Herrscher, Rivale, Verbannte

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Ihr Vater und ihr Bruder fingen gleichzeitig an die Köpfe zu schütteln. Selbst einige der Kampfherren schienen nicht sonderlich glücklich mit dieser Entscheidung.
„Haylon wird kein sicherer Ort sein“, sagte Berin. „Jetzt da Delos gefallen ist, wird Haylon das nächste Ziel sein.“
„Dann müssen wir ihnen helfen, es zu verteidigen“, sagte Ceres. „Vielleicht fällt uns dieses Mal wenigstens niemand in den Rücken.“
Damit hatte sie natürlich Recht. Delos hatten sie aus vielen verschiedenen Gründen verloren: die schiere Größe der Felldustflotte, die Städter, die geflohen waren anstatt zu kämpfen, und die fehlende Stabilität, die Stephanias Coup in die Hände gespielt hatte. Vielleicht würde es auf Haylon anders werden.
„Sie haben keine Flotte mehr“, hob Thanos hervor. „Ich musste sie überzeugen, Delos zu helfen.“
Er fühlte sich schuldig. Wenn er Akila nicht überredet hätte, dann wären viele gute Leute jetzt noch am Leben, und Haylon könnte sich jetzt selbst verteidigen. Sein Freund würde nicht verwundet auf ihrem Boot liegen und Hilfe benötigen.
„Wir haben entschieden... nach Delos zu fahren“, brachte Akila heraus.
„Und wenn sie keine Flotte haben, dann müssen wir ihnen erst recht helfen“, sagte Ceres. „Denk doch mal nach, Haylon ist der einzige uns nicht feindliche gesinnte Ort in unserer Nähe. Haylon hat das Reich besiegt als dieses noch so stark war, dass Felldust nicht gewagt hat, es anzugreifen. Sie brauchen unsere Hilfe. Genauso wie Akila. Wir werden nach Haylon fahren.“
Gegen keines dieser Argumente konnte Thanos etwas einwenden. Nicht nur das, er konnte sehen, wie die anderen ihre Meinung änderten. Ceres hatte schon immer diese Fähigkeit besessen. Es war ihr Name gewesen und nicht seiner, der das Knochenvolk überzeugt hatte. Sie war es gewesen, die Lord Wests Männer und die Rebellion überzeugt hatte. Mit jedem Mal war seine Bewunderung für sie gewachsen.
Es genügte, dass Thanos ihr überall hin gefolgte wäre, ob nach Haylon oder noch weiter. Er würde die Suche nach seinen Eltern vorerst auf Eis legen. Ceres war jetzt wichtiger; Ceres und den Schaden in Schach zu halten, den Felldust verursachen würde, wenn es sich einmal über Delos hinaus ausbreitete. Er hatte es im Hafen von Port Leyward gehört: es würde kein schneller Beutezug werden.
„Es gibt da nur ein einziges Problem“, hob Sartes hervor. „Wenn wir nach Haylon wollen, wird sicherlich eine Flotte von Felldust an uns vorbeikommen. Sie kamen doch aus dieser Richtung oder? Und ich glaube nicht, dass sie alle in Delos’ Hafen rumsitzen werden.“
„Mit Sicherheit nicht“, stimmte Thanos zu und dachte an das, was er zuvor in Felldust gesehen hatte. Mehrere kleine Flotten waren noch gar nicht zum Reich aufgebrochen; die Schiffe der anderen Steine trieben im Hafenbecken und wartetet ab, oder sie verluden Vorräte, um sich an den Plünderungen zu beteiligen.
Sie würden zu einer echten Gefahr, wenn ihr kleines Boot versuchen würde, auf direkter Route nach Haylon zu segeln. Ob sie auf ihrem Weg an Feinden vorbeikommen würden, wäre mit einem Glücksspiel zu vergleichen, und Thanos war sich nicht sicher, ob Ceres noch einmal in der Lage sein würde, ihren Trick, sie verschwinden zu lassen, anzuwenden.
„Wir müssen sie umschiffen“, sagte er. „Wir meiden die Küste, bis wir alle Routen kennen, die sie nehmen könnten. Dann können wir uns Haylon von der ihnen abgewandten Seite nähern.“
Er konnte sehen, dass den anderen diese Idee nicht sonderlich gefiel, und Thanos vermutete, dass das nicht nur an dem zusätzlichen Zeitaufwand lag. Er wusste, was sie dieser Weg kosten würde.
Jeva war schließlich diejenige, die es aussprach.
„Wenn wir diesen Weg wirklich einschlagen, dann müssen wir durch den Pass der Ungeheuer“, sagte sie. „Vielleicht sollten wir doch besser versuchen, es mit Felldust aufzunehmen.“
Thanos schüttelte den Kopf. „Wir werden in der Falle sitzen, wenn sie uns bemerken. Auf diesem Weg haben wir wenigstens eine Chance, keine Aufmerksamkeit zu erwecken.“
„Dafür werden wir vielleicht auch aufgefressen“, bemerkte die Frau aus dem Knochenvolk.
Thanos zuckte die Schultern. Er sah keine anderen Optionen. Ihnen blieb keine Zeit, irgendwo anders hinzufahren, und letztlich gab es keine andere Route als diese. Sie konnten es riskieren oder hier herumsitzen und Akila beim Sterben zusehen. Thanos konnte seinen Freund nicht so im Stich lassen.
Ceres schien das genauso zu sehen.
„Der Pass der Ungeheuer also. Lasst uns die Segel setzen!“
KAPITEL FÜNF
Ulren, der Zweite Stein, näherte sich dem fünfeckigen Turm mit der ruhigen Entschlossenheit eines Mannes, der glaubte, alle Fäden in der Hand zu halten. Um ihn wirbelte der Staub in seinem gewohnt endlosen Tanz, der ihn husten ließ, wenn er seinen Mund nicht mit einem Tuch bedeckte. Ulren jedoch tat weder das eine noch das andere. Er musste jetzt stark erscheinen.
Vor den Türen standen wie immer Wachen. Offiziell wurden sie von allen fünf Steinen bezahlt, tatsächlich waren sie jedoch Irriens Männer. Aus diesem Grund kreuzten sie ihre Speere, denn so erinnerten sie jeden niedriger gestellten Stein an seinen Stand.
„Wer da?“ rief einer.
Ulren grinste. „Der neue Erste Stein von Felldust.“
Er genoss den Anblick ihrer erschrockenen Blicke, bevor seine Männer mit erhobenen Armbrüsten aus dem Staub traten. Er besaß nicht die gleiche physische Stärke wie Irrien oder die durchtriebenen Spione von Vexa, den Reichtum von Kas oder die blaublütigen Freunde von Borion, aber er besaß von jeder dieser Stärken ein wenig. Jetzt hatte er endlich den Mut gefasst, diese Stärken auch auszuspielen.
Er weidete sich am Anblick der befederten Pfeile in den Brustkörben der Wächter, die ihn so viele Male abgewiesen hatten. Es war belanglos, aber diesem Moment gebührte ein gewisses Maß an Belanglosigkeit. Das war der Moment, in dem er alles das bekam, was er schon immer gewollt hatte.
Er öffnete mit seinem Schlüssel die Tür und trat hinein in das Licht des Turms. Was sagte es über die Stadt, dass die vom Rauch der Lampen erfüllte Luft hier drinnen noch immer besser war als die vor der Tür? Doch selbst das war etwas, das er heute in vollen Zügen genoss.
„Zügig“, rief er den Männern und Frauen zu, die ihm folgten. „Schlagt schnell zu.“
Sie schwärmten aus und der Glanz ihrer Waffen ermattete unter dem Ruß der Lampen. Als aus einem der Korridore Wachen kamen, schlugen sie geräuschlos zu. Ulren wandte seinen Blick nicht von dem Blutbad ab. All das spielte jetzt keine Rolle mehr.
Er machte sich über die scheinbar endlosen Treppenaufgänge auf den Weg zu den ganz oben gelegenen Räumlichkeiten. Unzählige Male war er schon hier hinauf gestiegen immer in dem Bewusstsein der Minderwertigkeit oder Zweit- oder Drittklassigkeit in einer Stadt, in der allein der erste von fünfen das Sagen hatte.
Das war in Ulrens Augen die Ironie dieser Stadt. Jeder kämpfte, um ganz oben zu stehen, fünf arbeiteten zusammen und doch war der Erste Stein der stärkste unter ihnen. Ulren strebte schon so lange danach, die Nummer Eins zu sein, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte, jemals etwas anderes gewollt zu haben.
Er war vorsichtig gewesen, auch wenn diese Position schon immer die seine hätte sein sollen. Er hatte sich seine Machtposition schwer erarbeitet, angefangen mit den Ländereien seiner Familie. Er hatte seine ihm zur Verfügung stehenden Mittel gepflegt, wie ein Gärtner seine Pflanzen pflegt. Er war geduldig gewesen, so geduldig. Dann hatte er kurz vor der Ergreifung des Sitzes des Ersten Steins gestanden.
Dann war Irrien ihm in die Quere gekommen, und er hatte sich wieder in Geduld üben müssen.
Das Morden unter ihm nahm weiter seinen Lauf. Diener, in den Farben des Ersten Steins gekleidet, wurden von seinen Männern niedergemetzelt. Ohne Gnade, ohne Gewissen. Felldust war ein Land, in dem selbst ein unschuldig aussehender Sklave ein Messer hinter dem Rücken bereithielt, um es zu zücken.
Ein Soldat griff ihn aus dem Schatten heraus an. Ulren rang mit ihm und versuchte die Oberhand zu gewinnen.
Der Mann war stark, oder er hatte schlicht das Alter nicht mehr auf seiner Seite. Ulren hatte sich eingestehen müssen, dass das häusliche Training seinem Körper Schmerzen bereitete. Die Sklavenmädchen, die einst gerne zu ihm gekommen waren, mussten jetzt ihren Ekel und Überdruss verbergen. Es gab Tage, an denen er einen Raum betrat und sich fragte, warum ihn das jemals gestört hatte.
Doch hatte er nichts von seiner Durchtriebenheit eingebüßt. Er nahm den Schwung des anderen Angreifers auf, hakte seinen Fuß hinter dessen Bein und zog mit der ganzen ihm noch zur Verfügung stehenden Kraft daran. Der Soldat kam ins Stolpern und stürzte schließlich Hals über Kopf die Wendeltreppe hinab. Ulren überließ es seinen Kriegern, ihm den Rest zu geben. Es genügte, dass er keine Schwäche gezeigt hatte.
„Ist in der Stadt alles bereit?“ fragte er Travlen, einen Priester, der seine Berufung aufgegeben hatte, um ihm zur Seite zu stehen.
„Ja, gnädiger Herr. Eure Krieger kümmern sich in diesem Moment um all jene von Irriens Leuten, die sich noch in der Stadt befinden. Mehrere seiner Geschäftspartner haben angeboten die Seiten zu wechseln. Und was alle anderen angeht so wurde mir gesagt, dass sie als Opfergaben den Göttern große Freude bereiten werden.“
Ulren nickte. „Das ist gut. Nehmt jeden, der sich uns anschließen will und findet fähigen Ersatz für alle anderen. Ich habe keine Zeit für Verräter.“
„Ja, gnädiger Herr.“
„Bei den Göttern“, sagte Ulren, „nehmen diese Stufen denn nie ein Ende?“
Ein anderer hätte vermutlich Felldusts Machtzentrum an einen anderen Ort verlegt, doch Ulren hatte eine bessere Idee. In einem Land wie diesem konnten Traditionen eine weitere wichtige Kontrollinstanz darstellen.
Sie erreichten das oberste Geschoss. Diener und Sklaven schnitten dort frisches Obst und trugen Wasserkrüge umher, während sie auf Befehle der anderen Steine warteten. Ulren blieb von seinen Kämpfern umringt stehen.
„Gibt es hier irgendwelche Sklaven oder Diener des Ersten Steins?“ fragte er.
Einige traten vor. Wie konnten sie nur so dumm sein? Irrien hatte sie hier zurückgelassen. Vielleicht wollte er sie bei seiner Rückkehr vor Ort haben. Vielleicht waren sie ihm auch einfach egal. Ulren betrachtete die Männer und Frauen, die dort standen. Er stellte sich vor, wie Irrien die Angst in ihren Gesichtern genossen hätte. Er hatte genug Zeit mit dem Ersten Stein verbracht, um zu wissen, wie sein Erzrivale tickte.
Ulren war das alles egal. „Von diesem Moment an seid ihr alle meine Sklaven. Meine Männer werde feststellen, wer von euch es wert ist, zu uns zu gehören und wer an die Tempel als Opfergabe verschenkt wird.“
„Aber ich bin ein freier Mann“, beschwerte sich einer der Diener.
Ulren stellte sich vor ihn und stach ihm einen gezackten Dolch so tief in das Brustbein, dass seine Spitze auf seinem Rücken wieder zum Vorschein kam.
„Ein freier Mann, der die falsche Seite gewählt hat. Wünscht sonst noch irgendjemand zu sterben?“
Doch sie knieten nieder. Ulren schenkte ihnen keine weitere Beachtung. Er ging zu der großen Tür mit Doppelflügeln, die den Haupteingang zum Versammlungsraum markierte. Es gab weitere Eingänge, einen für jeden der Steine. Sie sollten ihre Eigenständigkeit symbolisieren. Letztlich konnten sie sich so im Notfall schnell aus dem Staub machen.
Doch er ging nicht davon aus, dass sie gleich davonlaufen würden. Nicht, wenn er es richtig anstellte. Ulren gab seinen Leuten ein Zeichen, sich zurückzuhalten und abzuwarten. Hierfür gab es andere Wege und Mittel. Das war etwas, das Irrien als Barbar aus dem Staub nie verstanden hatte. Das war auch der einzige Vorzug, den der Zweite Stein gegenüber dem Ersten besaß und er wollte ihn so gut wie möglich nutzen.
Er streckte seine Hand aus, und einer seiner Diener reichte ihm sein dunkles Amtsgewand. Ulren schlang es um sich ohne die Kapuze überzustreifen und ging auf die Türen zu. Das blutbefleckte Schwert hielt er noch immer in der Hand. Es würde besser sein, klarzumachen, worum es hier ging.
Er trat an eines der hohen Fenster und blickte über die Stadt. Der Staub erschwerte ihm die Sicht, doch er konnte sich ausmalen, was dort unten vor sich ging. Krieger zögen durch die Straßen und verfolgten jene, die Irrien zurückgelassen hatte. Kundschafter würden ihnen folgen, um die Neuigkeiten zu verkünden. Ganoven würden anfangen den Händlern zu erzählen, wem sie jetzt ihre Steuern schuldeten. Die Stadt unter dem Staub veränderte sich, und Ulren hatte dafür gesorgt, dass sie sich so veränderte, wie er es wollte.
Dennoch war er vorsichtig. Er war schon einmal bereit gewesen, den Sitz des Ersten Steins zu übernehmen. Er hatte die stärksten Söldner auf seiner Seite gehabt, hatte sich Zugang zu einer Unmenge an Geheimnachrichten verschafft, nur um einem Anfänger den Thron zu überlassen.
Wer war damals der Erste Stein gewesen? Maxim? Thessa? Er konnte sich kaum erinnern, so oft hatten sich die Herrschaftsverhältnisse in den letzten Jahren verändert. Wichtig war nur, dass Irrien sich dazwischengedrängt hatte und ihm das genommen hatte, was ihm gehört hätte. Ulren war am Leben geblieben, weil er es hingenommen hatte. Jetzt hatte der Erste Stein es zu weit getrieben und es war Zeit, etwas zu unternehmen.
Er betrat den Raum, in dem die fünf Steine ihre Entscheidungen fällten. Die anderen waren bereits eingetroffen, so wie er es gehofft hatte. Kas strich sich besorgt seinen spitzen Bart. Vexa war in einen Bericht vertieft. Borion war draufgängerisch genug, um zu riechen, dass etwas in der Luft lag.
„Was ist los?“ fragte er.
Ulren verschwendete keine Zeit mit Nettigkeiten. „Ich habe beschlossen, Irrien herauszufordern.“
Er beobachtete die Reaktionen der anderen. Kas strich weiter über seinen Bart. Vexa hob eine Augenbraue. Borion zeigte die stärkste Reaktion, das hatte Ulren auch erwartet. Wie oft hatte Irrien ihn vor anderen Herausforderern gewarnt? Wie oft hatte er ihm geholfen, seine Spielschulden zu begleichen?
„Irrien ist nicht hier und kann nicht herausgefordert werden“, bemerkte Borion.
Als hätte es eine ähnliche Situation nicht schon einmal gegeben. Glaubte er, dass Ulren nicht jede Neubesetzung des Rates in seiner Zeit als einer der Steine bemerkt hatte?
„Das sollte es vereinfachen, nicht wahr?“ sagte Ulren. Er ging auf Irriens Stuhl zu.
Zu seiner Überraschung stellte sich Borion ihm in den Weg und zog ein schlankes Schwert.
„Und du glaubst, dass du dich jetzt einfach selbst zum Ersten Stein machst?“ fragte er. „Ein alter Mann, der seine Position schon so lange besetzt, dass sich niemand mehr an seine Ernennung erinnern kann? Einer, der die Position des Zweiten Steins nur deshalb behält, weil Irrien Störungen vermeiden will?“
Ulren bewegte sich zu einer freien Stell im Raum, legte seine formale Robe ab und legte sie sich über der Arm.
„Glaubst du, dass ich deshalb daran festhalte?“ sagte er. „Willst du mich wirklich herausfordern, Junge?“
„Ich habe es jahrelang gewollt, aber Irrien hat es mir immer und immer wieder verwehrt“, sagte Borion. Er hob seine Klinge und brachte sich für ein Duell in Stellung. Ulren musste grinsen.
„Das ist deine letzte Chance, am Leben zu bleiben“, sagte Ulren, obwohl sich Borion diese Chance bereits in jenem Moment verspielt hatte, als er seine Klinge gegen ihn gehoben hatte. „Wie du sehen kannst, besitzen Kas und Vexa genug Verstand, um mich nicht herauszufordern. Leg deine Waffe nieder und setz dich hin. Auch du wirst einen Rang hinzugewinnen.“
„Warum sollte ich mich damit begnügen, wenn ich einen alten Mann töten und mich selbst an die Spitze setzen kann?“ konterte Borion.
Er sprang nach vorne, und Ulren musste zugeben, dass der Junge schnell war. Ulren war in seiner Jugend sicherlich genauso schnell gewesen, aber das war nun schon lange her. Er hatte jedoch in den vielen Jahren Kampffähigkeiten erlernt, sodass er nicht unbedingt schnell sein musste, solange er die Distanz richtig einzuschätzen wusste. Er schleuderte sein zusammengelegtes Gewand herum, um damit Borions Schwert zu fassen zu bekommen.
„Ist das alles, was du zu bieten hast, alter Mann?“ fragte der fünfte Stein. „Irgendwelche Kniffe?“
Ulren lachte und noch während er das tat, griff er an. Borion war schnell genug, um zurückzuspringen, trotzdem streifte Ulrens Klinge seine Brust.
„Du solltest diese Kniffe nicht unterschätzen, Junge“, sagte Ulren. „Einem Mann ist jedes Mittel recht, um am Leben zu bleiben.“
Er trat zurück und wartete ab.
Borion stürmte auf ihn zu. Natürlich tat er das. Die Jungen reagierten und wurden zum Sklaven ihren Emotionen. Sie versäumten es, nachzudenken. Oder ausreichend nachzudenken. Borion versuchte es mit einigen hinterhältigen Tricks und Täuschungsmanövern, die Ulren alle bereits hunderte Male zuvor gesehen hatte. Darin lag die Gefahr, wenn man jung war: man glaubte, auf Ideen gekommen zu sein, die schon vor dir viele Männer das Leben gekostet hatten.
Ulren trat zur Seite und warf sein Gewand über den jungen Mann als dieser mit seinem angriffslustigen Schwert an ihm vorbeistürmte. Borion kam unter dem Stoff ins Straucheln und versuchte, sich davon zu befreien. In diesem Moment schlug Ulren zu. Er trat nahe an Borion heran und griff dessen Arm, sodass dieser sein Schwert nicht länger zum Einsatz bringen konnte. Dann begann er, auf ihn einzustechen.
Er ging systematisch und konsequent vor mit all der Geduld die er sich in den Jahren als Krieger zugelegt hatte. Ulren konnte sehen, wie Blutflecken sich auf dem Umhang abzuzeichnen begannen, je mehr der Stoff sich um Borion schlang. Doch er hielt nicht inne, bis der andere Mann zu Boden ging. Er hatte Männer gesehen, die auch nach den schlimmsten Verletzungen wieder aufgestanden waren. Das würde er nicht riskieren.
Er stand schwer atmend da. Es war schwer genug gewesen, all die Stufen hinaufzusteigen. Seine Lungen schienen unter der Anstrengung, diesen Mann zu töten, zu platzen, doch Ulren würde sich keine Blöße geben. Er ging hinüber zu Irriens Stuhl und positionierte sich zunächst dahinter.
„Hat sonst noch irgendjemand Einwände vorzubringen?“ fragte er Kas und Vexa.
„Nur was die Unordnung anbelangt“, sagte Kas. „Aber dafür gibt es Sklaven, wie ich annehme.“
„Gegrüßt sei der Erste Stein“, sagte Vexa ohne besondere Begeisterung.
Es war ein Moment des Triumphes. Es war ein Moment, auf den Ulren viele Jahre hingearbeitet hatte. Jetzt, da er gekommen war, fühlte es sich seltsam an, sich auf das Granit des Stuhls des Ersten Steins niederzulassen.
„Ich habe mir bereits Irriens Belange zu eigen gemacht“, sagte Ulren. Er deutete mit einer Hand in Borions Richtung. „Bedient euch an denen des Jungen, wenn ihr wollt.“
Das würden sie. Ulren hatte keinerlei Zweifel, dass sie das würden. Schließlich ging es in dieser Stadt um nichts anderes.
„Und selbstverständlich werden wir einen neuen Fünften und Vierten Stein brauchen“, sagte Ulren.
Das wäre für sie das Stichwort gewesen, einen Sitz aufzurücken. Doch keiner von beiden rührte sich. Sie blieben auf den Stühlen sitzen, für die sie gekämpft hatten und ließen den Stuhl des Zweiten Steins unbesetzt. Ulren war sich nicht sicher, ob ihm das gefiel, auch wenn er ihre Angst verstehen konnte. Dass sie sich nicht rührten, war ein Zeichen, dass dieser Kampf noch nicht ausgefochten war und dass sie sich der neuen Ordnung nicht einfach unterordnen würden.
Sie hielten sich zurück, so wie sie sich zurückgehalten hatten, als Irrien die Macht ergriffen hatte.
Mehr noch, sie verhielten sich als wäre das letzte Wort noch nicht gesprochen.
KAPITEL SECHS
Stephania erwachte in einem Zustand größter Schmerzen. Das gesamte Universum schien sich zu einem Knäul aus Schmerzen verdichtet und in ihrem Bauch eingenistet zu haben. Sie hatte das Gefühl gehabt, in Stücke gerissen zu werden... doch hatte man sie tatsächlich aufgeschnitten.
Bei dieser Vorstellung entwich ihr ein weiterer Schrei. Dieses Mal gab es jedoch keine Priester oder Krieger, die zu Zeugen ihrer Qualen wurden, nur der offene Himmel, den sie durch ihren Tränenschleier über ihr erkennen konnte. Sie hatten sie nach draußen geschleppt, um sie dem Tod zu überlassen.
Sie musste ihre gesamte Kraft zusammennehmen, um nur den Kopf zu heben und sich umzublicken.
Noch im selben Moment wünschte sie sich, es nicht getan zu haben. Soweit das Auge reichte, war sie von Müllbergen umgeben. Zertrümmertes Geschirr, Tierkadaver, Glass und vieles mehr. Die Trümmer des Stadtlebens schienen sich in einer endlosen Landschaft der Verzweiflung um sie auszubreiten.
Gleichzeitig stieg von ihr übler Gestank in die Nase, übermächtig und faulig schien er den gesamten Raum um sie auszufüllen. Auch ein Gestank des Todes mischte sich in ihn und da erblickte Stephania die Leichen, die man hier zurückgelassen hatte, als wären sie nichts. In der Ferne glaubte sie das Feuer einer Bestattung zu sehen, doch dann bezweifelte sie, dass es sich dabei um jene vornehmen Feuerbestattungen handelte. Es waren sicherlich einfach nur Gräben, die darauf warteten, immer mehr Leichen zu verschlingen.
Stephania wusste nun, wo sie sich befand, in der Mülldeponie der Stadt, in der tausende ihren Müll zurückließen und die Ärmsten der Armen nach brauchbaren Überresten gruben. Normalerweise wurden nur jene Toten hergebracht, deren Familien sich kein Grab leisten konnte oder die als Opfer von Gewalttätern im Sterben verlassen worden waren.
Stephania sank für eine scheinbare Ewigkeit zurück auf den Boden, der Himmel schwamm in Wellen über ihr. Nur ihre Willenskraft bewahrte sie davor, der Schwärze, die sie zu verzehren suchte, nachzugeben. Sie zwang sich erneut, den Kopf zu heben, ohne dem Schmerz Beachtung zu schenken.
Dort liefen einige Gestalten über die Müllberge. Sie trugen Lumpen und ihre Gesichter waren dreckverschmiert. Viele von ihnen waren kaum älter als Kinder. Ihre Füße hatten sie in Lumpen gewickelt, um sich so vor scharfen Kanten zu schützen.
„Hilfe... helft mir“, rief Stephania.
Es war nicht so, dass sie großen Glauben an den Edelmut anderer besaß. Sie hatte schlicht keine andere Wahl. Nach allem, was ihr widerfahren war, würde sie ohne Hilfe nicht überleben. Sie hatten das Kind aus ihrem Leib geschnitten, um es zu opfern. Sie hatten ihn ihr gestohlen!
Als hätte dieser Gedanke es heraufbeschworen, schoss ein heißer Schmerz ihr in den Bauch, und Stephania schrie auf. Ihr Hilferuf hatte die Lumpensammler nicht erreicht, doch ihr Schrei tat es nun. Sie stiegen vorsichtig über die Berge aus zerbrochenem Müll und schienen sicher, dass es sich hierbei um eine Falle handeln musste. Sie sahen jedoch nicht wie Menschen aus Felldust aus. Die allerniedrigsten Ränge schienen selbst einen Krieg zu überleben, ohne dass sich etwas änderte.
Stephania wünschte auch ihr Leben wäre von einer solchen Stabilität bestimmt. Sie war sich so sicher gewesen, die Geschehnisse in der Stadt kontrollieren zu können; die Belagerung aussitzen zu können und zu einem Arrangement mit Irrien zu gelangen. Jetzt lag sie wie ausrangiert auf einer Mülldeponie und hatte kaum genug Kraft, weiter zu atmen.
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