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Er rappelte sich schockiert wieder auf, blickte Scarlet an und versuchte, dahinterzukommen, wie ein so kleines Mädchen ihn so überwältigen konnte. Dann, mit einem ängstlichen Blick, war er weise genug, sich abzuwenden und davonzueilen.
Der Verkäufer blickte grimmig zu Scarlet hinunter, nichts Gutes ahnend.
„Du willst Fleisch?“, schnappte er. „Hast du das Geld, dafür zu bezahlen?“
Aber Ruth konnte sich nicht länger zusammenreißen. Sie sprang vor, grub ihre Zähne in den riesigen Fleischbrocken, riss ein Stück heraus und verschlang es. Bevor noch irgendjemand reagieren konnte, sprang sie noch einmal vor und schnappte nach einem weiteren Bissen.
Diesmal schlug der Händler mit seiner Hand zu, so fest er konnte, auf Ruths Nase zielend.
Doch Scarlet spürte es kommen. Tatsächlich passierte etwas Neues mit ihrem Gefühl für Geschwindigkeit und Zeit. Als die Hand des Händlers langsam herunterfuhr, schoss Scarlets Hand von selbst hoch, beinahe ohne ihr Zutun, und packte das Handgelenk des Händlers, knapp bevor er Ruth traf.
Der Händler blickte auf Scarlet hinunter, mit weit aufgerissenen Augen, schockiert, dass ein so kleines Mädchen so fest zupacken konnte. Scarlet drückte das Handgelenk des Mannes zusammen, fester und fester, bis sein ganzer Arm zu zittern begann. Sie blickte grimmig zu ihm hoch, unfähig, ihre Wut unter Kontrolle zu halten.
„Fass ja nicht meinen Wolf an“, fauchte Scarlet dem Mann entgegen.
„Es…tut mir leid“, sagte der Mann, sein Arm vor Schmerzen zitternd, seine Augen weit vor Schreck.
Endlich lockerte Scarlet ihren Griff und eilte vom Stand davon, Ruth an ihrer Seite. Während sie sich beeilte, so weit wie möglich weg zu kommen, hörte sie ein Pfeifen hinter sich, dann hektische Rufe nach der Wache.
„Weg hier, Ruth!“, sagte Scarlet, und die beiden eilten die Gasse hinunter davon und verloren sich in der Menge. Zumindest hatte Ruth nun gefressen.
Doch Scarlets eigener Hunger war überwältigend, und sie wusste nicht, ob sie ihn noch viel länger in Zaum halten konnte. Sie wusste nicht, was mit ihr passierte, doch als sie eine Straße nach der anderen hinunterliefen, stellte sie fest, dass sie die Hälse der Menschen untersuchte. Sie fokussierte auf ihre Adern, sah ihr Blut pulsieren. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich die Lippen leckte und den Wunsch—den Drang—verspürte, ihre Zähne hineinzubohren. Sie dachte mit Begierde daran, ihr Blut zu trinken, und ertappte sich dabei, sich auszumalen, wie es sich anfühlen würde, wenn das Blut ihre Kehle hinunterrann. Sie konnte es nicht verstehen. War sie überhaupt noch menschlich? Verwandelte sie sich in ein wildes Tier?
Scarlet wollte niemandem wehtun. Im Kopf versuchte sie, sich zurückzuhalten.
Doch im Körper wurde sie von etwas überwältigt. Es stieg aus ihren Zehenspitzen hoch, in ihre Beine, durch ihren Oberkörper bis an ihren Scheitel und in die Fingerspitzen. Es war ein Verlangen. Ein unaufhaltsames, unstillbares Verlangen. Es übernahm ihre Gedanken, sagte ihr, was sie denken sollte, wie sie handeln sollte.
Plötzlich entdeckte Scarlet etwas: in der Ferne, irgendwo hinter ihr, jagte ein Trupp römischer Soldaten hinter ihr her. Ihr neues, hochempfindliches Gehör warnte sie durch den Laut ihrer Sandalen, die über den Steinboden klapperten. Sie wusste Bescheid, obwohl sie noch mehrere Häuserblocks entfernt waren.
Das Geräusch der Sandalen auf dem Stein reizte sie nur noch mehr; die Laute mischten sich in ihrem Kopf mit den Rufen der Händler, den lachenden Kindern, den bellenden Hunden… Es wurde ihr alles zu viel. Ihr Gehörsinn wurde zu intensiv, und sie war zu genervt von all dem Lärm. Auch die Sonne fühlte sich kräftiger an, als würde sie nur auf sie hinunterbrennen. Es war alles zu viel. Sie fühlte sich, als stünde sie unter dem Mikroskop der Welt und würde gleich explodieren.
Plötzlich lehnte sich Scarlet zurück, vor Wut überschwappend, und spürte etwas Neues mit ihren Zähnen geschehen. Sie spürte, wie ihre beiden Schneidezähne sich ausdehnten, spürte lange, scharfe Hauer hervorwachsen und aus ihnen hervorstehen. Sie wusste kaum, was das Gefühl war, doch sie wusste, dass sie sich verwandelte, in etwas, das sie kaum wiedererkennen oder kontrollieren konnte. Plötzlich entdeckte sie einen großen, fetten, betrunkenen Mann durch die Gasse stolpern. Scarlet wusste, dass sie entweder trinken musste, oder selbst sterben. Und etwas in ihr wollte überleben.
Scarlet hörte sich fauchen und war schockiert. Der Laut, so urgewaltig, erschreckte selbst sie. Sie fühlte sich, als wäre sie außerhalb ihres Körpers, als sie hochsprang und durch die Luft direkt auf den Mann zusprang. Sie sah wie in Zeitlupe zu, wie er sich ihr zu drehte, die Augen vor Angst weit aufgerissen. Sie spürte, wie sich ihre beiden Vorderzähne in sein Fleisch bohrten, in die Adern an seinem Hals. Und einen Augenblick später spürte sie sein heißes Blut in ihre Kehle rinnen, ihre Adern füllen.
Sie hörte den Mann schreien, für nur einen Moment. Denn eine Sekunde später lag er zusammengebrochen am Boden, und sie war auf ihm und saugte all sein Blut aus ihm. Langsam spürte sie ein neues Leben, eine neuer Energie, ihren Körper durchdringen.
Sie wollte zu trinken aufhören, diesen Mann am Leben lassen. Doch das konnte sie nicht. Sie brauchte das. Sie musste überleben.
Sie musste trinken.
KAPITEL SECHS
Sam rannte durch die Gassen von Jerusalem, fauchend, rot vor Zorn. Er wollte zerstören, alles in Sicht zerfetzen. Als er an einer Reihe Händler vorbeilief, streckte er die Hand aus und streifte ihre Buden, und sie fielen um wie Dominosteine. Er rempelte Leute absichtlich an, so fest er konnte, und warf sie in alle Richtungen um. Er war wie eine Abrissbirne, außer Kontrolle, warf sich durch die Gasse und schmiss alles um, was ihm im Weg war.
Chaos folgte; Schreie erhoben sich. Menschen fingen an, ihn zu bemerken, und sie flüchteten oder sprangen ihm aus dem Weg. Er war wie ein Güterzug der Zerstörung.
Die Sonne machte ihn wahnsinnig. Sie brannte auf seinen Kopf herunter, als wäre sie etwas Lebendiges, und erfüllte ihn mit immer mehr Rage. Er hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst, was wahre Rage war. Nichts schien ihn zufriedenzustellen.
Er sah einen großen, schlanken Mann und warf sich auf ihn, ihm die Zähne in den Hals bohrend. Dies alles geschah innerhalb eines Sekundenbruchteils; er saugte ihm das Blut aus und eilte dann weiter, seine Zähne in einen weiteren Hals bohrend. Er zog von einer Person zur nächsten, versenkte seine Zähne und saugte ihr Blut. Er bewegte sich so schnell, dass niemandem Zeit blieb, zu reagieren. Sie sackten alle zu Boden, einer nach dem anderen, und er hinterließ einen Pfad von ihnen. Er befand sich in einem Fressrausch, und er konnte spüren, wie sein Körper von ihrem Blut anschwoll. Und es war noch nicht genug.
Die Sonne brachte ihn an den Rand des Wahnsinns. Er brauchte Schatten, und zwar schnell. Er entdeckte ein großes Gebäude in der Ferne, ein offiziell wirkender, kunstvoll gestalteter Palast aus Kalkstein mit Säulen und riesigen gewölbten Toren. Ohne nachzudenken platzte er über den Vorhof und stürmte darauf zu, und trat das Tor auf.
Es war kühler hier drin, und endlich konnte Sam wieder atmen. Alleine die Sonne von seinem Kopf zu bekommen machte einen Unterschied. Er konnte seine Augen öffnen, und langsam passten sie sich an.
Sam entgegen starrten die verblüfften Gesichter von dutzenden Menschen. Die meisten von ihnen saßen in kleinen Becken, einzelnen Badewannen, während andere herumspazierten, barfuß auf dem Steinboden. Sie waren alle nackt. Und da erkannte Sam: er befand sich in einem Badehaus. Einem römischen Badehaus.
Die Decken waren hoch und gewölbt, Licht einlassend, und der Raum war von großen, gewölbten Säulen durchzogen. Der Boden war aus glänzendem Marmor, und kleine Becken füllten den weiten Raum. Leute lagen faul herum, sichtlich entspannend.
Das heißt, bis sie ihn sahen. Sie setzten sich hastig auf, und ihre Mienen wurden ängstlich.
Sam hasste den Anblick dieser Menschen—dieser faulen, reichen Leute, die herumgammelten, als hätten sie keine Sorgen auf der Welt. Er würde sie alle bezahlen lassen. Er warf den Kopf in den Nacken und brüllte.
Der Großteil der Menge war klug genug, sich davonzumachen, zu ihren Handtüchern und Roben zu eilen und so schnell wie möglich hier raus zu kommen.
Doch sie hatten nicht den Hauch einer Chance. Sam warf sich nach vorne, sprang die Näheste von ihnen an und versenkte seine Zähne in ihrem Hals. Er saugte ihr das Blut aus und sie brach auf dem Boden zusammen und kullerte in eine Badewanne, die sich rot färbte.
Er tat dies wieder und wieder, von einem Opfer zum nächsten springend, Männer wie Frauen. Schon bald war das Badehaus mit Leichen gefüllt, überall schwammen Tote, all die Becken waren rot gefärbt.
Plötzlich krachte es am Tor, und Sam wirbelte herum, um zu sehen, was es war.
Der Eingang war voll mit dutzenden römischen Soldaten. Sie trugen offizielle Uniformen—kurze Tuniken, Römersandalen, federbesetzte Helme—und führten Schilde und Kurzschwerter. Einige weitere führten Pfeil und Bogen. Sie legten an und zielten auf Sam.
„Bleib, wo du bist!“, schrie der Anführer.
Sam fauchte und drehte sich herum, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und fing an, auf sie zuzumarschieren.
Die Schüsse kamen. Dutzende Pfeile schossen durch die Luft, direkt auf ihn zu. Sam konnte sie in Zeitlupe glitzernd sehen, ihre silbernen Spitzen direkt auf ihn zu.
Doch er war schneller als sogar ihre Pfeile. Bevor sie ihn erreichen konnten, war er bereits hoch in die Luft gesprungen und machten einen Salto über sie alle hinweg. Mit Leichtigkeit durchquerte er den gesamten Raum—fünfzehn Meter—bevor die Bogenschützen auch nur ihre Hände locker ließen.
Sam kam mit den Füßen voran heruntergeschossen und trat den Mittleren von ihnen mit solcher Kraft in die Brust, dass er die gesamte Gruppe umstieß wie eine Reihe Dominosteine. Ein Dutzend Soldaten gingen zu Boden.
Bevor die anderen reagieren konnten, hatte sich Sam zwei Schwerter aus den Händen der Soldaten geschnappt. Er wirbelte und schnitt in alle Richtungen.
Sein Ziel war perfekt. Er schnitt einen Kopf nach dem anderen ab, dann drehte er sich herum und durchstieß den Überlebenden das Herz. Er schnitt sich durch die Menge wie durch Butter. In wenigen Sekunden waren dutzende Soldaten leblos zu Boden gesackt.
Sam fiel auf die Knie und bohrte jedem von ihnen seine Zähne ins Herz, trank und trank. Er kniete auf allen Vieren, vornübergebeugt wie ein Tier, schlemmte ihr Blut, immer noch im Versuch, seine Rage zu erfüllen, die grenzenlos war.
Dann war Sam fertig, aber immer noch nicht zufrieden. Er fühlte sich, als müsste er ganze Armeen bekämpfen, Massen der Menschheit auf einmal töten. Er würde wochenlang schlemmen müssen. Und selbst dann würde es nicht genug sein.
„SAMSON!“, kreischte eine fremde Frauenstimme.
Sam blieb wie angewurzelt stehen. Es war eine Stimme, die er schon jahrhundertelang nicht mehr gehört hatte. Es war eine Stimme, die er beinahe vergessen hatte, eine, von der er nie gedacht hatte, dass er sie je wieder hören würde.
Nur eine Person auf dieser Welt hatte ihn je Samson genannt.
Es war die Stimme seiner Schöpferin.
Da über ihm, auf ihn hinabblickend, ein Lächeln auf ihrem wunderschönen Gesicht, stand Sams erste wahre Liebe.
Da stand Samantha.
KAPITEL SIEBEN
Caitlin und Caleb flogen gemeinsam durch den klaren blauen Wüstenhimmel, nordwärts über das Land Israel, auf das Meer zu. Unter ihnen breitete sich die Landschaft aus, und Caitlin beobachtete, wie sich das Gelände unter ihnen veränderte, je weiter sie flogen. Da waren riesige Flecken Wüste, weit ausladende Gebiete von sonnengetrocknetem Lehm, gespickt mit Steinen, Felsbrocken, Bergen und Höhlen. Es gab kaum Menschen, abgesehen von dem gelegentlichen Schafhirten, von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet, eine Kapuze über dem Kopf, um ihn vor der Sonne zu schützen, seine Herde nicht weit hinter ihm folgend.
Doch je weiter sie nordwärts flogen, um so mehr änderte sich das Terrain. Die Wüste wich sanften Hügeln, und auch die Farben änderten sich, von trockenem, staubigem Braun zu üppigem Grün. Olivenhaine und Weingärten spickten die Landschaft. Doch immer noch waren nur wenige Menschen zu sehen.
Caitlin dachte über ihre Entdeckung in Nazareth nach. In diesem Brunnen hatte sie zu ihrem Schock einen kleinen, wertvollen Gegenstand gefunden, den sie nun in ihrer Hand festklammerte: einen goldenen Davidstern von der Größe ihrer Handfläche. Quer darüber war in kleiner, altertümlicher Schrift ein einzelnes Wort graviert: Kapernaum.
Es war für sie beide klar gewesen, dass dies eine Botschaft war, um ihnen zu sagen, wohin sie als Nächstes gehen mussten. Aber warum Kapernaum?, fragte sich Caitlin.
Sie wusste von Caleb, dass Jesus dort einige Zeit verbracht hatte. Hieß das, er würde sie dort erwarten? Und würde auch ihr Vater dort sein? Und, wie sie zu hoffen wagte, Scarlet?
Caitlin durchsuchte die Landschaft unter sich. Sie war erstaunt, wie unterbevölkert Israel zu dieser Zeit war. Sie war überrascht, wenn sie gelegentlich über ein Haus flog, da die Wohnstätten so spärlich gesät waren. Dies war immer noch ein ländliches, leeres Land. Die einzigen Städte, die sie gesehen hatte, waren eher Ortschaften, und selbst diese waren primitiv, fast alle Gebäude schlicht ebenerdig oder mit einem Stockwerk, und aus Stein erbaut. Sie hatte keine nennenswerten befestigten Straßen gesehen.
Als sie flogen, schwang sich Caleb zu ihr und griff nach ihrer Hand. Es fühlte sich gut an, ihn zu spüren. Sie musste sich fragen, zum millionsten Mal, warum sie hier und jetzt gelandet waren. So weit zurück. So weit weg. So anders als Schottland, als alles, was sie kannte.
Sie spürte tief im Inneren, dass dies die Endstation ihrer Reise war. Hier. Israel. Es war ein so mächtiger Ort zu jener Zeit, dass sie die Energie von allem ausstrahlen spüren konnte. Alles fühlte sich für sie spirituell geladen an, als würde sie in einem enormen Energiefeld wandeln und leben und atmen. Sie wusste, dass ihr etwas Bedeutsames bevorstand. Doch sie wusste nicht, was. War ihr Vater wirklich hier? Würde sie ihn jemals finden? Es war so frustrierend für sie. Sie hatte alle vier Schlüssel. Er sollte hier sein, dachte sie, und auf sie warten. Warum musste sie immer noch so weitersuchen?
Noch drängender waren ihre Gedanken an Scarlet. Sie blickte auf jeden Ort hinunter, den sie passierten, und suchte nach einem Anzeichen von ihr, von Ruth. Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie es vielleicht nicht geschafft hatte—doch rasch schob sie diese Gedanken beiseite und weigerte sich, zuzulassen, dass sie so negativ dachte. Sie konnte den Gedanken an ein Leben ohne Scarlet nicht ertragen. Sollte sich herausstellen, dass Scarlet tatsächlich fort war, wusste sie nicht, ob sie die Kraft haben würde, weiterzumachen.
Caitlin spürte den Davidstern in ihrer Hand brennen und dachte erneut darüber nach, wohin sie wohl unterwegs waren. Sie wünschte, sie wüsste mehr über das Leben Jesu; sie wünschte, sie hätte die Bibel als Kind aufmerksamer gelesen. Sie versuchte, sich zu erinnern, doch sie wusste wirklich nur die Grundlagen: Jesus hatte an vier Orten gelebt: Bethlehem, Nazareth, Kapernaum und Jerusalem. Sie hatten Nazareth gerade hinter sich gelassen und waren nun auf dem Weg nach Kapernaum.
Sie fragte sich, ob sie auf einer Schnitzeljagd waren, seinen Fußstapfen folgend, ob er vielleicht einen Hinweis für sie bereithielt, oder ob einer seiner Anhänger einen Hinweis darauf hatte, wo ihr Vater war, oder das Schild. Sie fragte sich wieder einmal, wie alles zusammenhängen konnte. Sie dachte an all die Kirchen und Klöster, die sie durch die Jahrhunderte besucht hatte, und spürte, dass da ein Zusammenhang bestand. Doch sie war nicht sicher, was es war.
Das Einzige, was sie über Kapernaum sicher wusste, war, dass es ein kleines, bescheidenes Fischerdörfchen in Galiläa war, an der Nordwestküste von Israel. Doch sie hatten schon seit Stunden keine Städte mehr passiert—tatsächlich war kaum überhaupt eine Menschenseele in Sicht gewesen—und sie hatte keine Spur von Wasser gesehen—noch viel weniger von einem Meer.
Dann, gerade als sie das dachte, flogen sie über einen Berggipfel hinweg, und als sie ihn überquert hatten, breitete sich die andere Seite des Tals vor ihr aus. Es raubte ihr den Atem. Da, sich endlos erstreckend, war ein schimmernder Ozean. Es war ein tieferes Blau, als sie je gesehen hatte, und es glitzerte geradezu in der Sonne, wie eine Schatzkiste. Daran angrenzend war ein prachtvoller Strand weißen Sandes, und die Wellen rauschten darüber, so weit das Auge reichte.
Caitlin verspürte aufgeregte Spannung. Sie waren in die richtige Richtung unterwegs; solange sie sich am Ufer hielten, würden sie nach Kapernaum gelangen.
„Da“, kam Calebs Stimme.
Sie folgte seinem Finger, kniff die Augen zusammen und blickte auf den Horizont hinaus, und konnte es gerade so erkennen: in der Ferne lag ein kleines Dorf. Es war kaum eine Stadt, kaum überhaupt eine Ortschaft. Da waren vielleicht zwei Dutzend Häuser und ein größeres Gebäude in die Küste eingebettet. Als sie näherkamen, kniff Caitlin die Augen zusammen, betrachtete es näher, doch konnte kaum jemanden sehen: nur ein paar wenige Dorfbewohner waren auf den Straßen unterwegs. Sie fragte sich, ob das an der Mittagssonne lag oder daran, dass es unbewohnt war.
Caitlin hielt Ausschau nach einem Anzeichen von Jesus selbst, doch sah nichts. Wichtiger noch, sie spürte nichts. Wenn es wahr war, was Caleb gesagt hatte, würde sie seine Energie von Weitem spüren können. Doch sie spürte keine ungewöhnliche Energie. Wieder einmal fragte sie sich, ob sie im richtigen Hier und Jetzt waren. Vielleicht hatte dieser Mann unrecht gehabt: vielleicht war Jesus vor Jahren schon verstorben. Oder vielleicht war er noch nicht einmal geboren.
Plötzlich schwang Caleb sich abwärts, auf das Dorf zu, und Caitlin folgte. Sie fanden eine unauffällige Stelle zum Landen, außerhalb der Stadtmauer, in einem Hain von Olivenbäumen. Dann schritten sie durch das Stadttor.
Sie gingen durch das kleine, staubige Dorf, und es war heiß; alles briet in der Sonne. Die wenigen herumschlendernden Bewohner schienen sie kaum zu bemerken; sie waren anscheinend nur darauf aus, Schatten zu finden und sich Luft zuzufächeln. Eine alte Dame trat an den Dorfbrunnen, hob einen großen Schöpflöffel hoch und trank, dann wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.
Wie sie so die kleinen Straßen durchquerten, wirkte der Ort vollständig verlassen. Caitlin hielt nach irgendeinem Anzeichen Ausschau, irgendetwas, das sie zu einem Hinweis führen konnte, einer Spur von Jesus, oder ihrem Vater, oder dem Schild, oder Scarlet—doch sie fand nichts.
Sie wandte sich an Caleb.
„Was nun?“, fragte sie.
Caleb blickte ahnungslos zurück. Er schien genauso ratlos zu sein wie sie.
Caitlin drehte sich herum, betrachtete die Dorfmauern, die bescheidene Bauweise, und wie sie so durch den Ort blickte, bemerkte sie einen schmalen, ausgetretenen Pfad, der zum Meer führte. Als sie den Pfad hinunterblickte, durch ein Stadttor hinaus, sah sie in der Ferne das Schimmern des Ozeans.
Sie stupste Caleb an, und auch er sah es und folgte ihr, als sie die Stadt verließ und auf das Ufer zuwanderte.
Als sie sich der Küste näherten, sah Caitlin drei kleine, bunte Fischerboote, wettergegerbt, halb gestrandet im Sand, in den Wellen schaukeln. In einem saß ein Fischer, und neben den anderen beiden, knöcheltief im Ozean, standen zwei weitere Fischer. Es waren ältere Herren mit grauem Haar und dazu passenden Bärten, und Gesichtern, die ebenso wettergegerbt waren wie ihre Boote, sonnengebräunt, mit tiefen Falten. Sie trugen weiße Roben und weiße Kapuzen zum Schutz vor der Sonne.
Caitlin sah zu, wie zwei von ihnen ein Netz einholten und es langsam durch die Wellen zogen. Sie zerrten daran, kämpften mit den Wellen, und ein kleiner Junge sprang aus einem der Boote und rannte zum Netz, um ihnen zu helfen, es einzuholen. Als es das Ufer erreichte, sah Caitlin, dass sie dutzende Fische gefangen hatten, die zappelten und sprangen. Der Junge quietschte vor Freude, während die alten Männer unberührt schienen.
Caitlin und Caleb hatten sich ihnen so leise genähert—besonders mit dem Wellenrauschen im Hintergrund—dass sie sie immer noch nicht bemerkt hatten. Caitlin räusperte sich, um sie nicht zu erschrecken.
Sie alle wirbelten zu ihr herum, und sie konnte sehen, wie überrascht sie waren. Sie konnte es ihnen nicht verdenken: sie mussten ein schockierender Anblick sein, sie beide, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, in moderner Kampfmontur in Leder. Sie mussten ausgesehen haben, als wären sie direkt vom Himmel gefallen.
„Es tut uns leid, Sie zu stören“, fing Caitlin an, „aber sind wir in Kapernaum?“, fragte sie den, der ihr am Nächsten stand.
Er blickte von ihr au Caleb, dann zurück zu ihr. Langsam nickte er zur Antwort.
„Wir suchen jemanden“, fuhr Caitlin fort.
„Und wer soll das sein?“, fragte der andere Fischer.
Caitlin war kurz davor, „meinen Vater“ zu sagen, doch sie hielt sich zurück, da sie erkannte, dass das nutzlos sein würde. Wie sollte sie ihn schon beschreiben? Sie wusste nicht einmal, wer er war oder wie er aussah.
Also nannte sie stattdessen die einzige Person, die ihr einfiel, die sie erkennen könnten: „Jesus.“
Sie rechnete fast damit, dass sie sie verspotten würden, sie auslachen, sie ansehen, als wäre sie verrückt—oder dass sie keine Ahnung haben würden, wer Jesus war.
Doch zu ihrer Überraschung schienen sie von ihrer Frage nicht überrascht; sie nahmen sie ernst.
„Er ist vor zwei Wochen abgereist“, sagte einer von ihnen.
Caitlins Herz setzte kurz aus. Also. Es stimmte. Er lebte tatsächlich. Sie waren tatsächlich in seiner Zeit. Und er war wirklich hier gewesen, in diesem Dorf.
„Und alle seine Anhänger mit ihm“, sagte der andere. „Nur die alten Leute wie wir und die Kinder blieben zurück.“
„Also ist er echt?“, fragte Caitlin schockiert. Sie konnte es immer noch kaum glauben; es war fast zu viel, um es zu erfassen.
Der Junge trat nahe an Caitlin heran.
„Er hat die Hand meines Opas wieder gut gemacht“, sagte der Junge. „Schau nur. Er hatte Lepra. Jetzt ist er gesund. Zeig es ihr, Opa“, sagte der Junge.
Der alte Mann drehte sich langsam herum und zog den Ärmel zurück. Seine Hand sah völlig normal aus. Genauer gesagt, als Caitlin genau hinsah, wirkte es, als würde eine Hand deutlich jünger aussehen als die andere. Es war unheimlich. Er hatte die Hand eines 18jährigen. Rosig und gesund—als hätte man ihm eine neue Hand gegeben.
Caitlin konnte es nicht glauben. Jesus war echt. Er konnte wirklich Leute heilen.
Die Hand dieses Mannes anzusehen, der einst ein Leprakranker war, sie völlig geheilt zu sehen, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Es machte alles real. Zum ersten Mal hatte sie Hoffnung, dass sie ihn wirklich finden würde, und wirklich ihren Vater finden könnte, und das Schild. Und dass sie sie zu Scarlet führen konnten.
„Wisst ihr, wohin er gegangen ist?“, fragte Caleb.
„Jerusalem, soweit wir gehört haben“, rief einer der anderen Fischer über das Rauschen der Wellen hinweg.
Jerusalem, dachte Caitlin. Es fühlte sich so weit weg an. Sie waren den ganzen Weg hierher nach Kapernaum geflogen. Und nun schien es, als wäre das völlig sinnlos gewesen. Nach all dem würden sie umkehren und mit leeren Händen davonziehen müssen.
Doch sie konnte den Davidstern in ihrer Hand brennen spüren, und sie war sich sicher, dass es einen Grund geben musste, warum sie nach Kapernaum geschickt worden waren. Sie hatte das Gefühl, dass da noch mehr war, was sie finden mussten.
„Einer seiner Apostel ist noch hier“, sagte ein Fischer. „Paulus. Ihn könnt ihr fragen. Es kann sein, dass er genau weiß, wohin sie unterwegs sind.“
„Wo ist er?“, fragte Caitlin.
„Da, wo sie sich alle aufgehalten haben. In der alten Synagoge“, sagte der Mann. Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter hinweg.
Caitlin blickte über ihre Schulter und sah auf einem Hügel, den Ozean überblickend, einen wunderschönen kleinen Tempel aus Kalkstein. Selbst in dieser Zeit sah er bereits uralt aus. Mit kunstvollen Säulen verziert blickte er über das Meer hinaus, mit direktem Ausblick auf die rauschenden Wellen. Selbst von hier konnte Caitlin spüren, dass es ein heiliger Ort war.
„Es war die Synagoge von Jesus“, sagte einer der Männer. „Dort verbrachte er all seine Zeit.“






