Queste der Helden

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Er stolperte die moosbewachsene Anhöhe hinunter und eilte in Richtung des Geräuschs, zurück durch den Wald. Während er lief, konnte er seine Begegnung mit Argon nicht abschütteln. Er konnte kaum begreifen, dass sie stattgefunden hatte. Was machte der Druide des Königs ausgerechnet an diesem Ort? Er hatte auf ihn gewartet. Aber warum? Und was hatte er gemeint, sein Schicksal?
Je mehr Thor versuchte, es zu entwirren, umso weniger verstand er es. Argon hatte ihn einerseits gewarnt, nicht weiterzugehen, und ihn zugleich verleitet, es doch zu tun. Während er lief, spürte Thor eine wachsende Vorahnung, als ob etwas Bedeutungsschweres bevorstehen würde.
Er bog um einen Baum und blieb wie erstarrt stehen, als er den Anblick vor ihm sah. Seine schlimmsten Alpträume wurden in einem einzigen Augenblick bestätigt. Die Haare standen ihm zu Berge und ihm wurde klar, dass es ein schwerer Fehler gewesen war, so tief nach Schattwald vorzudringen.
Ihm gegenüber, gerade dreißig Schritte entfernt, stand ein Sybold. Schwerfällig, muskelbepackt, auf allen Vieren beinahe so groß wie ein Pferd, war dies das meistgefürchtete Tier in Schattwald, wenn nicht gar im gesamten Königreich. Thor hatte noch nie einen gesehen, aber die Legenden hatte er gehört. Er ähnelte einem Löwen, war jedoch größer, breiter, sein Fell ein tiefes Scharlachrot und seine Augen leuchtend gelb. Der Legende nach kam seine scharlachrote Farbe vom Blut unschuldiger Kinder.
Thor hatte in seinem Leben erst von wenigen Sichtungen dieses Ungeheuers gehört, und selbst die wurden nicht als besonders glaubwürdig angesehen. Das lag wohl daran, dass niemand je eine Begegnung tatsächlich überlebt hatte. Manche betrachteten den Sybold als den Gott der Wälder, und als ein Omen. Wofür er ein Omen sein sollte, davon hatte Thor keine Ahnung.
Er machte einen vorsichtigen Schritt zurück.
Der Sybold stand da, sein riesiges Maul halb geöffnet; von seinen Fangzähnen tropfte der Speichel, und er starrte Thor mit seinen gelben Augen an. In seinem Maul hing, schreiend und mit baumelndem Kopf, Thors verlorenes Schaf, sein Körper zur Hälfte von den Fangzähnen durchstoßen. Es war so gut wie tot. Der Sybald schien das Töten seiner Beute zu genießen, ließ sich Zeit; es schien, als würde es ihm Spaß machen, es zu quälen.
Thor konnte die Schreie nicht ertragen. Das Schaf zappelte hilflos herum, und er fühlte sich verantwortlich.
Thors erster Impuls war, sich umzudrehen und davonzulaufen; doch er wusste jetzt schon, dass es aussichtslos war. Dieses Ungeheuer konnte alles einholen. Davonlaufen würde es bloß ermutigen. Und er konnte sein Schaf nicht auf diese Weise sterben lassen.
Er stand da, vor Angst halb gelähmt, und wusste, er musste irgendetwas unternehmen.
Seine Reflexe setzten ein. Langsam griff er in seinen Beutel, holte einen Stein heraus und legte ihn in die Schleuder. Mit zitternder Hand zog er an, machte einen Schritt nach vorne und schoss.
Der Stein segelte durch die Luft und traf sein Ziel. Der Schuss saß perfekt. Er traf das Schaf ins Auge und fuhr ihm direkt durchs Gehirn.
Das Schaf erschlaffte. Tot. Thor hatte diesem Tier sein Leiden erspart.
Der Sybold blickte erzürnt um sich, wütend, dass Thor sein Spielzeug getötet hatte. Langsam öffnete er seine immensen Kiefer und ließ das Schaf herausfallen. Mit einem dumpfen Schlag landete es am Waldboden. Dann richtete er seine Augen auf Thor.
Er knurrte, ein tiefer, bösartiger Laut, der aus seinem Bauch heraus grollte.
Als er langsam auf ihn zupirschte, legte Thor mit rasendem Herzen den nächsten Stein in seine Schleuder, holte aus, und bereitete den nächsten Schuss vor.
Der Sybold stürmte auf ihn zu, schneller als alles, was Thor in seinem Leben je gesehen hatte. Thor trat vor und schoss den Stein, betete, dass er treffen würde, wohl wissend, dass er keine Zeit für einen weiteren Schuss hätte, bevor das Tier ihn erreichte.
Der Stein traf das Ungeheuer genau ins rechte Auge und schlug es aus seinem Kopf. Es war ein grandioser Schuss; ein geringeres Tier hätte er in die Knie gezwungen.
Doch dies war kein geringeres Tier. Das Ungeheuer war nicht aufzuhalten. Es kreischte über die Verletzung, wurde aber nicht einmal langsamer. Auch mit nur einem Auge, auch mit einem Stein in seinem Gehirn, stürmte es ungebremst und blindwütig auf Thor zu. Es gab nichts, was Thor tun konnte.
Einen Augenblick später hatte ihn das Ungeheuer erreicht. Es holte mit seiner riesigen Klaue aus und zog sie ihm über die Schulter.
Thor schrie auf und fiel hin. Es fühlte sich an, als würden drei Messer durch sein Fleisch schneiden. Sofort quoll heißes Blut daraus hervor.
Das Ungeheuer drückte ihn mit allen Vieren zu Boden. Sein Gewicht war enorm, als würde ein Elefant auf seiner Brust stehen. Thor konnte spüren, wie sein Brustkorb zerdrückt wurde.
Das Ungeheuer warf den Kopf zurück, riss sein Maul weit auf, entblößte dabei seine Fangzähne und senkte sie langsam zu Thors Hals hinunter.
Während es näherkam, streckte Thor die Arme hoch und packte es am Hals; es war, als würde er reinsten Muskel packen. Thor konnte seinen Griff kaum halten. Als die Hauer sich immer näher senkten, fingen seine Arme zu zittern an. Er fühlte den heißen Atem im ganzen Gesicht, fühlte, wie Speichel auf seinen Hals tropfte. Ein Grollen ertönte tief aus der Brust des Tieres und brannte sich in Thors Ohren. Er wusste, er würde sterben.
Thor schloss die Augen.
Bitte, oh Gott. Gib mir Kraft. Hilf mir, diese Kreatur zu bekämpfen. Bitte. Ich flehe dich an. Ich tue alles, was du verlangst. Ich werde hoch in deiner Schuld stehen.
Und dann passierte etwas. Thor fühlte eine enorme Hitze in seinem Körper aufsteigen, durch seine Adern schießen, wie ein Kraftfeld, das ihn durchfloss. Er öffnete seine Augen und sah etwas Verblüffendes: aus seinen Handflächen strahlte ein gelbes Licht, und als er sie zurück in den Hals des Ungeheuers drückte, war er unglaublicherweise stark genug, es in Schach zu halten.
Thor drückte fester, bis er das Untier tatsächlich von sich drückte. Seine Kraft wuchs immer weiter und er fühlte sich wie eine Kanonenkugel aus Energie. Einen Augenblick später flog das Untier durch die Luft—Thor hatte es gute zehn Fuß weit geworfen. Es landete auf dem Rücken.
Thor setzte sich auf; er verstand nicht, was gerade passiert war.
Das Ungeheuer kam wieder auf die Beine. Blind vor Wut griff es erneut an—doch diesmal fühlte Thor sich verändert. Die Energie durchfloss ihn; er fühlte sich mächtiger, als er je zuvor gewesen war.
Als das Ungeheuer auf ihn springen wollte, ging Thor in die Hocke, packte es am Bauch und warf es mit seinem eigenen Schwung weiter.
Das Ungeheuer flog ein Stück durch den Wald, krachte gegen einen Baum und brach am Boden zusammen.
Thor blickte sich staunend um. Hatte er gerade einen Sybold geworfen?
Das Ungeheuer blinzelte zweimal, dann richtete es seinen Blick auf Thor. Es griff erneut an.
Diesmal packte Thor das Ungeheuer im Sprung an der Kehle. Beide gingen zu Boden, das Ungeheuer kam auf Thor zu liegen. Doch Thor rollte weiter, bis er auf dem Tier saß. Er hatte es fest am Hals gepackt, würgte es mit beiden Hände, während das Untier immer wieder versuchte, den Kopf zu heben und ihn mit seinen Fangzähnen zu erwischen. Es verfehlte ihn knapp. Thor, von neuer Kraft erfüllt, grub seine Hände fester in den Sybold-Hals und ließ nicht locker. Er ließ die Energie frei durch sich hindurchfließen. Und schon bald fühlte er sich wundersamerweise stärker als das Ungeheuer.
Er war auf dem besten Weg, den Sybold zu erwürgen. Schließlich erschlaffte das Ungeheuer.
Erst nach einer weiteren vollen Minute ließ Thor los.
Langsam und außer Atem stand er auf, starrte völlig erstaunt hinunter, und hielt sich den verletzten Arm. Er konnte nicht glauben, was gerade geschehen war. Hatte er, Thor, gerade einen Sybold getötet?
Er glaubte, dass dies ein Zeichen war—gerade heute, dem Tag aller Tage. Er spürte, dass gerade etwas Bedeutendes geschehen war. Gerade eben hatte er das berüchtigtste und meistgefürchtete Ungeheuer seines Königreichs getötet. Im Alleingang. Ohne Waffen. Es schien unwirklich. Niemand würde es ihm glauben.
So stand er erschüttert da und wunderte sich, welche Kraft da über ihn gekommen war, was dies bedeutete, wer er wirklich war. Die einzigen Menschen, die solche Kräfte bekanntlich besaßen, waren Druiden. Doch waren sein Vater und seine Mutter keine Druiden, also konnte er keiner sein.
Oder konnte er das?
Thor spürte plötzlich eine Anwesenheit hinter ihm, wirbelte herum und fand Argon, der da stand und auf das Tier hinunterblickte.
„Wie kommt Ihr hierher?“, fragte Thor verblüfft.
Argon ignorierte ihn.
„Habt Ihr gesehen, was passiert ist?“, fragte Thor, der es selbst noch nicht ganz glaubte. „Ich weiß nicht, wie ich das gemacht habe.“
„Und doch weißt du es“, antwortete Argon. „Tief drinnen weißt du es. Du bist anders als die anderen.“
„Es war wie...eine Flut an Energie“, sagte Thor. „Wie eine Stärke, von der ich nicht wusste, dass ich sie hatte“.
„Das Energie-Feld“, sagte Argon. „Der Tag wird kommen, an dem du es wohl kennen wirst. Vielleicht lernst du gar, es zu kontrollieren.“
Thor hielt sich seine Schulter; der Schmerz war unerträglich. Er sah hinunter und fand seine Hand blutüberströmt. Er fühlte sich schwindlig und machte sich Sorgen, was passieren würde, wenn die Wunde nicht versorgt würde.
Argon trat drei Schritte vor, packte Thors freie Hand und drückte sie fest auf die Wunde. Er hielt sie dort fest, lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Thor spürte, wie ein Gefühl der Wärme durch seinen Arm floss. In Sekunden trocknete das klebrige Blut auf seiner Hand und er konnte fühlen, wie der Schmerz langsam nachließ.
Er sah hinunter und konnte es nicht glauben: er war geheilt. Was übrig blieb, waren drei Narben, wo die Krallen ihn geschnitten hatten—doch sie sahen aus, als wären sie mehrere Tage alt. Sie waren zugewachsen. Da war kein Blut mehr.
Thor blickte Argon staunend an.
„Wie habt Ihr das gemacht?“, fragte er.
Argon lächelte.
„Ich, gar nicht. Du hast das gemacht. Ich habe deiner Kraft nur die Richtung gewiesen.“
„Aber ich habe keine Heilkräfte“, antwortete Thor verdutzt.
„Nicht?“, erwiderte Argon.
„Ich verstehe nicht. Nichts von all dem ergibt irgendeinen Sinn“, sagte Thor mit wachsender Ungeduld. „Ich bitte Euch, erklärt es mir.“
Argon blickte zur Seite.
„Manche Dinge musst du mit der Zeit lernen.“
Thor fiel etwas ein.
„Heißt das, ich kann mich der Legion des Königs anschließen?“, fragte er aufgeregt. „Wenn ich einen Sybold töten kann, werde ich mich doch bestimmt den anderen Jungen gegenüber behaupten können.“
„Natürlich kannst du das“, antwortete er.
„Aber sie haben meine Brüder ausgewählt—mich haben sie nicht ausgewählt.“
„Deine Brüder hätten dieses Ungeheuer nicht töten können.“
Thor starrte zurück und dachte nach.
„Aber sie haben mich bereits abgewiesen. Wie kann ich ihnen noch beitreten?“
„Seit wann braucht ein Krieger eine Einladung?“, fragte Argon.
Seine Worte hinterließen einen tiefen Eindruck. Thor fühlte, wie sein ganzer Körper warm wurde.
„Meint Ihr damit, ich soll einfach auftauchen? Uneingeladen?“
Argon lächelte.
„Du erschaffst dein Schicksal. Andere können das nicht.“
Thor blinzelte—und einen Augenblick später war Argon verschwunden.
Thor konnte es nicht glauben. Er drehte sich in alle Richtungen und durchsuchte den Wald, doch er fand keine Spur von ihm.
„Hier drüben!“, ertönte eine Stimme.
Thor fuhr herum und sah einen riesigen Felsbrocken vor sich stehen. Er glaubte, dass die Stimme von oben gekommen war, und kletterte sofort hinauf.
Zu seiner Verwunderung fand er oben von Argon keine Spur.
Von diesem Aussichtspunkt aus konnte er jedoch über die Wipfel von Schattwald sehen. Er konnte sehen, wo Schattwald endete, sah die zweite Sonne in einem dunklen Grün untergehen und dahinter die Straße, die nach Königshof führte.
„Die Straße wartet nur auf dich“, erklang die Stimme. „Wenn du es wagst.“
Thor wirbelte herum, konnte aber nichts sehen. Es war nur eine Stimme, die wie ein Echo widerhallte. Doch er wusste, dass Argon irgendwo da draußen war und ihn aufstachelte. Und er spürte tief in seinem Inneren, dass er recht hatte.
Ohne einen weiteren Augenblick zu zögern, kletterte Thor vom Felsen und machte sich auf den Weg durch den Wald und auf die Straße.
Seinem Schicksal entgegen.
KAPITEL DREI
König MacGil—wohlbeleibt, mit breiter Brust, einem von zu viel Grau durchzogenen Bart und dazu passendem, langem Haar, und einer breiten Stirn, die von zu vielen Schlachten zerfurcht war—stand mit seiner Königin auf der oberen Brustwehr seiner Burg und sah dem Aufleben der Festlichkeiten des heutigen Tages zu. Sein königlicher Grund und Boden erstreckte sich vor ihm in all seiner Pracht, so weit das Auge reichte; eine blühende Stadt, von alten steinernen Befestigungsanlagen ummauert. Königshof. Untereinander durch ein Labyrinth an verwinkelten Straßen verbunden standen steinerne Bauten jeglicher Form und Größe—für die Krieger, die Fürsorger, die Pferde, die Silbernen, die Legion, die Wache, die Kaserne, das Waffenlager, die Rüstkammer—und zwischen ihnen hunderte Behausungen für die Vielzahl seiner Untertanen, die sich für ein Leben innerhalb der Stadtmauern entschieden hatten. Dazwischen erstreckten sich viele Hektar Grasflächen, königliche Gärten, steingesäumte Plätze, sprudelnde Brunnen. Königshof wurde schon seit Jahrhunderten fortlaufenden Verbesserungsarbeiten unterzogen, durch seinen Vater, und dessen Vater zuvor—und hatte nun den Gipfel seiner Pracht erreicht. Ohne Zweifel war es die sicherste Hochburg im Westlichen Königreich des Rings geworden.
MacGil war mit den besten und treuesten Kriegern gesegnet, die je ein König gesehen hatte, und zu seinen Lebzeiten hatte noch niemand einen Angriff gewagt. Als der siebte MacGil auf dem Thron hatte er diesen während der zwei-und-dreißig Jahre seiner Herrschaft gut gehalten, war ein guter und weiser König gewesen. Das Land hatte unter seiner Herrschaft großes Wachstum erfahren, er hatte die Größe seiner Armee verdoppelt, seine Städte ausgebaut, seinem Volk Wohlstand beschert, und nicht eine Beschwerde war unter seinem Volk zu hören. Er war bekannt als der großzügige König, und nie zuvor hatte es eine Zeit von solchem Wohlstand und Frieden gegeben als die, seitdem er den Thron bestiegen hatte.
Und gerade das war widersprüchlicherweise der Grund, warum MacGil des Nächtens wach lag. Denn MacGil wusste, wie die Geschichte verlief: in sämtlichen Zeitaltern hatte es noch nie einen so langen Zeitraum ohne Krieg gegeben. Er fragte sich nicht länger, ob ein Angriff kommen würde—sondern wann. Und von wem.
Die größte Gefahr drohte natürlich von außerhalb des Rings, von jenem Imperium unzivilisierter Wilder, das die außerhalb gelegenen Wildlande beherrschte und alle Völker außerhalb des Rings, über dem Canyon, unterworfen hatte. Für MacGil und die sieben Generationen vor ihm hatten die Wildlande nie eine direkte Bedrohung dargestellt: dank der einzigartigen Geografie seines Königreichs, das geformt wie ein vollkommener Kreis—ein Ring—vom Rest der Welt durch einen tiefen Canyon von einer Meile Breite getrennt war, und dazu geschützt war von einem Energie-Schild, das seit der Zeit des ersten MacGil aktiv war, hatten sie von den Wildlanden nicht viel zu befürchten. Die wilden Völker hatten viele Male versucht, anzugreifen, das Schild zu durchdringen, den Canyon zu überqueren; nicht einmal waren sie erfolgreich gewesen. Solange er und sein Volk innerhalb des Rings blieben, gab es keine Bedrohung von außen.
Das bedeute jedoch nicht, dass es keine Bedrohung von innen gab. Und das war es, was MacGil in letzter Zeit den Schlaf raubte. Das war auch der wahre Hintergrund der Festlichkeiten an diesem Tag: die Vermählung seiner ältesten Tochter. Eine Vermählung, die speziell dafür arrangiert worden war, seine Feinde zu besänftigen, den zerbrechlichen Frieden zwischen dem Östlichen und dem Westlichen Königreich des Rings zu erhalten.
Zwar maß der Ring gute fünfhundert Meilen in jede Richtung, doch war er in der Mitte durch einen Gebirgszug geteilt. Die Hochlande. Auf der anderen Seite der Hochlande lag das Östliche Königreich, welches die zweite Hälfte des Rings beherrschte. Und dieses Königreich, seit Jahrhunderten regiert von ihren Rivalen, den McClouds, hatte schon immer versucht, seinen zerbrechlichen Waffenstillstand mit den MacGils zu zerschmettern. Die McClouds waren ein unzufriedener Schlag, uneins mit ihrem Schicksal, davon überzeugt, ihre Seite des Königreichs läge auf weniger fruchtbarem Boden. Sie fochten auch die Hochlande an, bestanden darauf, dass die gesamte Gebirgskette ihnen gehörte, wo jedoch zumindest die Hälfte davon im Besitz der MacGils war. Es gab ewige Auseinandersetzungen an den Grenzen, und beständig drohte eine Invasion.
Die Gedanken daran versetzten MacGil in üble Laune. Die McClouds sollten doch froh sein: sie lebten in Sicherheit innerhalb des Rings, vom Canyon geschützt; sie saßen auf vorzüglichem Land und hatten nichts zu befürchten. Sie sollten sich doch einfach mit ihrer Hälfte des Rings zufrieden geben. Nur deswegen, weil MacGil seine Armee so stark vergrößert hatte, wagten die McClouds erstmals in der Geschichte keinen Angriff. Aber MacGil, als der weise König, der er war, spürte etwas am Horizont lauern; er wusste, dass dieser Friede nicht von Dauer sein konnte. So hatte er diese Vermählung seiner ältesten Tochter mit dem ältesten Prinzen der McClouds arrangiert. Und nun war der Tag gekommen.
Unter seinen Augen strömten Tausende Gefolgsleute herein, in bunte Tuniken gekleidet, aus allen Ecken des Königreichs, von beiden Seiten der Hochlande. Beinahe der gesamte Ring, und alle strömten sie ins Innere seiner Mauern. Sein Volk hatte monatelang an den Vorbereitungen gearbeitet, unter der Anweisung, dass alles wohlhabend aussehen müsse—und stark. Dies war nicht nur der Tag einer Vermählung: es war ein Tag, um den McClouds eine Botschaft zu übermitteln.
MacGil begutachtete die Hunderten seiner Soldaten, die strategisch entlang der Brustwehr, in den Straßen, entlang der Mauern in Stellung waren; mehr Soldaten, als er je brauchen könnte—und er war zufrieden. Es war genau die Präsentation von Stärke, die er wollte. Aber er fühlte sich auch unruhig: die Stimmung war geladen, reif für eine Auseinandersetzung. Er hoffte, dass von keiner der beiden Seiten irgendwelche Hitzköpfe, vom Trunk erdreistet, Streit anzetteln würden. Er blickte prüfend auf die Turnierplätze, die Spielfelder, und dachte an die kommenden Tage voller Spiele und Turniere und aller Arten von Festivitäten. Sie würden intensiv werden. Die McClouds würden bestimmt mit ihrer eigenen kleinen Armee auftauchen, und jedes Turnierreiten, jeder Ringkampf, jeder Bewerb würde eine tiefere Bedeutung haben. Wenn auch nur eines davon schief ging, könnte es zu einem Gemetzel ausarten.
„Mein König?“
Er fühlte eine sanfte Hand auf der seinen, und drehte sich zu seiner Königin um, Krea, immer noch die schönste Frau, die er je gekannt hatte. Glücklich verheiratet während seiner gesamten Herrschaftszeit, hatte sie ihm fünf Kinder geboren, drei davon Jungen, und sich nicht auch nur einmal beschwert. Darüber hinaus war sie zu seiner engsten Ratgeberin geworden. Über die Jahre hinweg hatte er gelernt, dass sie weiser war als alle seine Mannen. Sogar weiser als er selbst.
„Es ist ein politischer Tag“, sagte sie. „Aber es ist auch die Hochzeit unserer Tochter. Versuche, Freude daran zu haben. Es wird nicht zweimal passieren.“
„Ich hatte weniger Sorgen, als ich nichts hatte“, antwortete er. „Jetzt, wo wir alles haben, macht mir alles Sorgen. Wir sind in Sicherheit. Aber ich fühle mich nicht in Sicherheit.“
Sie sah ihn an mit Augen voller Mitgefühl, groß und nussbraun; sie wirkten, als läge in ihnen alle Weisheit der Welt. Ihre Augenlider hingen tief, wie schon immer, stets ein wenig schläfrig wirkend, und wurden umrahmt von ihrem wunderschönen, glatten braunen Haar, von Grau durchzogen, das zu beiden Seiten ihres Gesichts herabfiel. Sie hatte vielleicht ein paar Falten mehr, aber sie hatte sich nicht im Geringsten verändert.
„Das liegt daran, dass du nicht in Sicherheit bist“, sagte sie. „Kein König ist je sicher. Es gibt mehr Spione an unserem Hof, als du je wissen möchtest. Und so ist es eben.“
Sie lehnte sich vor und küsste ihn, und lächelte.
„Versuche, dich zu freuen“, sagte sie. „Immerhin ist es eine Hochzeit.“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ die Brustwehr.
Er blickte ihr nach, dann wandte er sich zurück zum Anblick seines Hofs. Sie hatte recht; sie hatte immer recht. Er wollte ja auch Freude daran haben. Er liebte seine älteste Tochter, und es war immerhin eine Hochzeit. Es war der schönste Tag in der schönsten Zeit des Jahres, am Gipfelpunkt des Frühlings, mit dem Sommer am Horizont, die beiden Sonnen perfekt am Himmel stehend, und der feinste Hauch einer Brise in der Luft. Alles stand in voller Blüte, rundum waren die Bäume eingefärbt in einer breiten Palette an Rosa und Lila, Orange und Weiß. Er täte nichts lieber, als sich hinunter zu seinen Mannen zu setzen, zuzusehen, wie seine Tochter verheiratet wurde, und becherweise Bier zu trinken, bis er nicht mehr konnte.
Aber das konnte er nicht. Er hatte eine lange Liste an Aufgaben zu erfüllen, bevor er überhaupt einen Schritt vor seine Burg setzen konnte. Schließlich bedeutete der Hochzeitstag einer Tochter für einen König gewisse Verpflichtungen: er musste seinen Rat einberufen; seine Kinder sprechen; sowie eine lange Reihe an Bittstellern sehen, die das Recht hatten, den König an diesem Tag zu sprechen. Er würde von Glück sprechen können, wenn er rechtzeitig zu Beginn der Zeremonie bei Sonnenuntergang aus der Burg kam.
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In seine feinsten königlichen Gewänder gekleidet; Hosen aus schwarzem Samt, einem goldenen Gürtel, einer Königsrobe aus feinster purpurner und goldener Seide; in seinen weißen Mantel gehüllt, glänzende Lederstiefel über seine Waden gezogen, seine Krone auf den Kopf gesetzt—einem kunstvoll verzierten goldenen Reif mit einem großen Rubin, der in seine Mitte gefasst war—stolzierte MacGil durch die Hallen seiner Burg, von Bediensteten flankiert. Er schritt durch einen Raum nach dem anderen, stieg die Stiegen von der Brüstung hinab, durchquerte seine königlichen Gemächer, die große gewölbte Halle mit ihrer hochragenden Decke und den Reihen an Fenstern aus buntem Glas. Schließlich erreichte er eine alte Eichentüre, dick wie ein Baumstamm, die seine Diener für ihn öffneten, bevor sie zur Seite traten. Der Thronsaal.
Seine Ratgeber standen stramm, als MacGil eintrat und die Tür hinter ihm geräuschvoll ins Schloss fiel.
„Nehmt Platz“, sagte er, abrupter als sonst. Er war sie leid, besonders an diesem Tag, die endlosen Formalitäten des Regierens, und er wollte sie hinter sich bringen.
Er durchquerte den Thronsaal, der ihn ohne Ende beeindruckte, mit seiner fünfzig Fuß über ihm aufragenden Decke, mit einer gesamten Wand aus Buntglas, Boden und Mauern aus einem Fuß dicken Stein. Dieser Raum könnte mit Leichtigkeit einhundert Würdenträger fassen. An Tagen wie diesem jedoch, wenn sein Rat einberufen wurde, gab es nur ihn und seine Handvoll Ratgeber in dieser majestätischen Umgebung. Der Raum wurde beherrscht von einem ausladenden Tisch in Form eines Halbkreises, hinter dem seine Ratgeber standen.
Er schritt durch den Eingang, direkt durch die Mitte auf seinen Thron zu. Er stieg die steinernen Stufen hinauf, an den goldenen Löwenstatuen vorbei, und sank in die roten Samtkissen, die seinen Thron überzogen, der gänzlich aus Gold geschmiedet war. Sein Vater hatte auf diesem Thron gesessen, wie auch wiederum dessen Vater und alle MacGils vor ihm. Als er sich hinsetzte, fühlte MacGil das Gewicht seiner Ahnen—aller Generationen zusammen—auf ihm lasten.










