmte, kam mir in den Sinn, dass das ein Junge war, der zu mir gepasst hätte, hätte ich nicht schon Tommy als Freund gehabt. Doch dann wurde mir klar, dass ich ganz schön eigensinnig dachte, denn warum sollte Leon nicht zu uns allen passen? Die Antwort wusste ich schon, bevor ich mir die Frage gestellt hatte. Wir waren die Vier Herzen, und die fantastischen Geheimnisse, die wir hüteten, konnten wir nicht so einfach weitergeben. Aber deswegen keine neuen Freunde gewinnen? Nein, das konnte auch nicht im Sinne der unbekannten Herrscher sein. Vielleicht konnten wir ja auch Freunde sein und mit Leon zusammen etwas unternehmen, ohne das verlassene Grundstück zu erwähnen.
Grübelnd folgte ich den anderen zurück in mein Zimmer. Es war toll, drei so gute Freunde zu haben. Aber es hatte auch Nachteile.
„Leon ist in Ordnung, oder?“, fragte Janine.
„Das ist er“, meinte Tommy. „Schade nur, dass ich ihm nicht so leicht helfen konnte, wie du vielleicht geglaubt hast.“
„Ja, schade. Aber wenn du ein Rezept hättest, wärst du schon reich!“
Tommy lachte. „Jesse sagt immer, von nichts kommt nichts! Also wird Leon wohl doch nicht drum herumkommen, zu lernen. Und wir helfen ihm ja.“
„Aber er ist doch gar nicht faul“, wandte Sanne ein.
„Stimmt“, murmelte ich. „Ich fände es schade, wenn er in diese Sonderschule gehen müsste.“
„Dafür sorgen wir schon!“, lachte Janine. „Jetzt hat er ja vier Freunde, die mit ihm lernen!“
Plötzlich ertönte ein Geräusch, das ich nicht einordnen konnte. Es hörte sich an wie ein leises Whhuupp. Irritiert blickte ich mich um. Aber es war Sanne, die es entdeckte.
„Joe! Das Öllämpchen!“
Verblüfft starrte ich auf das Fensterbrett, auf dem das kleine Öllämpchen stand, das wir bei unserem letzten Abenteuer in der Wüste gefunden hatten. Als wir damals auf den Rücken der Kamele durch die scheinbar unendliche Weite geritten waren, war es zuerst als gigantische Erscheinung am Himmel aufgetaucht. Doch je weiter wir herankamen, desto kleiner wurde es, bis es schließlich vor uns im Sand als unscheinbares kleines Lämpchen dagelegen hatte. Es musste tausende von Jahren alt sein. Und wir hatten es aus der Vergangenheit mitgenommen.
Ich schluckte. Das Lämpchen hatte sich entzündet! Eine kleine Flamme flackerte in der Zugluft, die durch das gekippte Fenster entstand. Ich blickte zu Tommy, dem der Mund offen stand.
„Hast du Öl gekauft?“, fragte er heiser.
„N… nein“, sagte ich. „Du vielleicht, Sanne?“
Meine Schwester schüttelte energisch den Kopf. „Hab ich nicht! Du hast doch das Lämpchen einfach in dein Zimmer gestellt, obwohl ich es mitgebracht hab! Meinst du, ich kauf dir dann noch Öl dafür?“
„Hey, Sanne“, meinte Janine. „Wir haben es doch alle gefunden. Du hast es nur für uns in deinem Rucksack mitgenommen.“
„Ja, hast ja Recht“, gab meine Schwester zu. „Aber dann sollte es jeder mal haben.“
Tommy war mittlerweile zu meinem Fenster gegangen und hatte das Lämpchen vorsichtig in die Hand genommen. „Sanne …“, meinte er stirnrunzelnd, „… vergiss das Öl und bei wem das Lämpchen steht!“
„Warum?“
„Weil gar kein Öl drin ist!“
Ich machte den Mund auf und wieder zu. Was hatte er gesagt? Es war kein Öl drin? Aber …
„Wie kann es dann brennen?“, entfuhr es Janine.
„Gute Frage“, meinte Tommy und hielt Janine die Lampe hin. „Hier, sieh selbst!“
Janine nahm das uralte Stück vorsichtig entgegen, hielt es ans Ohr und schüttelte es. Mit großen Augen schaute sie mich an.