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Sie fühlte sich einsam. Prüfend kontrollierte sie ihr Handy. Auf Facebook hatte sie einige Mitteilungen von Freunden aus ihrem letzten Wohnort bekommen. Sie wollten wissen, wie es ihr in New York City gefiel. Aber ihr war nicht danach, ihnen zu antworten, sie waren so weit weg.
Caitlin bekam kaum etwas hinunter, offensichtlich war die Übelkeit des ersten Tages noch nicht ganz verschwunden. Also versuchte sie, an etwas anderes zu denken. Sie schloss die Augen und dachte an ihre neue Wohnung im fünften Stock eines schmutzigen Gebäudes ohne Fahrstuhl in der 132. Straße. Sofort wurde ihr noch übler. Sie atmete tief durch und zwang sich, an etwas Schönes in ihrem Leben zu denken.
An ihren kleinen Bruder. An Sam. Er war vierzehn und ging scharf auf die zwanzig zu. Sam schien immer zu vergessen, dass er der Jüngere war – er benahm sich, als wäre er ihr älterer Bruder. Inzwischen war er tough und abgebrüht, weil sie ständig umzogen, ihr Dad sie verlassen hatte und wegen der Art und Weise, wie ihre Mutter ihre beiden Kinder behandelte. Caitlin sah, wie sehr ihm das alles zu schaffen machte, und sie registrierte, dass er anfing, sich abzukapseln. Seine häufigen Streitereien in der Schule überraschten sie nicht. Vielmehr fürchtete sie, dass das alles noch schlimmer werden würde.
Aber was Caitlin anging, so liebte Sam sie aus ganzem Herzen. Und sie ihn. Er war die einzige Konstante in ihrem Leben, der einzige Mensch, auf den sie sich verlassen konnte. Offensichtlich war sie das Einzige auf der Welt, wofür er noch eine Schwäche hatte. Deshalb war sie fest entschlossen, sich alle Mühe zu geben, um ihn zu beschützen.
»Caitlin?«
Sie zuckte zusammen.
Neben ihr stand Jonah. Mit der einen Hand balancierte er ein Tablett, und in der anderen trug er einen Geigenkasten.
»Darf ich mich zu dir setzen?«
»Ja, ja natürlich«, stammelte sie verwirrt.
Idiotin, dachte sie. Hör auf, nervös zu sein.
In Jonahs Gesicht blitzte sein Lächeln auf, dann nahm er gegenüber Platz. Er saß sehr gerade, nahm eine perfekte Körperhaltung ein und legte seine Geige vorsichtig neben sich. Dann erst stellte er behutsam sein Tablett mit dem Essen ab. Er hatte etwas an sich, was sie nicht richtig einordnen konnte. Er war anders als alle Menschen, die sie bisher kennengelernt hatte. Es war, als stammte er aus einer anderen Epoche. Und er gehörte definitiv nicht an diesen Ort.
»Wie war dein erster Tag?«, fragte er.
»Nicht so, wie ich es erwartet hatte.«
»Ich weiß, was du meinst«, erwiderte er.
»Ist das eine Geige?«
Sie deutete mit dem Kinn auf sein Instrument. Er behielt es nahe bei sich und hatte eine Hand darauf gelegt, als hätte er Angst, es könnte gestohlen werden.
»Genau genommen ist es eine Bratsche. Sie ist nur ein bisschen größer als eine Geige, hat aber einen ganz anderen Klang. Viel weicher.«
Sie hatte noch nie eine Bratsche gesehen und hoffte, er würde sie auf den Tisch legen, um sie ihr zu zeigen. Aber er machte keine Anstalten, sie aus dem Kasten zu nehmen, und Caitlin wollte nicht zu neugierig wirken. Seine Hand ruhte immer noch auf dem Instrument, es sah aus, als würde er es beschützen, als wäre es etwas Persönliches, etwas Privates.
»Übst du viel?«
Jonah zuckte mit den Schultern. »Einige Stunden täglich«, antwortete er lapidar.
»Einige Stunden!? Du musst großartig spielen!«
Wieder zuckte er mit den Schultern. »Ich spiele vermutlich ganz passabel. Es gibt viele Musiker, die viel besser sind als ich. Aber ich hoffe, es ist meine Fahrkarte, um von dieser Schule wegzukommen.«
»Ich wollte immer gerne Klavier spielen«, gestand Caitlin.
»Warum tust du es dann nicht?«
Sie wollte gerade sagen: Weil ich nie ein Klavier hatte, verkniff es sich dann aber. Stattdessen zuckte sie mit den Schultern und richtete den Blick auf ihren Teller.
»Dazu musst du kein eigenes Klavier besitzen«, erklärte Jonah.
Sie sah ihn an, verblüfft, dass er ihre Gedanken gelesen hatte.
»Hier in der Schule haben sie einen Proberaum. Neben all den ganzen schlechten Dingen hier gibt es also auch etwas Gutes. Du kannst kostenlosen Unterricht bekommen, du musst dich nur anmelden.«
Erstaunt riss Caitlin die Augen auf.
»Wirklich?«
»Vor dem Musikraum hängt eine Anmeldeliste. Frag nach Mrs. Lennox und sag ihr, dass du eine Freundin von mir bist.«
Freundin. Das gefiel Caitlin. Sie spürte, wie sich langsam ein Glücksgefühl in ihr ausbreitete.
Sie lächelte, und ihre Blicke trafen sich.
Als sie in seine leuchtend grünen Augen starrte, brannte sie darauf, ihm eine Million Fragen zu stellen: Hast du eine Freundin? Warum bist du so nett zu mir? Magst du mich wirklich?
Doch stattdessen biss sie sich lieber auf die Zunge und schwieg.
Sie fürchtete, dass ihr gemeinsames Essen bald vorbei sein würde, und zerbrach sich den Kopf, wie sie ihre Unterhaltung verlängern könnte. Angestrengt suchte sie nach einer Frage, die ihr ein Wiedersehen mit ihm sichern würde. Aber sie wurde nur noch nervöser und erstarrte in Schweigen.
Schließlich öffnete sie doch noch den Mund, um etwas zu sagen, aber genau in dem Augenblick klingelte es.
Im Raum brachen Lärm und Unruhe aus. Jonah stand auf und griff nach seiner Bratsche.
»Ich bin spät dran«, erklärte er und nahm sein Tablett.
Dann warf er einen Blick auf ihr Tablett. »Soll ich deins auch mitnehmen?«
Sie stellte fest, dass sie es völlig vergessen hatte, und schüttelte den Kopf.
»Okay«, meinte er.
Auf einmal wirkte er schüchtern. Anscheinend wusste er nicht, was er sagen sollte.
»Naja … dann bis bald.«
»Bis bald«, echote sie lahm; doch ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.
Als ihr erster Schultag zu Ende war, trat Caitlin hinaus in den sonnigen Märznachmittag. Obwohl es sehr windig war, fror sie nun nicht mehr. Die Kids um sie herum schrien und kreischten, aber der Lärm machte ihr nichts mehr aus. Sie fühlte sich lebendig und frei. Den Rest des Tages hatte sie in einer Art Nebel verbracht, und sie konnte sich nicht einmal an den Namen eines einzigen neuen Lehrers erinnern.
Die ganze Zeit kreisten ihre Gedanken um Jonah.
Ständig fragte sie sich, ob sie sich in der Cafeteria nicht wie eine Idiotin benommen hatte. Schließlich war sie über ihre eigenen Worte gestolpert und hatte ihm kaum eine Frage gestellt. Ihr war tatsächlich nichts Besseres eingefallen, als sich nach dieser dämlichen Bratsche zu erkundigen. Stattdessen hätte sie lieber in Erfahrung bringen sollen, wo er wohnte, woher er kam und an welchem College er sich bewerben wollte.
Am wichtigsten wäre die Frage gewesen, ob er eine Freundin hatte. Ein Typ wie er musste doch mit jemandem zusammen sein.
Genau in dem Moment eilte eine hübsche, gut gekleidete Latina an Caitlin vorbei. Caitlin musterte sie von Kopf bis Fuß und fragte sich einen Moment lang, ob sie seine Freundin sein könnte.
Caitlin bog in die 134. Straße ein und wusste für einen Moment wusste sie nicht mehr, wohin sie wollte. Es war das erste Mal, dass sie von der Schule nach Hause ging, und gerade wollte ihr einfach nicht einfallen, wo sich ihre neue Wohnung befand. Orientierungslos blieb sie an der Straßenecke stehen. Eine Wolke verdunkelte die Sonne, der Wind frischte auf, und plötzlich fror sie wieder.
»Hey, amiga!«
Caitlin wandte sich um und bemerkte, dass sie vor einer schmuddeligen Eckkneipe – oder eher Bodega – stand. Vier verwahrlost aussehende Männer saßen auf Plastikstühlen davor. Sie spürten die Kälte offensichtlich gar nicht und grinsten Caitlin an, als wäre sie ihre nächste Mahlzeit.
»Komm rüber, Baby!«, rief ein anderer Mann.
Jetzt fiel es ihr wieder ein.
Die 132. Straße – das war die Adresse.
Schnell drehte sie sich um und ging strammen Schritts eine andere Seitenstraße hinunter. Dabei warf sie einige Male einen Blick über die Schulter, um zu kontrollieren, ob diese Männer ihr folgten. Glücklicherweise taten sie es nicht.
Der kalte Wind brannte auf ihren Wangen und sorgte dafür, dass sie hellwach war, während sie die harte Realität ihrer neuen Wohngegend auf sich wirken ließ. Sie betrachtete die stillgelegten Autos, die Schmierereien an den Hauswänden, den Stacheldraht, die Gitter vor den Fenstern … Plötzlich fühlte sie sich wieder schrecklich allein, und ihr war sehr beklommen zumute.
Sie war nur noch drei Häuserblocks von ihrem Apartment entfernt, aber es kam ihr vor wie eine halbe Ewigkeit. Insgeheim wünschte sie sich, sie hätte einen Freund an ihrer Seite – am liebsten Jonah. Würde sie wirklich in der Lage sein, diesen Weg jeden Tag allein zu bewältigen? Sie war wütend auf ihre Mom. Wie konnte sie ihr nur zumuten, ständig umzuziehen? Wie konnte sie sie immer wieder an neue Orte verpflanzen, die sie hasste? Wann würde das je aufhören?
Glasscherben.
Caitlins Herz schlug schneller, als sie sah, dass auf der anderen Straßenseite etwas vor sich ging. Mit gesenktem Kopf beschleunigte sie ihre Schritte, aber als sie näherkam, hörte sie Schreie und gehässiges Gelächter. Sie kam nicht umhin zu bemerken, was dort geschah.
Vier große Typen – vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt – standen um einen Jungen herum. Zwei von ihnen hielten ihn an den Armen fest, während der Dritte vortrat und ihm einen Schlag in den Bauch versetzte und der Vierte ihn ins Gesicht boxte. Das Opfer war ungefähr siebzehn, groß, dünn und wehrlos. Der Junge fiel zu Boden, und zwei der Angreifer traten ihm ins Gesicht.
Caitlin blieb unwillkürlich stehen und starrte hinüber. Sie war entsetzt, so etwas hatte sie noch nie erlebt.
Die anderen Jungen gingen um ihr Opfer herum und traten mit ihren Stiefeln zu.
Caitlin fürchtete, dass sie den Jungen umbringen würden.
»NEIN!«, schrie sie.
Ein übles, knirschendes Geräusch war zu hören.
Aber es klang nicht nach brechenden Knochen – es hörte sich eher nach Holz an. Holz, das zermalmt wurde. Jetzt erkannte Caitlin, dass sie auf einem kleinen Musikinstrument herumtrampelten. Sie sah genauer hin und entdeckte Teile einer Bratsche, die verstreut auf dem Gehweg herumlagen.
Entsetzt schlug sie sich die Hand vor den Mund.
»Jonah!?«
Ohne nachzudenken, überquerte Caitlin die Straße und lief geradewegs auf die Typen zu, die sie inzwischen ebenfalls bemerkt hatten. Sie sahen sie an, und ihr fieses Grinsen wurde noch breiter, während sie sich gegenseitig mit den Ellbogen anstießen.
Jetzt stand sie vor dem Opfer und stellte fest, dass es sich in der Tat um Jonah handelte. Er blutete im Gesicht und hatte diverse Blutergüsse. Außerdem war er bewusstlos.
Sie sah zu den vier Rowdys auf. Ihre Wut war stärker als ihre Furcht, und so stellte sie sich zwischen Jonah und die anderen.
»Lasst ihn in Ruhe!«, schrie sie.
Der Typ in der Mitte, der mindestens einen Meter neunzig groß und sehr muskulös war, lachte.
»Und wenn nicht?«, fragte er mit tiefer Stimme.
Da wurde Caitlin plötzlich heftig von hinten gestoßen. Sie hob die Arme, um sich abzufangen, aber das milderte ihren harten Aufprall auf dem Asphalt kaum. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ihr Tagebuch durch die Luft flog; die einzelnen Blätter verteilten sich überall um sie herum.
Sie hörte jemanden lachen, und Schritte näherten sich.
Ihr Herz klopfte heftig, und ihr Adrenalinspiegel stieg sprunghaft an. Es gelang ihr, sich zur Seite zu rollen und aufzuspringen, bevor sie sie erreichten. Dann sprintete sie die Straße entlang und rannte um ihr Leben.
Die Verfolger waren ihr dicht auf den Fersen.
Auf einer der vielen Schulen, die sie besucht hatte, hatte Caitlin sich für Leichtathletik angemeldet – damals, als sie noch geglaubt hatte, sie würde auf Dauer dort bleiben. Schnell hatte sie festgestellt, dass sie Talent hatte. Sie war sogar die Beste im Team gewesen, und zwar nicht bei Langstreckenläufen, sondern im Sprint. Damals war sie sogar schneller gewesen als die meisten Jungen, das kam ihr jetzt zugute.
Sie rannte, was das Zeug hielt, und die Typen schafften es nicht, sie einzuholen.
Schnell warf Caitlin einen Blick hinter sich. Als sie sah, wie weit die anderen zurückblieben, war sie optimistisch, dass sie sie abhängen konnte. Jetzt musste sie bloß noch den richtigen Weg wählen.
Die Straße endete in einer T-Kreuzung, also konnte sie entweder nach links oder nach rechts abbiegen. Wenn sie ihren Vorsprung halten wollte, würde sie keine Zeit haben, es sich noch einmal anders zu überlegen, das hieß, sie musste sich schnell entscheiden. Da sie nicht sehen konnte, wohin die Straßen führten, bog sie blindlings nach links ab.
Sie betete, dass sie die richtige Wahl getroffen hatte. Bitte!
Doch als die Straße einen scharfen Linksknick machte, stockte ihr Herz. Sie erkannte, dass sie eine Sackgasse erwischt hatte.
Falscher Schachzug.
Eine Sackgasse. Sie lief bis zur Mauer und suchte nach einem Ausweg. Als sie begriff, dass es keinen gab, drehte sie sich um, um sich ihren Verfolgern zu stellen.
Völlig außer Atem sah sie zu, wie sie um die Ecke bogen und näherkamen. Über ihre Schultern hinweg konnte sie erkennen, dass sie in Sicherheit gewesen wäre, wenn sie sich für die andere Richtung entschieden hätte. Natürlich. Wie sollte es auch anders sein.
»Okay, du Schlampe«, drohte einer von ihnen, »jetzt bist du dran.«
Langsam und heftig atmend kamen sie auf sie zu und grinsten breit. Offenbar waren sie bereits voller Vorfreude, weil sie ihr gleich wehtun würden.
Caitlin schloss die Augen und atmete tief durch. Sie wünschte sich mit aller Macht, dass Jonah aufwachen und um die Ecke biegen würde – hellwach und allmächtig, bereit, sie zu retten. Aber als sie die Augen öffnete, war er nicht das. Nur ihre Angreifer. Sie kamen immer näher.
Sie dachte daran, wie sehr sie ihre Mom dafür hasste, dass sie ihre Kinder gezwungen hatte, ständig umzuziehen. Sie dachte an ihren Bruder Sam. Sie dachte daran, wie ihr Leben wohl nach diesem Tag sein würde.
Sie ließ ihr ganzes Leben Revue passieren, und ihr wurde bewusst, wie ungerecht man sie behandelt hatte. Nie war etwas gut für sie gelaufen. Und dann machte es plötzlich Klick. Sie hatte genug davon.
Das verdiene ich nicht. DAS VERDIENE ICH EINFACH NICHT!
Und plötzlich spürte sie es.
Es überkam sie wie eine Welle, und es war anders als alles, was sie bisher erlebt hatte. Unkontrollierbare Wut überkam sie und schoss durch ihre Adern. Es fing in ihrem Bauch an und breitete sich von dort aus weiter aus. Ihre Füße fühlten sich an, als wären sie im Boden verwurzelt, als wären sie eins mit dem Asphalt, und eine urtümliche Kraft ergriff Besitz von ihr. Sie strömte durch ihre Handgelenke, die Arme hinauf bis in ihre Schultern.
Caitlin stieß einen Urschrei aus, der sogar sie selbst überraschte und erschreckte. Als dann der erste Typ seine kräftige Hand auf ihr Handgelenk legte, sah sie zu, wie ihre Hand sich selbstständig machte, das Handgelenk des Angreifers ergriff und es im rechten Winkel zurückbog. Er verzog das Gesicht vor Schreck und auch vor Schmerz, als sein Handgelenk brach.
Schreiend fiel er auf die Knie.
Die anderen drei rissen erstaunt die Augen auf.
Der Größte stürzte sich sofort auf sie.
»Du verd…«
Doch noch bevor er seinen Satz beenden konnte, war sie in die Luft gesprungen und hatte ihm beide Füße in die Brust gerammt. Er flog rund drei Meter rückwärts und knallte scheppernd in einen Haufen Blechmülltonnen.
Bewegungslos blieb er liegen.
Die anderen beiden Jungs tauschten erschrockene Blicke. Die Furcht stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
Unmenschliche Kraft strömte durch Caitlins Körper, und sie hörte sich selbst wütend knurren. Dann hob sie die beiden verbliebenen Gegner (von denen jeder doppelt so groß war wie sie) mit je einer Hand vom Boden in die Höhe.
Als sie dort oben in der Luft baumelten, holte sie aus und knallte die beiden mit unglaublicher Wucht gegeneinander. Sie stürzten zu Boden.
Schäumend vor Wut stand Caitlin über ihnen und sah sich um.
Keiner der vier Angreifer rührte sich.
Aber sie empfand keine Erleichterung. Im Gegenteil, sie wollte mehr. Mehr Kids, mit denen sie kämpfen konnte. Mehr Körper, um sie durch die Gegend zu werfen.
Und außerdem wollte sie noch etwas anderes.
Plötzlich hatte sie eine glasklare Vision und war in der Lage, ihre entblößten Hälse heranzuzoomen. Sie konnte alles millimetergenau erkennen – sie sah sogar ihre Venen pulsieren. Es war offensichtlich: Sie wollte zubeißen, und sie wollte Nahrung.
Weil sie nicht verstand, was mit ihr geschah, warf sie den Kopf zurück und stieß einen schauerlichen Schrei aus, der unheimlich von den Gebäuden widerhallte. Es war der urtümliche Schrei des Sieges und der ungestillten Wut.
Es war der Schrei eines Tieres, das mehr wollte.
2. Kapitel
Caitlin stand vor ihrer neuen Wohnung, starrte die Tür an und begriff erst langsam, wo sie war. Sie hatte keine Ahnung, wie sie hierher gelangt war. Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war die enge Straße. Irgendwie war es ihr wohl gelungen, nach Hause zu gehen.
Trotz ihres Blackouts erinnerte sie sich an alles, was in dieser engen Gasse passiert war. Sie versuchte, die Bilder aus ihrem Kopf zu vertreiben, aber es funktionierte nicht. Sie betrachtete ihre Arme und Hände, weil sie damit rechnete, dass sie jetzt anders aussahen – doch sie waren ganz normal. Genau so wie immer. Die Wut war in sie gefahren, hatte sie verwandelt und war ebenso schnell wieder verschwunden.
Aber die Nachwirkungen blieben. Sie fühlte sich ausgelaugt und leer, irgendwie benommen. Und sie fühlte noch etwas, aus dem sie nicht schlau wurde. In ihrem Kopf blitzten immer wieder bestimmte Bilder auf, Bilder von den entblößten Hälsen dieser Tyrannen. Von ihren Venen, die im Rhythmus ihres Herzschlags pulsierten. Und sie spürte den Hunger. Ein heftiges Verlangen.
Eigentlich wollte Caitlin gar nicht nach Hause – sie wollte sich nicht mit der neuen Wohnung und dem Auspacken beschäftigen. Wenn Sam nicht gewesen wäre, hätte sie sich vielleicht einfach umgedreht und wäre gegangen. Sie hatte keine Ahnung, wohin – aber gegangen wäre sie trotzdem.
Doch schließlich atmete sie tief ein und legte die Hand auf den Türknauf. Entweder war der Knauf warm, oder ihre Hand war eiskalt.
Caitlin betrat die hell erleuchtete Wohnung. Sie roch, dass Essen auf dem Herd stand – oder wahrscheinlich eher in der Mikrowelle. Sam. Er kam immer früh nach Hause und machte sich etwas zu essen. Ihre Mom würde erst in einigen Stunden heimkommen.
»Das sieht nicht nach einem tollen ersten Tag aus.«
Verblüfft drehte Caitlin sich um. Ihre Mom war doch schon zu Hause. Sie saß auf der Couch und rauchte eine Zigarette. Wütend musterte sie Caitlin von Kopf bis Fuß.
»Was hast du gemacht? Wie hast du es geschafft, diesen Pulli so dermaßen zu ruinieren?«
Caitlin sah an sich hinunter. Die Schmutzflecken waren ihr noch gar nicht aufgefallen; wahrscheinlich waren sie von ihrem Sturz.
»Warum bist du so früh zu Hause?«, wollte Caitlin wissen.
»Für mich war es auch der erste Tag, wie du weißt«, erwiderte ihre Mutter barsch. »Du bist nicht die Einzige. Aber es war nicht genug zu tun, deshalb hat der Chef mich früher nach Hause geschickt.«
Caitlin konnte den fiesen Ton ihrer Mom nicht mehr ertragen. Nicht heute Abend. Eigentlich war sie ihrer Tochter gegenüber immer pampig, doch heute hatte Caitlin die Nase voll davon. Sie beschloss, es ihr mit gleicher Münze heimzuzahlen.
»Super!«, schnauzte sie zurück. »Heißt das, dass wir wieder umziehen werden?«
Ihre Mom sprang auf die Füße. »Hüte deine Zunge!«, schrie sie.
Caitlin wusste, dass ihre Mutter nur auf einen Vorwand gewartet hatte, um sie anzuschreien. Ihr war auch klar, dass es am besten war, das Gespräch schnell zu beenden.
»Du solltest nicht rauchen, wenn Sam in der Nähe ist«, erwiderte Caitlin kühl, ging in ihr winziges Zimmer, knallte die Tür hinter sich zu und schloss ab.
Ihre Mom trommelte gegen die Tür.
»Komm sofort wieder raus, du kleines Luder! Wie sprichst du denn mit deiner Mutter? Wer sorgt denn dafür, dass das Essen auf den Tisch kommt …«
An diesem Abend war Caitlin so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie die Stimme ihrer Mom ausblenden konnte. Stattdessen ging sie in Gedanken die Ereignisse des Tages noch mal durch: wie diese Kids gelacht hatten, das Geräusch ihres eigenen Herzschlags, ihr eigener brüllender Schrei.
Was genau war geschehen? Wieso hatte sie plötzlich so viel Kraft? Lag es nur an dem Adrenalinstoß? Sie wünschte sich, dass es so wäre. Aber gleichzeitig war ihr klar, dass es nicht allein am Adrenalin gelegen haben konnte. Was war sie?
Das Hämmern an ihrer Tür ging weiter, aber Caitlin hörte es kaum. Ihr Handy lag auf dem Schreibtisch und vibrierte wie verrückt. Es blinkte, weil sie neue Kurzmitteilungen, E-Mails und Facebook-Nachrichten erhalten hatte – aber auch das registrierte sie kaum.
Stattdessen ging zu dem winzigen Fenster und sah hinunter auf die Ecke der Amsterdam Avenue. In ihrem Kopf hörte sie Jonahs Stimme. Seine leise, tiefe, beruhigende Stimme. Und sie sah sein Lächeln. Schnell rief sie sich ins Gedächtnis, wie schlaksig er war, wie zerbrechlich er wirkte. Dann sah sie ihn auf dem Boden liegen, blutend, daneben die Bruchstücke seines kostbaren Instruments. Wieder stieg Zorn in ihr auf.
Doch ihr Zorn schlug in Sorge um – Sorge darum, ob es ihm gut ging, ob er aufgestanden war, ob er es nach Hause geschafft hatte. Sie stellte sich vor, wie er nach ihr rief. Caitlin. Caitlin.
»Caitlin?«
Eine andere Stimme drang durch die Tür. Eine Jungenstimme.
Verwirrt schreckte sie auf.
»Ich bin’s, Sam. Lass mich rein.«
Sie ging zur Tür und lehnte den Kopf dagegen.
»Mom ist weg«, sagte die Stimme auf der anderen Seite. »Sie holt Zigaretten. Komm schon, lass mich rein.«
Sie öffnete die Tür.
Dort stand Sam und starrte sie besorgt an. Er sah älter aus als fünfzehn. Sicher, er war früh gewachsen und hatte schon einen Meter achtzig erreicht, aber das Breitenwachstum stand noch aus. Im Moment war er linkisch und schlaksig. Er hatte schwarze Haare, braune Augen, und sein Teint glich ihrem. Man sah eindeutig, dass sie miteinander verwandt waren. Sie merkte, wie besorgt er war. Er liebte sie über alles.
Schnell ließ sie ihn herein und schloss die Tür direkt wieder.
»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Ich kann sie heute Abend einfach nicht ertragen.«
»Was ist zwischen euch beiden denn vorgefallen?«
»Das Übliche. Sie ist bereits in dem Moment auf mich losgegangen, als ich zur Tür reingekommen bin.«
»Ich glaube, sie hatte einen harten Tag«, vermutete Sam. Wie immer versuchte er, Frieden zwischen ihnen zu stiften. »Ich hoffe, sie wird nicht wieder rausgeschmissen.«
»Wen interessiert das? New York, Arizona, Texas … Was spielt es schon für eine Rolle, was als Nächstes kommt? Unsere Umzieherei wird niemals aufhören.«
Sam saß auf ihrem Schreibtischstuhl und runzelte die Stirn. Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen. Manchmal hatte sie wirklich eine scharfe Zunge und redete, ohne nachzudenken; doch jetzt wünschte sie, sie könnte ihre Worte zurücknehmen.
»Wie war denn dein erster Tag?«, fragte sie in dem Versuch, das Thema zu wechseln.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich denke, ganz okay.« Seine Füße spielten mit dem Stuhl.
Er sah auf. »Und wie war’s bei dir?«
Sie antwortete ebenfalls mit einem Schulterzucken. Aber etwas an ihrem Gesichtsausdruck erregte seine Aufmerksamkeit, denn er wendete den Blick nicht ab, sondern starrte sie weiter an.
»Was ist passiert?«
»Nichts«, entgegnete sie abwehrend, drehte sich um und ging zurück ans Fenster.
Sie konnte spüren, dass sein Blick ihr folgte.
»Du wirkst … verändert.«
Sie schwieg und fragte sich, ob er etwas wusste oder ob man ihr rein äußerlich eine Veränderung anmerkte. Sie schluckte.
»Wie denn?«
Schweigen.
»Ich weiß nicht«, antwortete er schließlich.
Ziellos starrte sie nach draußen und entdeckte einen Mann vor der Eckkneipe, der einem Kunden ein Beutelchen mit Gras zusteckte.
»Ich hasse diesen neuen Ort«, gestand ihr Bruder.
Sie drehte sich um und sah in sein Gesicht.
»Ich auch.«
»Ich habe sogar schon darüber nachgedacht …«, er senkte die Stimme, »… mich einfach aus dem Staub zu machen.«
»Was willst du damit sagen?«
Er zuckte mit den Schultern.
Sie musterte ihn. Er wirklich richtig niedergeschlagen.
»Wohin willst du denn?«, wollte sie wissen.
»Vielleicht … mache ich mich auf die Suche nach Dad.«