Queste der Helden

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Er betrachtete die anwesenden Ratgeber. Da war Brom, sein größter General und Ratgeber in militärischen Angelegenheiten; Kolk, der General der Jugend-Legion; Aberthol, der älteste der Truppe, ein Gelehrter und Historiker, Mentor der Könige dreier Generationen; Firth, sein Ratgeber für hofinterne Angelegenheiten, ein magerer Mann mit kurzem grauem Haar und ausgehöhlten Augen, die niemals stillstanden. Er war kein Mann, der je MacGils Vertrauen genossen hatte, und er hatte noch nicht einmal seinen Titel je wirklich verstanden. Jedoch MacGils Vater, und dessen Vater davor, hielten sich einen Ratgeber für höfische Angelegenheiten, und aus Respekt vor ihnen behielt er dies bei. Dann gab es Owen, seinen Schatzmeister; Bradaigh, seinen Ratgeber für äußere Angelegenheiten; Earnan, seinen Steuereinzieher; Duwayne, seinen Berater in Sachen Bevölkerung; und Kelvin, den Repräsentanten des Adels.
Natürlich hatte der König die absolute Autorität. Aber sein Königreich war ein freiheitliches, und seine Vorväter hatten stets Stolz darin gefunden, dem Adel eine Stimme in allen Angelegenheiten zukommen zu lassen, über das Sprachrohr ihres Repräsentanten. Historisch gesehen war das Gleichgewicht der Macht zwischen dem Königtum und dem Adel nicht immer harmonisch gewesen. Derzeit herrschte Einklang, doch in früheren Zeiten waren Aufstände und Machtkämpfe zwischen den Adeligen und der königlichen Familie vorgekommen. Es war ein empfindliches Gleichgewicht.
Als MacGil den Raum betrachtete, fiel ihm die Abwesenheit einer Person auf: gerade des Mannes, den er am dringendsten zu sprechen wünschte. Argon. Wie üblich war es schwer absehbar, wann und wo er auftauchen würde. Es trieb MacGil in den Wahnsinn, aber er hatte keine Wahl, als es zu akzeptieren. Die Wege der Druiden waren ihm unergründlich. Ohne seine Anwesenheit verspürte MacGil noch größere Hast. Er wollte dies hinter sich bringen, sich den tausend anderen Dingen zuwenden, die ihm vor der Hochzeit noch bevorstanden.
Die Gruppe der Ratgeber saß ihm gegenüber um den halbrunden Tisch, im Abstand von zehn Fuß voneinander, jeder von ihnen in einem Stuhl aus uraltem Eichenholz mit aufwändig geschnitzten hölzernen Armlehnen.
„Mein Herr, wenn ich beginnen dürfte“, rief Owen aus.
„Du darfst. Und fasse dich kurz. Meine Zeit heute ist eng begrenzt.“
„Eure Tochter wird heute zahlreiche Geschenke erhalten, die, wie wir hoffen, ihre Koffer gut gefüllt hinterlassen werden. Die tausenden Menschen, die Tribut zollen, Euch persönlich Geschenke überreichen, und unsere Freudenhäuser und Tavernen füllen, werden unseren Schatzkammern ebenso helfen. Und doch werden die Vorbereitungen für die heutigen Festivitäten auch einen guten Teil der königlichen Kassen leeren. Ich empfehle eine Erhöhung der Steuern für das Volk, und auch für den Adel. Eine einmalige Abgabe, um den Druck dieses großartigen Ereignisses zu lindern.“
MacGil sah die Sorge im Gesicht seines Schatzmeisters, und ihm wurde beim Gedanken an die geleerten Kassen mulmig. Und doch würde er die Steuern nicht noch einmal erhöhen.
„Besser arme Kassen und loyale Bürger“, antwortete MacGil. „Unser Reichtum liegt in der Zufriedenheit unserer Untertanen. Wir werden ihnen nicht mehr auferlegen.“
„Aber mein Herr, wenn wir nicht—“
„Es ist beschlossen. Was sonst?“
Owen sank geknickt zurück.
„Mein König“, sagte Brom mit seiner tiefen Stimme. „Eurem Befehl folgend haben wir den Großteil unserer Kräfte für das heutige Ereignis am Hof stationiert. Die Machtdemonstration wird beeindruckend sein. Aber es ist eine starke Belastung. Sollte in einem anderen Teil des Königreichs ein Angriff stattfinden, sind wir verletzlich.“
MacGil nickte und dachte darüber nach.
„Unsere Feinde werden uns nicht angreifen, während wir sie abfüttern.“
Die Männer lachten.
„Was gibt es Neues aus den Hochlanden?“
„Es gibt seit Wochen keine Berichte über irgendwelche Aktivitäten. Es scheint, als hätten ihre Truppen sich in Vorbereitung für die Hochzeit zurückgezogen. Vielleicht sind sie bereit, Frieden zu schließen.“
MacGil war sich da nicht so sicher.
„Das bedeutet entweder, dass die arrangierte Vermählung gewirkt hat, oder dass sie abwarten und uns zu einem anderen Zeitpunkt angreifen. Und was denkst du, welche Variante es ist, alter Mann?“, richtete MacGil das Wort an Aberthol.
Aberthol räusperte sich und sprach mit rauer Stimme: „Mein Herr, Euer Vater und sein Vater zuvor haben den McClouds nie getraut. Nur weil sie gerade schlafen, bedeutet das nicht, dass sie nicht erwachen werden.“
MacGil nickte; er konnte den Gedanken nachvollziehen.
„Und wie steht es mit der Legion?“, fragte er in Kolks Richtung.
„Heute haben wir die neuen Rekruten willkommen geheißen“, antwortete Kolk mit einem kurzen Nicken.
„Mein Sohn unter ihnen?“, fragte MacGil.
„Er steht stolz mit den anderen, und er ist ein feiner Junge.“
MacGil nickte und wandte sich dann an Bradaigh.
„Und was gibt es Neues von über dem Canyon?“
„Mein Herr, unsere Patrouillen konnten in den letzten Wochen vermehrt Versuche feststellen, den Canyon zu überqueren. Es könnte Anzeichen geben, dass die Wildlande sich für einen Angriff zusammenraffen.“
Ein unterdrücktes Flüstern kam unter den Männern auf. MacGil spürte, wie sich sein Magen bei dem Gedanken zusammenzog. Das Energie-Schild war unzerstörbar; dennoch war dies kein gutes Zeichen.
„Und was, wenn es zu einem Angriff mit voller Kraft kommt?“, fragte er.
„Solange das Schild aktiv ist, haben wir nichts zu befürchten. Die Wildlande haben jahrhundertelang erfolglos versucht, den Canyon zu bezwingen. Es gibt keinen Grund, jetzt etwas anderes zu erwarten.“
MacGil war sich da nicht so sicher. Ein Angriff von außen war lange überfällig, und er musste sich fragen, wann es soweit sein würde.
„Mein Herr“, meldete sich Firth in seiner nasalen Stimme, „ich fühle mich verpflichtet, hinzuzufügen, dass unser Hof am heutigen Tage mit zahlreichen Würdenträgern aus dem McCloud-Königreich gefüllt ist. Es würde als Beleidigung aufgefasst werden, solltet Ihr sie nicht persönlich begrüßen, Rivalen oder nicht. Ich würde raten, dass Ihr Euren Nachmittag dafür aufwendet, jeden einzeln zu begrüßen. Sie kamen mit großem Gefolge, vielen Geschenken—und, so heißt es, vielen Spionen.“
„Wer sagt, dass die Spione nicht bereits hier sind?“, entgegnete MacGil, Firth dabei genau beobachtend—und fragte sich, wie immer, ob er nicht selbst einer sei.
Firth setzte zu einer Antwort an, doch MacGil seufzte und hob eine Hand; er hatte genug. „Wenn das alles ist, werde ich nun gehen und mich zur Hochzeit meiner Tochter begeben.“
„Mein Herr“, sagte Kelvin und räusperte sich, „natürlich wäre da noch eine Angelegenheit. Die Tradition, für den Tag der Vermählung Eurer Ältesten. Jeder MacGil hat einen Nachfolger bestimmt. Das Volk wird von Euch erwarten, dass Ihr dasselbe tut. Es ist in Aufruhr darüber. Es wäre nicht ratsam, es zu enttäuschen. Besonders, da das Schicksalsschwert nach wie vor unbewegt ist.“
„Willst du tatsächlich, dass ich einen Erben nenne, während ich noch bei vollen Kräften bin?“, fragte MacGil.
„Mein Herr, ich möchte Euch nicht zu nahe treten“, stammelte Kelvin mit besorgtem Blick.
MacGil hob eine Hand. „Ich kenne die Tradition. Und ich werde in der Tat heute jemanden nennen.“
„Würdet Ihr uns bekannt geben, um wen es sich handelt?“, fragte Firth.
MacGil starrte ihn entnervt an. Firth war ein Schwätzer, und er traute diesem Mann nicht.
„Du wirst die Neuigkeiten erfahren, wenn die rechte Zeit gekommen ist.“
MacGil stand auf, und auch die anderen erhoben sich. Sie verbeugten sich, wandten sich um, und eilten aus dem Raum.
MacGil stand nachdenklich da; er wusste nicht, wie lange. An Tagen wie diesem wünschte er sich, nicht König zu sein.
*
MacGil stieg von seinem Thron herab. Seine Stiefel hallten durch die Stille, als er den Raum durchquerte. Er öffnete die alte Eichentür selbst, zog an der Eisenklinke, und betrat eine Seitenkammer.
Er genoss die Ruhe und Abgeschiedenheit in diesem gemütlichen Zimmer, wie schon immer, mit seinen Mauern kaum zwanzig Schritte in jede Richtung voneinander entfernt, und doch mit einer hoch aufragenden, gewölbten Decke. Das Zimmer war zur Gänze aus Stein gefertigt, mit einem kleinen runden Buntglas-Fenster an einer Wand. Licht floss durch seine gelben und roten Glasstücke herein und erleuchtete einen einzelnen Gegenstand in dem ansonsten leeren Raum.
Das Schicksalsschwert.
Da lag es, im Zentrum der Kammer, waagrecht auf eisernen Stützen ruhend, wie eine Verführerin. Wie er es schon als Junge getan hatte, trat MacGil nahe an das Schwert heran, umkreiste es, untersuchte es. Das Schicksalsschwert. Das Schwert aus Legenden, die Quelle der Macht und der Kräfte seines gesamten Königreichs, von einer Generation zur nächsten. Wer immer die Kraft hatte, es zu erheben, würde der Auserwählte sein, der Eine, dessen Schicksal es war, das Königreich sein Leben lang zu regieren, es von allen Bedrohungen zu befreien, innerhalb wie außerhalb des Rings. Es war wunderbar gewesen, mit dieser Legende aufzuwachsen, und sobald er zum König gesalbt war, hatte MacGil selbst versucht, es zu erheben, da es nur MacGil-Königen gestattet war, es überhaupt zu versuchen. Die Könige vor ihm, jeder Einzelne von ihnen, hatten versagt. Er war sich sicher gewesen, dass er anders sein würde. Er war sich sicher gewesen, dass er der Auserwählte war.
Aber er lag falsch. Wie alle anderen MacGil-Könige vor ihm. Und sein Versagen hatte seither einen Schatten über sein Königtum gelegt.
Als er es nun betrachtete, untersuchte er seine lange Klinge, aus einem geheimnisvollen Metall gefertigt, das noch niemand entziffern konnte. Der Ursprung des Schwerts war noch rätselhafter; den Gerüchten zufolge stieg es inmitten eines Bebens aus der Erde hoch.
Während er es betrachtete, verspürte er erneut den Stich des Versagens. Er mochte ein guter König sein; der Auserwählte war er jedoch nicht. Sein Volk wusste das. Seine Feinde wussten das. Er mochte ein guter König sein, doch egal was er tat, er würde nie der Auserwählte sein.
Wäre er es gewesen, so dachte er, hätte es wohl weniger Unruhe an seinem Hof gegeben, weniger Verschwörungen. Seine eigenen Leute würden ihm mehr vertrauen und seine Feinde würden nicht einmal an einen Angriff denken. Ein Teil von ihm wünschte sich, das Schwert möge einfach verschwinden, und die Legende mit ihm. Doch er wusste, das würde nicht geschehen. Darin lag der Fluch—und die Macht—einer Legende. Stärker noch als eine Armee.
Als er zum tausendsten Mal darauf starrte, musste MacGil sich wieder einmal fragen, wer es wohl sein würde. Wer in seiner Blutlinie würde bestimmt sein, es zu führen? Als er daran dachte, was vor ihm lag—seine Aufgabe, einen Erben zu nennen—fragte er sich, wer von ihnen, wenn überhaupt, dazu bestimmt war, es zu erheben.
„Das Gewicht der Klinge ist schwer“, erklang eine Stimme.
MacGil wirbelte herum, überrascht, in dem kleinen Zimmer nicht allein zu sein.
Da, in der Tür, stand Argon. MacGil erkannte die Stimme, bevor er ihn sah, und war zugleich verärgert, dass er sich nicht zuvor gezeigt hatte, und erfreut, dass er jetzt bei ihm war.
„Du bist spät dran“, sagte MacGil.
„Eure Vorstellung von Zeit trifft auf mich nicht zu“, antwortete Argon.
MacGil wandte sich wieder dem Schwert zu.
„Hast du je gedacht, dass ich es erheben könnte?“, fragte er nachdenklich. „An dem Tag, als ich König wurde?“
„Nein“, antwortete Argon geradeheraus.
MacGil blickte zu ihm hinüber.
„Du wusstest, ich würde es nicht schaffen. Du hast es gesehen, nicht wahr?“
„Ja.“
MacGil dachte darüber nach.
„Es macht mir Angst, wenn du direkt antwortest. Das sieht dir nicht ähnlich.“
Argon schwieg, und schließlich verstand MacGil, dass er nichts weiter sagen würde.
„Ich ernenne heute meinen Nachfolger“, sagte MacGil. „Es fühlt sich widersinnig an, an einem solchen Tag einen Erben zu nennen. Es entzieht einem König die Freude an der Vermählung seines Kindes.“
„Vielleicht soll eine solche Freude gedämpft sein.“
„Aber ich habe noch so viele Jahre des Regierens vor mir“, sagte MacGil flehend.
„Vielleicht nicht so viele, wie Ihr denkt“, erwiderte Argon.
MacGil blickte Argon mit zusammengekniffenen Augen verwundert an. War dies eine Botschaft?
Doch Argon fügte dem nichts hinzu.
„Sechs Kinder. Welches soll ich wählen?“, fragte MacGil.
„Warum fragt Ihr mich? Ihr habt Euch bereits entschieden.“
MacGil sah ihn an. „Du siehst viel. Ja, das habe ich. Und doch möchte ich wissen, was du denkst.“
„Ich denke, Ihr habt weise gewählt“, sagte Argon. „Doch bedenkt: ein König kann nicht aus dem Grabe heraus regieren. Wen Ihr auch glaubt, gewählt zu haben, das Schicksal hat seine Art, selbst zu bestimmen.“
„Werde ich leben, Argon?“, fragte MacGil ernsthaft, stelle die Frage, die er beantwortet haben wollte, seit er in der Nacht zuvor aus einem furchtbaren Alptraum aufgewacht war.
„Ich träumte letzte Nacht von einer Krähe“, fügte er hinzu. „Sie kam und stahl meine Krone. Dann trug mich eine Weitere hinfort. Während wir flogen, sah ich mein Königreich unter mir ausgebreitet. Es wurde schwarz, während ich darüberzog. Verdorrt. Eine Wüste.“
Er blickte zu Argon hoch, seine Augen feucht.
„War es ein Traum? Oder etwas mehr?“
„Träume sind immer etwas mehr, nicht wahr?“, fragte Argon.
Ein ungutes Gefühl ergriff MacGil.
„Wo liegt die Gefahr? Verrate mir nur so viel.“
Argon trat nahe an ihn heran und starrte in seine Augen, mit einer Intensität, dass MacGil das Gefühl hatte, als würde er in eine andere Welt starren.
Argon lehnte sich vor und flüsterte:
„Stets näher, als man denkt.“
KAPITEL VIER
Thor lag versteckt in einer Ladung Strohballen auf einem Wagen, der ihn über die Landstraße rüttelte. Er hatte in der Nacht zuvor die Straße erreicht und geduldig abgewartet, bis ein Wagen vorbei kam, der groß genug war, damit er unbemerkt aufsteigen konnte. Es war bereits dunkel gewesen, und der Wagen trottete gerade langsam genug vor sich hin, dass er im gemütlichen Laufschritt aufholen und hinten hineinspringen konnte. Er war im Heu gelandet und grub sich darin ein. Zum Glück hatte ihn der Fahrer nicht entdeckt. Thor konnte nicht sicher sein, ob der Wagen wirklich nach Königshof fahren würde, aber er fuhr in die richtige Richtung und ein Wagen von dieser Größe, und mit diesen Kennzeichnungen, konnte nicht an viele andere Orte wollen.
Und so fuhr Thor durch die Nacht. Er lag stundenlang wach und dachte an seine Begegnung mit dem Sybold. Mit Argon. An sein Schicksal. Sein altes Zuhause. Seine Mutter. Er fühlte sich, als hätte das Universum ihm eine Antwort geschickt, ihm deutlich gesagt, sein Schicksal läge woanders. Er lag mit den Händen hinter dem Kopf verschränkt da und starrte auf den Nachthimmel hinauf, der durch Risse im Leinen sichtbar war. Er betrachtete das Universum, so hell, seine roten Sterne so weit entfernt. Er war außer sich vor Freude. Zum ersten Mal in seinem Leben war er auf der Reise. Er wusste nicht, wohin, aber er war unterwegs. Auf die eine oder andere Weise würde er den Weg nach Königshof finden.
Als Thor die Augen öffnete, war es Morgen. Licht flutete herein und er stellte fest, dass er eingenickt war. Er setzte sich auf und blickte sich hastig um, sich selbst rügend, dass er eingeschlafen war. Er hätte wachsamer sein sollen—er hatte Glück, dass er nicht entdeckt worden war.
Der Wagen war immer noch in Bewegung, doch er ruckelte nicht mehr so stark. Das konnte nur eines bedeuten: eine bessere Straße. Sie mussten in der Nähe einer Stadt sein. Thor blickte nach unten und sah, wie glatt die Straße war, frei von Steinen oder Löchern, und gesäumt mit feinen weißen Muschelschalen. Sein Herz schlug höher: sie waren tatsächlich auf der Straße nach Königshof.
Thor warf einen Blick nach hinten aus dem Wagen hinaus und war überwältigt: die makellose Straße war von Geschäftigkeit erfüllt. Dutzende Karren in allen Formen und Größen und mit allerlei Dingen beladen füllten die Straßen. Einer war mit Fellen beladen; ein anderer mit Teppichen; ein dritter mit Hühnern. Dazwischen waren hunderte von Händlern zu Fuß unterwegs, einige führten Rinder, andere trugen Körbe voll Waren auf dem Kopf. Vier Männer hievten gemeinsam ein Bündel Seidenstoffe, das über Stangen gelegt war. Es war ein Heer von Menschen, allesamt unterwegs in die gleiche Richtung.
Thor fühlte sich lebendig. Er hatte noch nie so viele Menschen auf einmal gesehen, so viele Waren, so viel Treiben. Er hatte sein ganzes Leben in einem kleinen Dorf verbracht, und nun war er an einem Hauptumschlagplatz und versank geradezu in einem Menschenmeer.
Er hörte ein lautes Geräusch, das Ächzen von Ketten, das Krachen eines riesigen Holzteils, so stark, dass der Boden bebte. Augenblicke später kam ein weiteres Geräusch, das Klappern von Pferdehufen auf Holz. Er blickte hinunter und erkannte, dass sie eine Brücke passierten; unter ihnen befand sich ein Burggraben. Eine Zugbrücke.
Thor streckte den Kopf hinaus und sah enorme Steinsäulen und ein spitzenbewehrtes eisernes Tor über ihm. Sie fuhren durch das Königstor.
Es war das größte Tor, das er je gesehen hatte. Er blickte hinauf zu den Spitzen und dachte staunend, dass sie ihn in Stücke schneiden würden, falls sie herunterkrachten. Er sah vier Männer der königlichen Silbernen, die den Eingang bewachten, und sein Herz schlug schneller.
Sie fuhren durch einen langen Tunnel aus Stein, und Augenblicke später öffnete sich der Himmel wieder. Sie waren in Königshof.
Thor konnte es kaum glauben. Das geschäftige Treiben war hier noch stärker, falls das überhaupt möglich war—es wirkte wie tausende Menschen, die in alle Richtungen herumschwirrten. Rundum gab es weitläufige Grasflächen, perfekt gemäht, und Blumen in voller Blüte. Die Straße wurde breiter, und am Straßenrand entlang standen Buden, Straßenhändler und Steinbauten. Und zwischen all dem, des Königs Mannen. Soldaten in ihren Rüstungen. Thor hatte es geschafft.
In seiner Aufregung stand er unbedacht auf; im gleichen Moment blieb der Karren ruckartig stehen und warf ihn mit dem Rücken voraus ins Stroh zurück. Bevor er sich aufraffen konnte, hörte er einen Holzteil aufklappen, und er blickte hoch zu einem verärgerten alten Mann, der in Lumpen gekleidet war und ihn finster ansah. Der Kutscher streckte die Arme nach ihm aus, packte Thor mit seinen knochigen Händen an den Knöcheln und zog ihn ins Freie.
Thor flog durch die Luft, landete hart mit dem Rücken auf der unbefestigten Straße und wirbelte eine Staubwolke dabei auf. Um ihn herum erhob sich Gelächter.
„Wenn du noch einmal in meinem Karren mitfährst, Bursche, gehts an den Pranger mit dir! Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich nicht jetzt gleich die Silbernen rufe!“
Der alte Mann spuckte zur Seite, dann eilte er zurück zu seinem Karren und trieb die Pferde weiter.
Beschämt kam Thor wieder zu Sinnen und stand auf. Er blickte um sich: ein oder zwei Passanten schmunzelten, und Thor funkelte sie an, bis sie sich abwendeten. Er wischte sich den Staub ab und rieb seine Arme; sein Stolz war verletzt, aber nicht sein Körper.
Seine gute Laune kam zurück, als er sich ungläubig umsah und ihm klar wurde, dass er froh sein sollte, es bis hierher geschafft zu haben. Nun, da er aus dem Wagen draußen war, konnte er sich frei umblicken, und es war wahrhaft ein außergewöhnlicher Anblick: der Hof breitete sich aus, soweit das Auge reichte. In seiner Mitte stand ein prachtvoller Palast aus Stein, umringt von hoch aufragenden, befestigten Steinmauern, gekrönt mit einer Brüstung, auf der überall die königliche Armee patrouillierte. Überall um ihn herum waren perfekt gepflegte Grünanlagen, steinerne Plätze, Brunnen, Baumgruppen. Es war eine Stadt. Und sie war von einer Menschenflut erfüllt.
In alle Richtungen strömten alle Arten von Leuten—Händler, Soldaten, Würdenträger—jeder von ihnen so sehr in Eile. Thor brauchte ein paar Minuten, bis er verstand, dass etwas Besonderes vonstattenging. Während er herumspazierte, konnte er beobachten, wie Vorbereitungen getroffen wurden, Stühle aufgestellt, ein Altar aufgebaut. Es schien, als würden sie eine Hochzeit vorbereiten.
Sein Herz machte einen Sprung, als er in der Ferne einen Turnierplatz erkennen konnte, mit langen Lehmbahnen und einem gespannten Tau dazwischen. Auf einem anderen Feld sah er Soldaten, die Speere auf weit entfernte Zielscheiben schleuderten; auf einem weiteren zielten Bogenschützen auf Strohpuppen. Es schien, als würden überall rundum Spiele und Wettbewerbe stattfinden. Es gab auch Musik: Lauten und Flöten und Zimbeln, umherziehende Musikantentruppen; und Wein, der in riesigen Fässern hervorgerollt wurde; und Speisen, die auf Tischen ausgelegt wurden, Bankette, die sich erstreckten, so weit das Auge reichte. Es schien, als wäre er inmitten einer gewaltigen Feier angekommen.
So faszinierend das auch war, verspürte Thor doch den Drang, die Legion zu finden. Er war jetzt schon spät dran und er musste sich dort bekanntmachen.
Er eilte zur ersten Person, die er erblickte: einem älteren Herren, seinem blutbefleckten Schurz nach ein Fleischer, der die Straße hinuntereilte. Jeder hier war derart in Eile.
„Entschuldigt, mein Herr“, sagte Thor und griff ihn am Arm.
Der Mann blickte missmutig auf Thors Hand.
„Was willst du, Junge?“
„Ich bin auf der Suche nach der Legion des Königs. Wisst Ihr, wo sie trainieren?“
„Sehe ich etwa wie ein Stadtplan aus?“, zischte der Mann und stürmte davon.
Thor war von seiner Unhöflichkeit erschrocken.
Er eilte zur nächsten Person, die er sah: eine Frau, die an einem langen Tisch stand und Teig knetete. Mehrere Frauen standen an dem Tisch, alle schwer bei der Arbeit, und Thor dachte, eine von ihnen müsste es wissen.
„Entschuldigt, Fräulein“, sagte er. „Könntet Ihr mir vielleicht sagen, wo die Legion des Königs trainiert?“
Sie tauschen Blicke aus und kicherten, manche von ihnen nur wenige Jahre älter als er selbst.
Die Älteste drehte sich zu ihm und sah ihn an.
„Du suchst am falschen Ort“, sagte sie. „Hier treffen wir Vorbereitungen für die Festivitäten.“
„Aber mir wurde gesagt, sie trainieren in Königshof“, sagte Thor verwirrt.
Die Frauen brachen wieder in Gekicher aus. Die Älteste stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf.
„Du stellst dich an, als wärst du zum ersten Mal in Königshof. Weißt du nicht, wie groß es ist?“
Thor lief rot an, als die anderen Frauen zu lachen anfingen, und stürmte schließlich davon. Er mochte es nicht, wenn man sich über ihn lustig machte.
Er sah vor sich ein Dutzend Straßen, die sich in alle möglichen Richtungen durch Königshof schlängelten. Über die Steinwälle verteilt gab es mindestens ein Dutzend Eingänge. Die Größe und Weitläufigkeit dieses Orts war überwältigend. Er hatte das ungute Gefühl, dass er den ganzen Tag suchen könnte, und es doch nicht finden würde.
Da kam ihm eine Idee: bestimmt würde ein Soldat wissen, wo die anderen trainieren. Es machte ihn nervös, einen richtigen Soldaten des Königs anzusprechen, doch ihm wurde klar, dass er nicht darum herumkommen würde.
Er eilte zur Stadtmauer hinüber, auf einen der Soldaten zu, der am nächstgelegenen Eingang Wache stand. Er hoffte, er würde ihn nicht hinauswerfen. Der Soldat stand stramm da und blickte starr geradeaus.
„Ich suche die Legion des Königs“, sagte Thor, seinen tapfersten Tonfall aufbringend.
Der Soldat starrte weiterhin geradeaus und ignorierte ihn.
„Ich sagte, ich suche die Legion des Königs!“, bestand Thor, lauter, fest entschlossen, wahrgenommen zu werden.










