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Er passiert ein Haus und noch eines, bevor er sich nach dem Hinkenden umdreht.
Der hat die Einfahrt erreicht, aus der der Fasswagen herausgefahren ist, bleibt jetzt stehen und dreht sich ebenfalls um. Einen Atemzug lang fixieren sie sich gegenseitig. Aber die Entfernung ist groß, das Licht schummrig. Er kann nicht erkennen, wer die Person ist.
Kurz vor dem weiten Platz schaut er sich ein zweites Mal um.
Er hat es geahnt: Die hinkende Gestalt ist den Weg wieder zurückgelaufen, nur ein kurzes Stück, und hält jetzt vor dem unbebauten Grundstück neben dem Fasswagenhaus, zögert und verschwindet auf dem Gelände.
6
Sie waren schnell fertig. Zu Simons Erleichterung schien der Neue ein schweigsamer Zeitgenosse zu sein, nicht so ein neugieriger Bursche wie der letzte, der Wunder weiß was alles wissen wollte und ihm Löcher in den Bauch fragte. Von woher er sei, wie es sich lebe im markgräflichen Regiment, was er dabei verdiene, ob er schon mal im Schloss gewesen sei und es stimme, dass die Frau Markgräfin Bücher sammle und so schön male, wie es die Leute erzählten, ob der Bauplatz hier ihm gehöre und er bauen wolle, ob er ihn nicht mal auf einen seiner Streifzüge mitnehmen könne? Ein Plagegeist, dieser Bengel, er hatte sich krampfhaft überlegt, wie er ihn loswerden könnte. Vor ein paar Tagen erfuhr er dann, dass der Bursche seinen Brotherrn beklaut habe und mit dessen Geld stiften gegangen sei. Sehr gut. Damit hatte sich das Problem erledigt. Der Nachfolger würde hoffentlich nicht seine Nase in alles hineinstecken.
Er reichte dem Neuen den Sack, den er wie immer schon vorbereitet hatte, und ohne sich für den Inhalt zu interessieren, verstaute dieser ihn unter seinem weiten Umhang.
»Ich wollt, ich wär schon wieder zurück«, brummte der Mann, »bei so einer Kälte schickt man doch keinen Hund vor die Tür. Ob sie die Hinrichtung heute Morgen verschoben hätten, wenn sie gewusst hätten, dass es schneien wird?«
Simon gab keine Antwort. Der Bote hatte wohl auch keine erwartet, er trat aus dem Schatten der Hausmauer und schaute in den schwarzen Himmel. Dann schweifte sein Blick über das Gelände, das rechts und links von niedrigen zweistöckigen Wohnhäuschen eingeschlossen war. Nach hinten begrenzte ein Lattenzaun das Areal.
»Warum baut hier keiner?«, wunderte sich der Mann. »Das ist doch beste Lage. Feine Umgebung, noble Herrschaften, das Schloss in nächster Nähe. Oder ist hier ’ne Leiche verbuddelt, die um Mitternacht aufwacht und herumspukt?« Er keckerte provozierend. Als im Haus gegenüber ein Hund zu kläffen begann, senkte er die Stimme. »Man sollte zugreifen, bevor es zu spät ist. Noch ist der Boden in Carlsruhe billig. Aber die Preise werden anziehen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
Halt doch deinen Rand, lag es Simon auf der Zunge. Aber er hielt sich zurück, ballte die Fäuste, um nicht ausfällig zu werden. Er hatte sich wohl getäuscht, der Neue war genauso ein Schwätzer wie der alte. Schade. Er würde auf der Hut sein müssen. Aber recht hatte der Kerl schon. Die Lage des Grundstücks war hervorragend, besser ging es gar nicht. Und der Markgraf gewährte Bauhilfen. Natürlich nur denen, die es ohnehin dicke hatten. Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Er als kleiner Soldat konnte da nicht mithalten, egal wie günstig die Preise waren.
Doch das würde sich ändern. Dreiundzwanzig war er jetzt. In fünf Jahren, hatte er sich vorgenommen, wollte er den Majorsrock tragen, mindestens – und darunter eine prall gefüllte Geldkatze.
»Gehen wir!«, befahl er harsch und bahnte sich seinen Weg an Gestrüpp, Steinen und altem Gerümpel vorbei vor zur Lammgasse. Er horchte nach hinten, ob der andere ihm folgte, und nahm beruhigt die im Schnee knirschenden Schritte des Mannes wahr. Dass ihre Spuren sie verraten könnten, war ärgerlich, aber nicht zu ändern. Er hoffte, dass es in der Nacht wieder schneite, damit die Fußstapfen verwischten.
Dann standen sie auf der Gasse. Links glaubte er, eine Bewegung wahrzunehmen. Der Schatten eines Menschen? Vielleicht narrte ihn aber auch der flackernde Schein einer Kerze, der von einer Mansardenluke auf die Straße fiel. Irgendwo wurde ein Fenster geschlossen, leise, als solle es niemand hören. Er blickte die Häuserfronten entlang. Nichts. Nur ein Krächzen. Ein später Vogel, oder hatte sich jemand geräuspert? Unwirsch zuckte er mit den Schultern, überall sah und hörte er schon Gespenster.
Als sie sich an der Langen Straße trennten, schnauzte er den Boten schärfer an als nötig: »Gebt mir in Zukunft früher Bescheid, die Zeit war dieses Mal knapp bemessen.«
Dem Patron musste doch klar sein, dass er Soldat war und Pflichten hatte und nicht über beliebig freie Zeit verfügte. Andererseits, der Mann zahlte ordentlich, mehr als ordentlich, das musste man ihm lassen.
»Na, nix für ungut«, brummte er.
Die Straße war glatt. Simon musste aufpassen, wo er hintrat. Er hatte keine Lust, zu stürzen und sich die Knochen zu brechen. Warum hatte hier noch keiner gestreut? Höchste Zeit auch, dass die Stadt die Straßen endlich pflastern ließ. An der Waldhorngasse hatten sie angefangen und wieder aufgehört, dann wieder weitergemacht und wieder aufgehört. Arbeiter! Das waren nicht die schnellsten Zeitgenossen, die der Herrgott erschaffen hatte. Aber die oberen Finanzverwalter waren auch nicht viel besser. Was nichts kostete, wurde sofort erledigt, alles andere, wenn der Mond blau war.
Er querte den Marktplatz, der unter einer geschlossenen Schneedecke lag. Die dunkle Masse der Concordienkirche zeichnete sich gegen den Himmel ab. Hinter der kleinen Kreuzgassenkirche der Reformierten näherte sich der Nachtwächter, leuchtete ihm ins Gesicht und grüßte schweigend. Simon fiel das verdächtige Fenster wieder ein. Hatte eine Hausfrau oder eine Magd vor dem Schlafengehen noch frische Luft ins Zimmer gelassen und beim Schließen einfach nur Rücksicht auf die Nachbarschaft genommen? Oder waren er und der Bote beobachtet worden? Sollte er das Versteck wechseln? Schon wieder?
Am Anfang hatte er vor der Stadt nahe dem Rintheimer Feld eine verfallene Scheune ausfindig gemacht, die für seine Zwecke bestens geeignet schien. Aber nach einiger Zeit wurden die Wächter am Durlacher Thor misstrauisch, frugen ihn aus, wenn er wieder mal die Stadt ohne Kompagnie verließ, und dann war unvermittelt eine Patrouille aufgetaucht. Er musste das Weite suchen. Das nächste Versteck lag bei Gottesau. Von dort führte ein verborgener Trampelpfad in die Residenz. Dafür aber schlichen ständig Tagelöhnerinnen, Feldarbeiter und Schmuggler in der Gegend herum, und wieder befürchtete er, entdeckt zu werden. Bis er eines Tages mitten in der Stadt im wahrsten Sinn des Wortes über diesen leeren Bauplatz stolperte, genauer gesagt über eine im Weg liegende Stange. Während er sich hochraffte, bemerkte er im Zaun eine Lücke zum Nachbargrundstück. Neugierig ging er nachschauen und erspähte dahinter, versteckt unter Bäumen und Büschen, so etwas wie eine Hütte, einen von hohem Gras und Kletterpflanzen überwucherten verlassenen Schuppen.
Eine Zeit lang beobachtete er den Ort, dann richtete er ihn her und besorgte sich für die Tür ein Vorhängeschloss. In den beschädigten Zaun passte er Latten ein, die er leicht abnehmen und wieder davorklemmen konnte. Der Durchschlupf würde nur jemandem auffallen, der direkt danach suchte. Allerdings müsste er aufpassen, falls das Grundstück eines Tages verkauft werden würde und jemand zu bauen anfing. Aber darüber wollte er sich jetzt noch nicht den Kopf zerbrechen. Vielleicht könnte er ja tatsächlich selbst … wenn das Geschäft weiterhin so gut liefe …
Die feinste Adresse war Heberles Schankstube in der verlängerten Adlergasse nicht. Es stank nach verpesteter Luft, Schimmel und Nierle in saurer Soß. Der Schnaps war Fusel, der Wein lausig, aber bezahlbar.
Die Kameraden waren noch nicht da. Simon setzte sich an ihren Stammtisch, Johanna brachte ihm zu trinken.
»Auch was essen?«
Er schüttelte den Kopf.
Vom Nachbartisch wehte Tabaksdunst herüber. Dreckiger Verschnitt wie zu Hause in Landeck. Er hasste die Erinnerung daran. Wenn es wenigstens reines Kraut wäre, wie es der Herr Major zu rauchen pflegte.
Natürlich hatten sie damals unbedingt auch rauchen wollen. Er. Fischers Arthur, der mit seinen zehn Jahren der Jüngste gewesen war. Dem Englerbauer sii Jacöbli. Kiefers Christian. Und schließlich der Huber Auguscht, der zwei Jahre später in die Mistgabel fiel und vier Tag lang starb. Sie hatten ihren Alten das Kraut stibitzt und in einem Keller der Landecker Burg gepafft, bis ihnen der Rauch aus den Ohren quoll. Nur dass ihm kotzübel davon wurde. Er hatte raus müssen, hinter einen Busch. Das passiert mir nicht noch mal, schwor er sich. Wenn die anderen rauchen konnten, konnte er das ja wohl dreimal. Aber sein Körper wollte nicht wie er, rebellierte, sooft er es versuchte. Die Freunde verhöhnten ihn, und bald wusste es jeder im Dorf, der Simon kann nicht rauchen! Der ist noch grün hinter den Ohren, grüner geht’s nicht. Sein Bruder, dieser Blödian, tönte am lautesten und pustete ihm seinen Pfeifenrauch ins Gesicht. Dabei war der kaum älter als er. Nur zwei Jahre.
Später tröstete er sich mit der Kuhmagd des Georgenbauern. Sie war ihm an einem heißen Julitag bereitwillig in den Wald gefolgt, entledigte sich auf einer hellen Lichtung ihrer Schnürbrust, löste gegen ein paar Kreuzer das hellrote Bändele am Hemdausschnitt, sodass das Kleidungsstück über die Schulter glitt und der Busen herausrutschte. Erregt packte er zu. Aber sie haute ihm auf die Finger, giggelte und kicherte und ließ ihn zappeln, er hielt es kaum noch aus. Da endlich erbarmte sie sich, hob den Rock und zeigte ihm, was er tun müsse. Er sei der Erste, versicherte sie ihm hinterher, während sie sich gemächlich Tannennadeln und Grashalme aus Haaren und Kleidung pflückte und das Geld zählte, das sie ihm abverlangt hatte. »Schwör’s«, hatte er gesagt, und sie schwor: »He jo bisch dü de Erschd, was glaubsch denn?« Jetzt war er also ein Mann, ein richtiger Mann, und den anderen eine Nasenlänge voraus, auch wenn er das Rauchen nicht vertrug. Bis er erfuhr, dass dieses heimtückische Weib schon im Jahr zuvor mit Kiefers Christian das gleiche Spiel getrieben hatte und auch mit dem Englerbauer sii Jacöbli und sogar mit seinem blöden Bruder.
Als die Werber des Markgrafen kamen, entschied er sich sofort. Er ließ sich mustern und wurde genommen. Nach Carlsruhe würde es gehen, Carlsruhe war gut, die Stadt war weit weg von Landeck, viel weiter weg als Freiburg. Und er stellte sich vor, wie anmutig die Frauen in der Residenz sein würden, und keiner käme ihm ins Gehege, vor allem nicht sein blöder Bruder.
Simon hatte den Wein, den Johanna ihm zuvor gebracht hatte, längst ausgetrunken, als die Kameraden eintrafen, sogar der ernste Heinrich Abele war mit dabei.
»Sieh da, der Abele. Der Herr Professor steigt vom hohen Ross und beehrt das Fußvolk. Ist dir die Lektüre ausgegangen?«, lästerte Simon, aber der Kamerad ging nicht auf die Sticheleien ein, ließ ihn einfach abblitzen.
»Brot, Schmalz und den größten Krug Wein, den ihr habt«, krakeelte Hänsle Pfeiffer, noch bevor er sich gesetzt hatte. »S’ geht auf mich.«
»Prost, Landecker!«, sagte Friedrich mit den roten Haaren, als jeder versorgt war, und hob sein Glas. »Auf dich, und pass in Zukunft besser auf, wenn du zu ’ner Dirn gehst.«
Simon keifte. »Als ob ich nicht aufgepasst hätte!«
»Nimm das nächste Mal einen Schafsdarm mit!«, riet Pfeiffer und machte eindeutige Zeichen mit den Fingern.
»Wieso einen Schafsdarm?«, fragte Ludwig Lauer. »Ich dachte, die Weiber wissen, wie sie einen Bauch wieder wegkriegen …«
»Du bist zwar der Längste im Regiment, Lauer, aber dafür der Dümmste, so dumm wie Bohnenstroh.« Der rote Friedrich, der neben ihm saß, versetzte dem Gefährten einen Schlag auf den Hinterkopf.
»Ich dachte …«
»Denk nicht, das nützt bei dir nix.«
Lauer schwieg eingeschnappt.
»Ihr hättet heute Morgen die Gesichter der Weiber auf dem Richtplatz sehen sollen«, unterbrach Hänsle Pfeiffer das Geplänkel der beiden. »Mann, sind die verschrocken, herrlich.«
»Nur verschrocken?«, meldete sich Georg Frühauf. »Eine Lehre fürs Leben sollte es ihnen sein.« Er hob seine Stimme, als stünde er auf der Kanzel. »Was diese Würbsin gemacht hat, ist doch wider Gott und die Natur. Diese Teufelinnen bringen ihre eigenen Kinder um und behaupten hinterher noch, dass der Satan es ihnen befohlen hat.« Geringschätzig zog er die Luft durch die Nase.
Der rote Friedrich nickte. »Die Würbsin hat auch vom Satan geredet«, posaunte er in die Runde. »Nur dass bei ihr der Böse ein kleines schwarzes Männle im grünen Rock gewesen ist. Es hat ihr angeblich eingeflüstert, sie soll das Kind noch vor dem ersten Hahnschrei mit der Rübe erschlagen.«
Lauer glotzte ihn ungläubig an. »Woher weißt du das?«
»Von einem der Hofräte, der beim Verhör im Oberamt mit dabei war. Ich kenne ihn gut, verkehre manchmal bei ihm zu Hause«, prahlte Friedrich, rief Johanna und hielt ihr den schon wieder leeren Krug entgegen.
»Du willst uns wohl verdursten lassen?«
Er zwickte sie in die Wange. »Zur Strafe bekomm ich einen Kuss und dann: allez hopp, mein liebes Kind, Wein und Karten, aber schnell, wenn ich bitten darf.«
»Karten und Wein sofort. Zum Küssen komm ich, wenn ich Zeit hab, sonsch lohnt sich’s ja net.« Sie wedelte ihm mit der Schürze vor dem Gesicht herum, und alle außer Simon johlten vergnügt, der rote Friedrich schlug sich wiehernd auf die Schenkel.
»War das erschlagene Kind eigentlich ein Junge oder ein Mädchen?«, fragte Heinrich Abele in das Gegröle hinein.
»Ein Mädchen.« Der rote Friedrich schien alles zu wissen. Aber Simon reichte es jetzt. Dieser Lackel von Friedrich, der immer den Possenreißer spielen musste, und dann der Klugscheißer Abele. Den hatte er besonders gefressen. Aufgebracht leerte Simon sein Glas Wein und goss sich sofort nach. Satan, Rübe, Mädchen, Junge. Was sollte dieses ganze Gewäsch? Die Sache war zu Ende, warum schon wieder davon anfangen? Ja, gut, er hatte die kleine Würbsin gekannt. Das blieb bei einer Einquartierung nicht aus, dass man den Töchtern des Hauses begegnete und, wenn man nicht gerade ein Stoffel war, hin und wieder ein paar freundliche Worte mit den jungen Dingern wechselte. Hätte jeder andere genauso getan. Ihre Eltern hatten es ihm ja auch leicht gemacht. Jeden Sonntag Arme Ritter und andere süße Küchle von der Mutter, und der Vater hatte ihn zu Branntwein oder Obschtler eingeladen, manchmal auch zu beidem. Daheim in Landeck gab es so was Gutes nicht, da gab’s nur Topinambur, der einem die Löcher im Hemd zusammenzog und den Magen umdrehte. Ein Gesöff wie Medizin. Aber selbst damit hatte der Vater gegeizt. Und dann war das Maidli ja auch nicht das hässlichste gewesen. Nur die Zahnlücke, oben in der Mitte, wenn Catharina den Mund aufmachte, da klaffte immer ein schwarzes Loch. Aber nachts in der dunklen Kammer sah man das ja nicht.
Und es war ja auch lustig gewesen mit ihr. Eine Zeit lang wenigstens, bis sie ihm diesen Bams unterjubelte. Zuerst den einen, der Gott sei Dank sofort starb, und dann gleich darauf den zweiten. Da hörte für ihn der Spaß aber auf. Die wollte ihn nur krallen. Von wem auch immer dieses Balg war, von ihm nicht. Das konnte gar nicht sein. Denn wenn sein Bruder auch ein Blödian war, eines hatte der ihm beigebracht: Wie man aufpassen musste bei den Weibern. Kurz vor dem entscheidenden Schuss sozusagen geordnet den Rückzug antreten. Und dieses Manöver beherrschte er perfekt.
Natürlich hatte er Mitleid mit ihr gehabt, er war ja kein Unmensch, und in einer schwachen Stunde hatte er Catharina tatsächlich das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Es wurde ihm jetzt noch blümerant, wenn er nur daran dachte. Das hatte wohl am alten Würbs seinem Branntwein gelegen. Wie hatte er sich nur so breitschlagen lassen können! Heiraten! Aber Gott sei’s getrommelt und gepfiffen, sein Vorgesetzter hatte ihn vor dem Schlimmsten bewahrt, nachdem er von dem Malheur erfuhr. »Was glaubt Er denn, wer Er ist?«, hatte der Major ihn zusammengestaucht, dass ihm Hören und Sehen verging. »Glaubt Er denn, unser durchlauchtigster Fürst macht bei Ihm eine Ausnahme? Nein und noch mal nein! Der markgräflich-badische Soldat setzt seine Manneskraft in der Schlacht ein. Ausschließlich in der Schlacht. Dass Er sich das gefälligst hinter die Ohren schreibt, und wenn es Ihn noch so sehr sonst wo juckt, hat Er verstanden?«
Es juckte ihn ständig, jeden Tag, aber er schwieg, stand stramm, ließ die Tirade über sich ergehen, Major von Sandberg war sein Retter. So hatte er sich also überwunden und schweren Herzens zehn Batzen von seinem mageren Sold abgezwackt, damit die doofe Kuh ihren dicken Bauch aus der Welt schaffte. Und was hatte die gemacht? Nichts, rein gar nichts. Weitergejammert und sich wahrscheinlich bei einem dieser welschen Händler, diesen raffinierten Bauchladenkrämern, ein Seidentüchlein gekauft. Selbst schuld, dass sie nimmer lebt.
»Hört endlich auf, ihr tratscht wie die Marktweiber«, schimpfte er mit schwerer Zunge, »ich hab gedacht, wir wollten spielen«, und er feuerte das Kartenblatt, das Johanna gebracht hatte, über den Tisch. Schwungvoll fächerte sich der Stapel auf.
»Apropos Markt.« Heinrich Abele musterte ihn abschätzend. »Die Katze kann das Mausen nicht lassen, gell? Da hab ich dich doch neulich auf dem Markt schon wieder mit so ’nem Madämchen schöntun sehen.«
Simon fuhr hoch, krachend fiel sein Stuhl um. Was spionierte dieser neunmalkluge Professor hinter ihm her? Nur weil der arrogante Pinsel Bücher las, hielt er sich für was Besseres. Einen Augenblick schwankte Simon, musste sich an der Tischplatte festhalten. Dann stürzte er sich auf den Herausforderer.
»Du Sauhund …«
Seine Faust traf Abeles Nase. Er zog den Degen, fühlte sich aber sofort bei den Armen gepackt. Doch er riss sich los und drosch umso erbitterter auf den Lackaff ein, Stühle kippten, Johanna kam gelaufen, kreischte, zeterte, bis der Wirt endlich einen Kübel Abwaschwasser über die Streithähne schüttete.
Mit dem Uniformärmel wischte sich Heinrich Abele das Blut aus dem Gesicht, kroch auf allen vieren zum Tisch, um sich daran hochzuziehen, und ließ sich dann auf die Bank fallen. Johanna legte ihm einen nassen Lappen in den Nacken.
»Das wirst du mir büßen, Freundchen«, murmelte Abele und spuckte einen Zahn aus. »Ich schwör’s dir, das wirst du mir büßen.«
7
Freitag, den 24ten Januarij 1772
Kein Auge hatte Madeleine in den Nächten seit jenem unseligen Freitag vor einer Woche, als das bedauernswerte Mädchen aus dem Dörfle hingerichtet worden war, zugemacht. Auch jetzt drehte sie sich wieder in ihrer Bettlade ruhelos von einer Seite zur anderen, und natürlich wachte prompt der pëchit Fraïre neben ihr auf und fing zu greinen an. Plärrkind! Seufzend erhob sie sich, drehte ein Stück Leinen zum Nuckel, tunkte ihn in Honigwasser und schob ihn dem Brüderchen in den Mund. Gierig begann der Junge zu schmatzen, ein paarmal noch schluchzte er tief auf, dann verlor er das Schnullertuch und schlief wieder ein, ohne dass die Maïre und die Geschwister aufgewacht wären. Aufatmend kroch Madeleine zurück unter die Decke. Sie rieb ihre Eisklotzfüße aneinander, starrte zum Plafond und horchte in sich hinein. Ab wann merkte man, dass man ein Kind im Leib trug? Wen sollte sie fragen? Jeanne? Aber die Freundin würde es womöglich weitererzählen, und dann könnte es der Maïre und der Nonno zu Ohren kommen.
Die Medicinalratswitwe!, fiel Madeleine plötzlich ein. Warum nicht? Frau Wilde hatte ihrer vorherigen Magd helfen wollen, vielleicht konnte auch sie sich ihr anvertrauen.
Sie zog sich die Wolldecke bis zur Nasenspitze und linste durchs Fenster nach draußen in die Düsternis. Zwei volle Markttage hatte sie wegen des Wetters ausfallen lassen müssen, der Weg wäre zu gefährlich gewesen. Aber seit gestern war die Straße wieder frei, heute würde sie gehen.
Es war noch stockfinster, als sie kurz nach vier vor die Haustür trat. Bis zum Abzweig, wo links der Weg hinunter nach Ettlingen führte, schloss sich ihr, unentwegt schwatzend, die Bariol vom Nebenhaus an. Madeleine achtete nicht auf sie, gab nur hin und wieder ein Sì oder No von sich, einmal ganz in Gedanken ein französisches Oui, dachte an die arme Magd der Medicinalrätin, an die tote Catharina Würbsin und an Jeanne, die nun ein Kind hatte und einen Vater dazu, doch sie bezweifelte, dass die Freundin glücklich war. Sie sah nicht so aus. Endlich verabschiedete sich die Bariol, dann war Madeleine mit sich, ihrem schweren Honigkorb und den quälenden Gedanken allein.
Sie mied die viel begangene Strecke Richtung Durlach. Unterwegs träfe sie jede Menge Tagelöhnerinnen und Händlerinnen aus den benachbarten Dörfern, wahrscheinlich auch die Batzenhöferin mit ihrem großen Buckel und den vielen Lachfältchen. Eigentlich mochte Madeleine die Bäuerin, ihr hatte sie es zu verdanken, dass sie leidlich Deutsch sprach, besser jedenfalls als die meisten Palmbacher Waldenser. Die Batzenhöferin konnte erzählen wie sonst kaum jemand, Geschichten von Liebesleid und Liebesglück, von Drachen, Riesen und Nixen im Mummelsee, Märchen und Legenden, die sie von ihrer Großmutter hatte. »Die mit genauso ’nem Buckel gesegnet war wie ich. Bei Regen konnt ich mich drunterstelle und wurd net nass«, behauptete die Bäuerin tiefernst und freute sich über die ungläubigen Gesichter der Kinder und die belustigten der Erwachsenen. Madeleine wurde nie müde, ihr zuzuhören, doch heute war ihr nicht danach zumute. Sie entschied sich für den unbequemeren, dafür weniger belebten Weg durch den Grünwettersbacher Wald.
»Notre páire dâ sèel …«, fing sie im Rhythmus ihrer Schritte zu beten an. »Notre páire dâ sèel, que toun noum sie santifia … s’ la voû plai, Buondìou, mach, dass ich meine Sach wieder krieg, und dann, ich versprech’s, guter Gott, will ich mich nie mehr mit dem Soldat treffen, nie mehr.«
Hinter der Kurve lag Wolfartsweier, vereinzelt flackerten Lichter in den Häusern. Weiter wand sich der Weg, anfangs noch über freies Land, dann bergab durch dichten Wald. Das winternackte Geäst knarzte, krächzend erwachte ein erster Rabe.
Auch Carlsruhe lag noch im Dunkeln, als Madeleine am Rüppurrer Thor ankam. Die Wachthabenden palaverten mit einem Händler, umrundeten seine Holzfuhre, zählten, prüften, schrieben beim Schein der Talgkerze etwas in ein dickes Buch, palaverten wieder. Sie musste sich gedulden.
»Honig«, erklärte sie dem Zollwächter, als sie schließlich an der Reihe war, öffnete auf seine Order hin die Kiepe und nahm den dicken Korkstöpsel vom Behälter.
»Und was ist das hier?«
»Grumbiire.«
Sie war stolz, dass sie das Wort behalten hatte. »Aber die sind nicht für den Verkauf. Ich will sie jemandem schenken.«
Der Mann griff in den Korb und holte eine der Knollen heraus, drehte sie in der Hand, roch daran. »Ich hab so was noch nie gegessen.« Er blinzelte ihr frech zu. »Willst du mich nicht mal bekochen?«
Madeleine erschrak. Die Maïre hatte recht, in der Stadt musste man höllisch aufpassen. Sie wand sich verlegen. »Bei uns dürfen nur Männer Trifulles kochen, ein alter Brauch bei den Waldensern«, behauptete sie und staunte, wie leicht ihr eine solch idiotische Lüge über die Lippen gekommen war, ihre Stimme hatte nicht einmal gezittert.
Tut mir leid, Buondìou, verzeih, eine Notlüge, es ging nicht anders, und sie schickte einen entschuldigenden Blick in den Himmel. Der Wachthabende grinste und steckte die Knolle ein.
»Na gut, dann werd ich sie mir halt selber kochen.«
»In Salzwasser«, rief Madeleine noch und machte sich schleunigst aus dem Staub.
Sie bemerkte den Straßenfeger erst im letzten Moment. Seit jenem Tag, als er ihr geholfen hatte, den Korb zu packen, war er ihr nicht mehr über den Weg gelaufen.
Sie hatte sich noch bedanken wollen, damals, wollte ihm ein paar Nüsse schenken, auch Maronen. Aber da war er, als sie sich umdrehte, schon fort gewesen. Vergeblich hatte sie hinter ihm hergerufen. Die Oberhäusserin gackerte anzüglich. »Na, da haschte dir abba en schöne Verehrer ang’lacht«, höhnte sie. Madeleine lief rot an. Dumme Ziege! Sie kannte diesen Menschen doch gar nicht, hatte ihn noch nie zuvor gesehen, was sollte diese Bemerkung?