- -
- 100%
- +
Langsam setzte sich Shana auf.
„Und das soll Liebe zwischen den Welten sein?“, fragte Krissa entgeistert. „Wo ist denn da die Liebe?“
„Na ja …“, meinte Belly grinsend und versuchte, sein Sitzkissen wieder in die richtige Position zu bringen. „Eben zwischen den Welten! Da gibt’s Zoff zwischen den Einwohnern zweier Planeten. Ich sag euch, Jungs, die Kampfszenen sind super!“
Belly hob beschwichtigend die Arme, als die Mädchen wie wild protestierten. „Hey, ist ja auch Liebe dabei! Keine Sorge! Da verliebt sich nämlich der Pilot hier in ein Mädchen von dem anderen Planeten, und irgendwann geht alles gut aus. Aber vorher …“ Belly machte den Jungs ein Zeichen. „… geht die Post ab!“
„Ich hab’s nicht ausgesucht“, meinte Krissa entschuldigend und sah dabei zu, wie der Pilot der Siegermaschine mit seinem Fluggerät in den Tiefflug überging und langsamer wurde.
„Die ganzen Getränke sind umgefallen“, sagte Nora hilflos.
„Macht nix“, entgegnete Krissa. „Das kann die Wand nachher regeln. Wir haben ein brandneues Multifunktionscleaningelement.“
Stumm sahen die Kinder zu, wie der Raumgleiter immer näher kam, um dann schließlich keine zehn Meter von ihnen entfernt sanft auf dem Steppenboden aufsetzte. Ein leises Sirren ertönte, dann öffnete sich eine Luke und heraus kam …
„Cross Layer!“, rief Krissa überrascht. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass Cross Layer mitspielt?“
„Na ja“, machte Belly verlegen. „Ich wollte was für Jungs und Mädchen, und ich wusste ja, dass du auf Cross Layer stehst …“
„Du bist ein Schatz!“, strahlte Krissa.
„Psssst!“, machte Shana. „Es geht weiter!“
Der Anifilm dauerte geschlagene zwei Stunden, aber alle fanden ihn nicht eine Minute langweilig. Am Ende bekam Cross Layer seine Geliebte vom gegnerischen Planeten und handelte einen Friedensvertrag aus. Als sich die beiden Hauptdarsteller in der letzten Szene liebten, wechselte die Multiwand die Perspektive und schwenkte zum Horizont, denn diese Einstellung war erst ab sechzehn. Der Entsperrungscode nutzte zwar beim Ausleihen, aber er trickste die eigene Multiwand nicht aus.
„Schade …“, meinte Krissa gedehnt.
„Sind auch Jungs da“, lachte Shana. „Die dürfen das noch nicht sehen!“
Als der Film zu Ende war, zogen sich die Projektoren zurück und Krissas Zimmer verwandelte sich in sein normales Aussehen.
„Multiwand!“, rief Krissa fröhlich. „Aufräumen! Saubermachen! Chip ausgeben!“
In der Wand entstand ein rechteckiges Loch, aus dem ein kleines Reinigungsgerät hervorsurrte, das sich sofort daran machte, die umgekippten Getränkebecher aufzusammeln, die Flecken zu entfernen und die Krümel der Zitronenröllchen zu entsorgen.
„Hat jemand Hunger?“, fragte Krissa in die Runde. „Wie wär’s mit McBeam?“
Ein begeistertes Ja! kam zur Antwort. McBeam gehörte einfach zu jedem Geburtstag. Krissa nahm den Chip aus dem Bedienteil heraus und reichte ihn Belly zurück.
„Danke. Der Film war klasse! Den seh ich mir garantiert noch mal an!“
„Ja, wenn du sechzehn bist!“, lachte Lasita. „Damit du die letzte Szene sehen kannst!“
Als sich die Freunde kichernd auf den Weg zu McBeam machten, wofür sie Krissas Beamer benutzten, ging Shana durch den Kopf, was sie dort wohl essen konnte. Denn so lecker es auch bei McBeam war, es gab dort kaum etwas, von dem man nicht zunahm.
„Na, egal“, dachte sie. „Heute mach ich mal eine Ausnahme. Dafür esse ich morgen nicht viel, wenn ich draußen bin.“
Für einen Moment dachte sie noch daran, wie es morgen wohl sein mochte, wenn sie wieder einmal heimlich in die unerwünschte Zone ging. Niemand ahnte, dass sie das tat. Es war zwar nicht verboten, aber alle Eltern impften ihren Kindern ein, es nicht zu tun. Es sei zu gefährlich. Shana lächelte. Gefährlich war es nicht. Das hatte sie inzwischen herausgefunden. Aber es war anders als jeder Anifilm. Ganz anders. Sie wünschte, sie könnte morgen jemanden mitnehmen. Aber sie wusste nicht, wen sie fragen sollte. Die anderen würden niemals mit nach draußen gehen. Sie würden ja auch nicht weit kommen, so dick wie sie waren.
Shana seufzte. Dann bemerkte sie, dass ihre Freunde schon längst durch Krissas Beamer durchgegangen waren und sie als Letzte im Zimmer ihrer Freundin stand. Entschlossen tat sie zwei Schritte und verschwand durch den flimmernden Rahmen zu McBeam.
*
Kapitel 2
Am nächsten Morgen begannen die Ferien. Das bedeutete jedoch nicht, dass Kinder nichts zu tun hatten. Es bedeutete lediglich, dass sie nicht sechs Stunden hintereinander in der Videokonferenz gemeinsam lernten, sondern dass sie ihre vielen Ferienhausaufgaben machen konnten, wann sie wollten. Hauptsache, sie waren fertig, wenn die Schule wieder losging.
Shana war eine gute Schülerin. Sie wusste, dass sie die Aufgaben, die ihr gestellt worden waren, locker in der letzten Ferienwoche bewältigen konnte. Wenn das auch hieß, dass sie dann einige Stunden pro Tag am Stück opfern musste. Aber jetzt wollte sie nicht daran denken, sondern einfach tun und lassen, was sie wollte. Und sie wusste ganz genau, was sie wollte. Aber das mussten ihre Eltern nicht unbedingt mitbekommen.
Im Moment saß sie gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Marten in der Küche und wählte am Automaten ihr Frühstück aus.
„Hallo Automat! Frühstück für Shana bitte. Orangensaft, zwei weich gekochte Eier, eine Scheibe Toast, mittlere Stufe gebräunt, und einen Apfel der Marke Braeburn.“
Der Automat antwortete mit knisternder Stimme, wobei er ein paar Silben verschluckte.
„Shana registriert … kkrrzzz … zw … eich gekochte Eier … ei ... Sch … Toast … ei … Apfel Mark … Brrr .. brrnnn.“
„Wie oft habe ich Vati schon gesagt, dass er das Ding reparieren lassen soll!“, mokierte sich Shanas Mutter.
„Soll ich der Multiwand Bescheid sagen?“, fragte Shana fröhlich und wartete auf ihr Essen, das jeden Moment im Ausgabebereich auftauchen musste.
„Nein, kommt gar nicht infrage!“, sagte ihre Mutter entschieden. „Das ist Vatis Aufgabe. Irgendetwas kann er ja wohl auch zum Haushalt beitragen.“
Shana lächelte. Ihr Großvater hatte ihr erzählt, dass er als Kind noch beim Abtrocknen hatte helfen müssen. Das konnte sie sich gar nicht vorstellen. Aber dennoch fand Shana, dass ihr Vater noch fauler war als alle anderen Erwachsenen oder auch Kinder, die sie kannte. Er begründete das damit, dass er einen anstrengenden Job habe, der ihn voll und ganz beanspruchte. Shana wusste, dass er ein Regierungsbeamter war und sehr viele Berichte verfassen musste. Das war aber alles Kopfarbeit, und ihren Vater laufen zu sehen, grenzte schon an eine Sensation.
„Kind, damit kannst du doch den Tag nicht überstehen“, sagte ihre Mutter besorgt. „Du musst mehr essen!“
„Mama, ich habe gestern ein Maxi-Menü bei McBeam verdrückt!“, lachte Shana. „Das reicht bei mir für eine Woche. Und außerdem willst du doch immer, dass wir uns gesund ernähren, oder nicht? Du könntest übrigens auch mal wieder ein bisschen abnehmen.“
„Ich esse doch gar nicht so viel“, verteidigte sich ihre Mutter.
„Nein“, sagte Shana ungerührt. „Aber das falsche. Und du bewegst dich so gut wie gar nicht. Mach endlich das Sportprogramm der Multiwand mit.“
„Dann fall ich tot um.“
„Fang halt langsam an. Das Programm fragt dich ganz genau ab. Außerdem untersucht es dich, wie viel dein Körper aushält. Du kannst gar nicht tot umfallen.“
„Dein Essen“, sagte ihre Mutter und versuchte, vom Thema abzulenken. Die Bestellung war im Ausgabebereich erschienen, und Shana zog das kleine Tablett vorsichtig heraus. Dann setzte sie sich damit an den funktionalen Esstisch und ließ es sich schmecken.
„Wo bleibt eigentlich Vati?“
In diesem Moment summte es, der Küchenbeamer aktivierte sich, und Shanas Vater trat durch den flimmernden Rahmen. Jedes Mal, wenn ihr Vater auf diese Weise erschien oder wieder verschwand, wollte Shana mit sich selbst wetten, ob der Beamer dieser Masse an Molekülen standhalten würde. Ihr Vater wog an die einhundertundfünfzig Kilo. Und er hatte nicht die geringste Absicht, daran etwas ändern zu wollen. Er fand das ganz in Ordnung so.
„Papa!“ Shana verzog das Gesicht. „Musst du denn selbst zum Frühstück noch den Beamer benutzen? Das Badezimmer ist nur drei Meter entfernt!“
Ihr Vater stampfte die zwei Schritte auf den Esstisch zu und ließ sich schwerfällig an ihm nieder.
„Wozu haben wir denn das Ding“, fragte er grinsend. „Ich bezahle doch nicht für etwas, das ich nicht benutze. Hallo Automat! Frühstück für Vati! Sechs Spiegeleier, zehn Scheiben Speck, vier Scheiben gebutterten Toast, drei Pfannkuchen mit Sirup und fünf kleine Würstchen!“
„Und einen Orangensaft!“, rief Shana.
„Letzten Befehl streichen!“, befahl ihr Vater. „Ich hab schon meine Vitaminpillen genommen.“
„Papa, das ist künstliches chemisches Zeugs! Das kann nie so gut sein wie echter Saft!“
„Glaubst du wirklich, dass es noch echte Orangen gibt?“, fragte ihr Vater erstaunt. „Die werden genauso künstlich hergestellt wie die Pillen.“
„Nein“, sagte Shana energisch und stampfte mit dem Fuß auf. „Das stimmt nicht!“
„Woher willst du das denn wissen?“
Shana wurde heiß. Beinahe hätte sie sich verraten. Klar, sie hatte noch keine echten Orangen gesehen, aber echte Äpfel schon. In der unerwünschten Zone … aber sie hielt gerade noch rechtzeitig den Mund. Wenn ihr Vater erfahren hätte, dass sie in dieser Zone herumstromerte, hätte er ganz bestimmt ihre Multiwand angewiesen, dieses Ziel für Shana zu sperren.
Da Shana nicht antwortete, interpretierte ihr Vater das als Eingeständnis und nickte zufrieden.
„Ich weiß, dass du es gut mit mir meinst, aber du sollst nicht schwindeln. Wenn du eine echte Orange findest, dann bring sie mir. Eher glaub ich dir nicht.“
Marten hatte noch gar nichts gesagt. Jetzt stand er auf, ging zur Essensausgabe, holte die Speisen für seinen Vater hervor und stellte sie vor ihm ab.
„Danke, mein Sohn.“ Er betrachtete Marten wohlwollend und begann, einen Toast in die Spiegeleier zu tunken und genüsslich in den Mund zu schieben.
„Kann ich mit den Jungs zu McBeam, Vati?“
„Er hat doch gerade erst gefrühstückt!“, entfuhr es Shana.
„Lass den Jungen! Er kann es brauchen.“
Kopfschüttelnd sah Shana zu, wie ihr beleibter Bruder der Multiwand das Ziel bekanntgab und gleich darauf vom wabernden Nebel des Rahmens verschluckt wurde.
„Und was machst du heute?“, fragte ihre Mutter, die sich mittlerweile zu ihnen gesetzt hatte.
„Ich … ich weiß noch nicht. Ich werde ein bisschen lernen und dann zu Krissa, Mädchenzeug quatschen, du weißt schon.“
Ihre Mutter nickte. „Gut, mach das. Aber sei um sieben zurück. Du weißt, wir essen pünktlich.“
Shana schluckte eine Bemerkung herunter. Wie konnten ihre Eltern immer nur ans Essen denken!
„Ja, ja“, erwiderte sie widerwillig. Während sie ihren Orangensaft austrank, prüfte sie misstrauisch, ob er künstlich schmeckte. Sie fand, das tat er nicht, aber ihr Vater hatte ihr Misstrauen geweckt.
„Um sieben bin ich wieder da, versprochen!“
Fröhlich sprang sie auf und verschwand hopsend durch die offen stehende Tür durch den Flur in ihr Zimmer.
Ihre Mutter blickte nachdenklich hinter ihr her. Dann schaute sie Shanas Vater an und berührte ihn am Arm.
„Willst du nicht auch mal wieder so rumhopsen?“
„Muss nicht sein“, erwiderte er ungerührt.
*
Shana schloss die Zimmertür leise hinter sich und presste für einige Sekunden ein Ohr dagegen. Sie glaubte zwar nicht, dass ihre Mutter unangemeldet hereinplatzen würde, aber man konnte ja nie wissen. Wie erwartet tat sich nichts. Es hatte auch Vorteile, wenn jemand keine sonderliche Lust hatte, sich zu bewegen.
Shana atmete erleichtert aus. Für die nächsten paar Stunden konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Mit zwei Hopsern war sie an der Stelle, wo die Fixierpunkte im Boden markiert waren.
„Multiwand! Modeprogramm einschalten!“
„Welchen Stil wünschen Sie?“
„Hm … ich brauche wetterfeste Kleidung. Keinen Stil. Mach mir eine Jeans, ein rotes T-Shirt, ein weißes Sweatshirt mit einem Delfin drauf und eine dünne Regenjacke, die man zusammenfalten kann! Ach ja, und mach mir einen kleinen schwarzen Rucksack!“
„Produktion der Gegenstände läuft. Ausgabe in fünfzehn Sekunden.“
Während sie auf die Ausgabe der Sachen wartete, entledigte sich Shana ihrer anderen Klamotten und legte sie säuberlich gefaltet auf ihr Bett.
„Multiwand, ich hab was vergessen!“, rief sie fröhlich. „Mach mir noch ein paar wasserdichte Outdoorschuhe in hellbraun! Aber keinen Billigkram“
„Befehl verstanden. Ausgabe in zwei Minuten.“
„Warum dauert das so lange?“
„Billigkram dauert zehn Sekunden. Echte Sohlen aus Caterpillar-Traktorreifen dauern zwei Minuten.“
Shana lachte. „Okay. Ach ja, und Multiwand! Beamer einschalten!“
Shana achtete nicht darauf, wie sich der schimmernde Rahmen aufbaute, sondern zog sich hastig an. Nach exakt zwei Minuten erschienen die Schuhe im Ausgabebereich. Shana holte sie mit einem anerkennenden Pfiff heraus und schlüpfte hinein. Sie überlegte kurz, ob sie der Multiwand befehlen sollte, den Spiegel zu aktivieren, aber dazu hätte der Beamer abgeschaltet werden müssen, also verzichtete sie darauf. Sie blickte an sich herab und beschloss, dass sie gut aussah.
„Mich sieht sowieso keiner“, murmelte sie. Als letztes packte sie die dünne Regenjacke zu einem kleinen Knäuel zusammen, steckte sie in den Rucksack und streifte ihn über.
„Fertig!“ Langsam wurde sie nervös. Sie ging nicht oft hinaus, höchstens einmal im Monat, aber es war jedes Mal höllisch aufregend. Hibbelig trat sie von einem Bein aufs andere.
„Multiwand! Beamerziel: Planquadrat C4!“
„Planquadrat C4 liegt in der unerwünschten Zone. Bitte neues Ziel angeben.“
„Multiwand! Ich bestehe auf Planquadrat C4!“
Es war jedes Mal das gleiche. Die Multiwand konnte ihr kein Ziel verweigern, es sei denn, es war ein militärisches oder aber ihre Eltern hätten bestimmte Ziele gesperrt. Das hatten sie aber nicht. Die Rückfrage war im Sicherheitsprogramm der Multiwand einprogrammiert, damit sich nicht jemand versehentlich nach draußen beamte.
„Planquadrat C4 akzeptiert und eingestellt.“
„Na also, warum nicht gleich so!“, brummte Shana zufrieden. Sie vergewisserte sich, dass sie ihr Portable System am Handgelenk trug, ohne das sie nicht mehr nach Hause gekommen wäre. Dann gab sie der Wand einen letzten Befehl.
„Multiwand! Alle Nachrichten auf mein Portable weiterleiten!“
„Aktiviert.“
„Na, dann geh ich jetzt mal …“
Ohne ihrem Zimmer noch einen Blick zu gönnen, ging sie mit festen Schritten auf den Beamer zu und verschwand in dem flirrenden Rahmen.
*
Mit geschlossenen Augen stand sie da. Ihre Sinne waren bis zum Äußersten angespannt. Unter ihren neuen Schuhen spürte sie einen weichen Untergrund, und es knisterte leicht, als sie ihr Gewicht verlagerte. Vorsichtig atmete sie ein. Der Duft, der in ihre Nase strömte, war unvergleichlich. Überall, wo sie sich sonst aufhielt, herrschten das gleiche Klima und beinahe immer die gleichen Gerüche. Die Computer sorgten für eine konstante Temperatur von 21° Celsius, und die Klimaanlagen gaben weder Essensgeruch noch sonstigen Ausdünstungen eine Chance.
Wo Shana jetzt stand, gab es keine Klimaanlagen. Ein sanfter Wind umspielte ihr Gesicht, während sie versuchte, die Gerüche einzuordnen. Der Duft von Tannennadeln und Laub mischte sich mit dem von Pilzen, vermoderndem Holz, Erde und Harz. Shana meinte, auch die Spur eines Wildgeruchs zu bemerken, und ihre Nackenhaare sträubten sich. Wildschweine? Ein Fuchs?
Sie öffnete die Augen. Sie stand auf einem Pfad, der mitten durch einen Mischwald führte. Die Sonne sandte Ableger ihres Lichts durch die wenigen Lücken in den Wipfeln der Bäume herab und schuf eine geheimnisvolle Atmosphäre. Unzählige Spinnennetze hingen zwischen den Büschen im Unterholz. Millionen von Tautropfen verrieten ihre Anwesenheit. Shana musste lächeln. Die Spinnen mussten sauer sein, dass man ihre filigranen Fallen so gut sehen konnte. Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse. Der Pfad schlängelte sich durch die Bäume und verlor sich hinter einer Biegung.
„Hm, war es links oder rechts lang?“, überlegte sie laut. Eigentlich war es egal, wo lang sie ging, denn sie glaubte nicht, dass sie jemals weit genug kommen würde, um aus dem riesigen Wald herauszugelangen. Ihr Portable würde sie rechtzeitig warnen, wenn sie den Radius der optimalen Sendeleistung für den Beamer verlassen würde. Auf der anderen Seite hatte sie keine Ahnung, wie weit dieser Radius reichte, denn für gewöhnlich war man immer in Reichweite irgendeiner Empfangs- und Sendestation. Sie warf einen Blick auf ihr Handgelenk. Acht von zehn Balken. Das war mehr als genug. Sie holte Luft und wandte sich nach links.
Der Pfad war schmal, es passten kaum zwei Füße nebeneinander. Vermutlich hatten Rehe ihn ausgetreten. Shana wusste sehr viel über die Tiere und Pflanzen des Waldes. Es gab einen gigantischen Zoo und einen Botanischen Garten, in die man sich beamen lassen konnte und für viel Geld mit einem Elektrowagen durchgekarrt wurde. Das waren die üblichen Ausflüge, die man machte, wenn Oma und Opa zu Besuch kamen.
Zum großen Missfallen der Kinder hielt sich niemand ein Haustier, denn wer würde auch mit einem Hund Gassi gehen wollen und wo? Nein, den meisten Erwachsenen war es zu lästig, so etwas zu organisieren, also gab es mit der Zeit niemanden mehr, der ein Tier zu Hause hatte.
Shana setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Trockenes Laub knisterte unter ihren Füßen. Hier und da raschelte es im Unterholz, und einmal flitzte eine Maus über den Pfad. Shanas Herz klopfte heftig. Sie verspürte keine Angst, allein hier draußen zu sein, sie war einfach nur aufgeregt. Beim ersten Mal war das anders gewesen, da hatte sie sich nach fünf Minuten wieder zurückgebeamt. Aber kaum war sie in ihrem Zimmer materialisiert, wurde das Verlangen, wieder hierher zu kommen, unerträglich. Die Außenwelt war so vollkommen anders. Sie roch anders, sie war zu fühlen, zu schmecken, zu hören und zu sehen. Und sie war unglaublich schön. Seit sie das erste Mal in diesem Wald gewesen war, kam ihr ihre eigene sterile Welt hässlich vor. Das einzige, was sie schade fand, war, dass sie dies hier mit niemandem teilen konnte. Es war schon heikel genug, dass sie allein hier rausging, aber wenn sie jemanden eingeweiht hätte, hätte sich das Risiko verdoppelt. Alles durfte passieren, nur nicht, dass man ihr Geheimnis entdeckt hätte. Denn dann würden ihre Eltern ihr die Außenwelt sperren.
„Mist!“, murmelte sie vor sich hin. „Irgendwann sag ich Krissa Bescheid, und wenn es doch rauskommt, dann kann mir vielleicht Carl mit einem Entsperrungscode helfen.“
Ein Windstoß rauschte durch die Wipfel der Bäume. Morsche Äste knackten, und ein Stück weit neben ihr fiel etwas aus großer Höhe herab. Eine Gänsehaut strich über Shanas Rücken. Sie musste zugeben, dass es zwar zu Hause langweiliger, aber garantiert auch sicherer war. Langsamen Schrittes ging sie weiter. Beim Gehen betrachtete sie versonnen ihre Schuhe, die mit jedem Schritt ein wenig Staub aufwirbelten. Ihre Gedanken machten sich selbstständig. Warum konnte man nicht hier draußen wohnen? Nein, dann müsste man ja Bäume fällen, und bei so vielen Menschen wäre es bald um den Wald geschehen, wenn die alle hier wohnen wollten. Dann vielleicht Baumhäuser? Da könnten die Bäume stehen bleiben. Shana musste lächeln. Wenn man in einem Baumhaus wohnte, durfte man nur nicht nachts aufs Klo müssen und die falsche Tür aufmachen! Vor ihrem geistigen Auge erschienen in den Wipfeln der Bäume unzählige Baumhäuser. Aber was, wenn Sturm aufkäme? Shana seufzte. Sie hatte sich das so schön vorgestellt, aber so einfach war es eben nicht. Es blieb wohl ein Traum. Ihr Vater hätte gelacht und gesagt: Wozu brauche ich ein Baumhaus? Wir haben doch hier alles!
Mit einem Mal wurde es heller und Shana schrak aus ihren Gedanken. Eine Lichtung! Sie beschleunigte ihre Schritte. Beim letzten Mal hatte sie sich genau bis hierher vorgewagt, ehe sie umkehrte. Auf dieser Lichtung standen drei uralte Apfelbäume, die Äpfel trugen, deren Geschmack unvergleichlich war. Voller Vorfreude streifte sie den Rucksack von der Schulter, den sie extra mitgenommen hatte, um genügend Äpfel mit nach Hause nehmen zu können.
Als sie den Schutz der Bäume verließ und gleißendes Sonnenlicht sie empfing, erwartete sie eine Überraschung. Der Schreck fuhr ihr in alle Glieder, und sie stolperte, weil sie so schnell nicht abbremsen konnte. Als sie ihr Gleichgewicht wiedererlangt hatte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie auf die Lichtung, auf der die drei Bäume nach wie vor ihre krüppeligen Äste in die Luft streckten. Doch die Äpfel waren es nicht, die Shana erschreckten. Es war das Haus, das mitten auf der Lichtung stand. Ein Blockhaus, gezimmert aus dicken, dunkel gebeizten Stämmen. Das Haus besaß eine Veranda, auf der sich drei Dinge befanden. Ein unbequem aussehender Holzschemel, eine Staffelei und ein Mann, der auf ebenjenem Schemel saß und an einem Bild arbeitete. Der Mann schaute überrascht auf, als Shana aus dem Wald stolperte, und ließ die Hand mit dem Pinsel langsam sinken.
Shanas Gedanken überschlugen sich. Woher kam dieses Haus? Woher kam dieser Mann? Wer war dieser Mann? Niemand ging freiwillig in die unerwünschte Zone. Oder gab es noch mehr, die hier draußen sein wollten, so wie Shana? Aber wie kam das Haus so schnell hierher? Shanas letzter Besuch auf der Lichtung war noch gar nicht so lange her. Mit einemmal meldete sich ein unangenehmes Gefühl in ihrem Bauch. Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Sie blickte sich gehetzt um. Zurück in den Wald? Nach Hause beamen? Nein, der Mann war schneller bei ihr, als sich der Beamer aufbauen konnte. Ins Unterholz flüchten und verstecken? Nein, das trockene Buschwerk machte einen Heidenlärm, das würde niemals klappen. Shanas Magen wurde zu einem Klumpen. Wohin? Was tun?
„Hallo! Komm ruhig näher! Ich beiße nicht!“
Der Impuls, wegzulaufen, war unglaublich groß, doch die Stimme des Mannes auf der Veranda klang tief und Vertrauen erweckend. Shana konnte ihren Vater hören, der ihr immer wieder eingebläut hatte: Gehe niemals zu einem Fremden, egal, wie nett er auch immer erscheint. Aber das war irgendwie Blödsinn, denn wo sollte man in ihrer Welt schon einen Fremden antreffen? Der Beamer war im Prinzip idiotensicher, das meiste machte man von zu Hause aus, und selbst in den Einkaufszentren wurde der Bewegungsradius durch das eigene System überwacht. Na ja, man konnte da schon ein wenig dran rumspielen, wenn man Carl kannte. Aber auf diesen Moment im Wald in der unerwünschten Zone war Shana nicht vorbereitet. Hier konnte sie sich nur auf ihr Gefühl verlassen.
„Ich bin harmlos!“, rief der Mann mit einem sympathischen Lachen. „Und ich freu mich, wenn mich jemand besucht. Das ist schon viele Jahre nicht mehr passiert.“
Shana kniff die Augen zusammen. Der sah nett aus. Seine Stimme klang auch nett. Sie beschloss, dass sie es wagen konnte. Aber nicht zu nah.
„Hallo“, sagte sie leise. „ich bin Shana. Ich beiße auch nicht.“
Der Mann brach in schallendes Gelächter aus und winkte sie zu sich.
„Okay, dann sind wir beide harmlos! Komm, schau dir an, was ich gemalt habe.“
Zögernd ging Shana näher. Ein paar Schritte vor der Veranda blieb sie stehen und verdrehte den Hals. Der Fremde drehte die Staffelei in ihre Richtung und lehnte sich zurück.
„Wie findest du’s?“
Das Bild, das Shana betrachtete, war auf grobe Leinwand gemalt. Es war etwa zur Hälfte fertig und zeigte eine Szene aus einem Hafen des Mittelalters. Es schien ihr, als handelte es sich um spanische Galeeren, die kurz vor der Abfahrt zu einer langen Reise standen, denn viele Männer waren dabei, die verschiedensten Waren an Bord zu schleppen. Ein tiefblauer Himmel stand im Kontrast zum dunklen Schwarzbraun der Schiffsrümpfe, und am Kai herrschte reges Treiben. Shana war sofort fasziniert von diesem Bild. Es fehlten noch viele Details, einige Stellen waren noch weiß, doch bereits jetzt wirkte es so naturgetreu, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Es schien so … echt.