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Wenn wir Achtsamkeit praktizieren, dann geht es nicht darum, etwas nachzubeten, was andere vor uns herausgefunden haben, sondern darum, Bedingungen zu schaffen, unter denen wir ganz bewusst unsere eigenen Erfahrungen in Herz, Körper und Geist beobachten können. Achtsamkeit zu definieren, ist in etwa so, wie einem Kind zu erläutern, was Spaß bedeutet. Es ist unvergleichlich einfacher, mit ihm ein Spiel zu spielen, und ihm dann – wenn es vergnügt herumtanzt – zu sagen: „Das nennt man Spaß haben.“ Anstatt Ihnen also zu erklären, was Achtsamkeit ist, werde ich ihnen einige Fragen stellen.
Erinnern Sie sich…
• wie es sich anfühlt, vollkommen in einer Tätigkeit aufzugehen, so dass all Ihre Gedanken in den Hintergrund treten – vielleicht während Sie Sport betreiben, Musik machen oder einer anderen kreativen Tätigkeit nachgehen?
• an eine gefährliche Situation, in der Ihre Sinne geschärft und Ihre Aufmerksamkeit wie ein Laser fokussiert war?
• wie der Blick in die Augen eines Babys, Sie völlig sprachlos vor Liebe und Staunen zurückgelassen hat?
• so tief in eine Geschichte eingetaucht zu sein, dass die Erfolge, das Elend und die Freude eines vollkommen Fremden Ihnen vorkamen wie Ihre eigenen?
In solchen Momenten ist unsere Aufmerksamkeit tief im gegenwärtigen Augenblick verankert, ohne dass unser Geist sich in Vergleichen und Bewertungen verliert. Diese Momente geschärften Gewahrseins entstehen oft spontan, doch wir praktizieren Achtsamkeit, damit wir sie nicht bloß in Ausnahmesituation, sondern auch in unseren alltäglichen Momenten genießen können. Wenn Sie gehen und die Berührung Ihrer Füße auf dem Boden und das Einströmen der audiovisuellen Reize bewusst wahrnehmen, dann gehen Sie achtsam. Wenn Sie autofahren und sich der vorbeiflitzenden Straßenschilder und des Gefühls des Lenkrads in Ihrer Hand bewusst sind, dann fahren Sie achtsam Auto. Das mag einfach klingen, doch überlegen Sie einmal, wie oft Sie schon Ihren Wagen quer durch die Stadt gelenkt haben und die ganze Fahrt über in irgendwelche Gedanken vertieft waren. Achtsam zu sein, könnte Ihnen das Leben retten.
Achtsamkeit ist nicht irgendeine neumodische Erfindung. Es ist nicht nötig, dass Sie diese Achtsamkeit für sich und Ihre Schüler neu entwickeln; wir werden mit ihr geboren. Ja, in gewisser Weise sind Kinder wesentlich achtsamer als Erwachsene. Ein Kind, das mit großen staunenden Augen ein Blatt betrachtet, ist ein großartiges Beispiel für Achtsamkeit. Wenn Babys beginnen, die Welt zu erkunden, dann ist alles neu und wundersam. Natürlich ist 20, 30 oder 40 Jahre später immer noch alles wundersam, doch mit dem Erwachsenwerden hat unser Geist scheinbar gelernt, die wundersamen Dinge banal zu finden. Die Neuropsychologie zeigt, dass das Gehirn eines Säuglings doppelt so aktiv und anpassungsfähig ist, wie das Gehirn eines 18-jährigen. So wie ein Kind beim Guckguck-Spielen denkt, dass die Welt hinter seinen Händen verschwindet, erliegen Erwachsene dem Irrglauben, dass die große weite Welt verschwunden ist, obwohl sie eigentlich nur ihr Gewahrsein eingeschränkt haben. Wir schaffen es tatsächlich in einem Flugzeug zu sitzen, das über schneebedeckte Berggipfel fliegt und – nur gelegentlich von unserem Sudoku-Rätsel aufblickend – uns zu langweilen. Nur allzu leicht verbringen wir unsere Zeit damit, Zukunftspläne zu schmieden, uns Sorgen zu machen oder an irgendwelchen elektronischen Geräten herumzuhantieren, während die Schönheit des Lebens an uns vorüberzieht.
Es ist nie zu spät, dem Geheimnis und dem Rausch unseres Daseins zu verfallen. Achtsamkeit lädt uns ein, zur Kostbarkeit des jetzigen Augenblicks zurückzukehren. Kinder sind im gegenwärtigen Augenblick versunken und mein Anliegen ist es in erster Linie, das helle Gewahrsein, das ja bereits da ist, nicht kaputt zu machen. Zu Beginn sage ich meinen Schülern, dass wir „Achtsamkeit spielen“ werden. Es gibt keine Hausaufgaben, keine Tests und man kann überhaupt gar nichts falsch machen. Denn im Laufe unseres Erwachsenwerdens wurde uns eingetrichtert, dass man alle Fragen richtig beantworten muss, um geliebt zu werden. Der achtsame Weg räumt mit einigen dieser alten Überzeugungen auf, damit wir glücklich sein können, so wie wir sind. Achtsamkeit führt uns Erwachsene zurück zur unmittelbaren Begegnung mit dem gegenwärtigen Augenblick, wie ein Niederknien, um dem Jetzt sein Jawort zu geben.
* Oprah Winfrey ist eine bekannte US-amerikanische Talkshow Moderatorin (Anm. d. Übers.).
Die achtsame Revolution des Erziehungssystems
Hinter den Gittern seiner Jugendstrafanstalt sitzt der 17-jährige Damon auf seinem Stockbett und spürt die sanfte Bewegung seines Atems. Als ein weiterer wütender Gedanke auftaucht, erinnert er sich an seine Achtsamkeitslektion und bemerkt die Spannung in seinem Körper. Er lächelt dem vorbeiziehenden Gedanken zu und spürt wie sein ganzer Körper sich entspannt. Er nimmt die Weite in seinem Inneren wahr und ein Gefühl von Freiheit, von dem er nicht sicher ist, ob er es je zuvor empfunden hat.
Am anderen Ende der Stadt geht Susan in die Friedensecke ihres Klassenzimmers. Sie spürt ein beklemmendes Gefühl in ihrem Hals und ihrem Herzen – dasselbe Gefühl, das sie jedes Mal beschleicht, wenn eine Klassenarbeit ansteht. Sie setzt sich auf ein gemütliches Kissen, schließt ihre Augen und stellt sich vor, wie sie fest umarmt wird. Ihre Anspannung löst sich und Wärme breitet sich in ihrem Körper aus.
Als Susans Lehrerin Nia auf dem Weg zu einem Treffen mit der Direktorin der Schule ist, erinnert sie sich an die vergangenen Meinungsverschiedenheiten über Disziplin und Bestrafung. Sie nützt ihren achtsamen Atem, um inmitten der wirbelnden Gedanken und Gefühle ruhig und zentriert zu bleiben. Zu ihrer großen Überraschung möchte die Direktorin diesmal einen Rat von ihr. Wie kommt es, dass Nias Klasse in letzter Zeit die besten Arbeiten geschrieben hat und trotz allem, als einzige, nicht gestresst scheint? „Ist es diese Achtsamkeits-Sache? Können Sie uns beibringen, wie man das macht?“
Während Sie diese Worte lesen, trainieren Schüler in Ruanda, Israel, Jamaika, Kanada und den gesamten USA ihren Achtsamkeitsmuskel, sie öffnen ihr Herz der Dankbarkeit und Versöhnung, sie lernen zu entspannen und sich selbst zu lieben. Währenddessen erhalten Lehrer endlich die inneren Ressourcen, die sie so dringend benötigen, sie lernen Mitgefühl mit sich selbst zu haben, ihren Stress abzubauen und weitere unschätzbare Lektionen, die sie an ihre Schüler weitergeben können. Sie finden zu innerer Ruhe und mitfühlender Aufmerksamkeit, die das Unterrichten wieder zu der leidenschaftlichen Berufung werden lässt, die es ursprünglich war. Diese Bewegung nimmt im Herzen jedes einzelnen von uns ihren Ursprung und hat das Potential, die ganze Welt zu verändern.
Möchte nicht jeder von uns – Lehrer, Eltern und Kinder – lieber entspannt als gestresst sein, lieber glücklich als deprimiert, lieber aufmerksam als unaufmerksam? Möchten wir uns nicht alle körperlich, geistig und emotional ausgeglichen fühlen? Natürlich möchten wir das. Es fühlt sich einfach besser an.
Schüler werden tausende Male dazu angehalten, aufmerksam zu sein, aber man sagt ihnen nur sehr selten, wie man das macht. Wir sagen unseren Kindern immer wieder, sie sollen nett zueinander sein, ohne ihnen jemals die leicht verständlichen Übungen zu vermitteln, die Mitgefühl und Versöhnung fördern. Wir halten Schüler dazu an, nicht so impulsiv zu reagieren, wir stecken sie sogar in Jugendstrafanstalten – alles nur weil sie die Unruhe in ihrem eigenen Körper nicht regulieren können. Es gibt Mittel, um Impulskontrolle, Aufmerksamkeit und Mitgefühl zu entwickeln, nur werden sie jungen Menschen sehr selten vermittelt. Achtsamkeit hat sich seit Jahrtausenden als effektives Training für diese Qualitäten erwiesen und die Forschung scheint ihren großen gesundheitlichen Nutzen in zunehmendem Maße zu bestätigen.
Viele im Bildungsbereich tätige Menschen setzen nun auf Achtsamkeit als Gegenmittel zur wachsenden Dysregulation der Jugend in unserer Gesellschaft. Die Statistiken sind beunruhigend und bestätigen die Sorge von Lehrern und Eltern. Ernsthafte psychologische Störungen zeigen sich in immer größerer Anzahl in immer jüngeren Jahren. Das National Institute of Mental Health meldet: „Etwa einer von vier Jugendlichen in den USA erfüllt die Kriterien einer psychischen Störung mit schwerwiegender Beeinträchtigung im Laufe seines weiteren Lebens.“ (Merikangas, K. R. u. a., 2010) Das können wir an Gesundheitsindikatoren der unterschiedlichsten Bereiche beobachten: Fettleibigkeit, Autismus, Hyperaktivitätssyndrom, Angstzustände, Depressionen, Mobbing – sei es nun auf sozialer, psychologischer oder physischer Ebene, der Trend weist in eine beunruhigende Richtung.
Es ist sicher interessant, was Erziehungsexperten, Entwicklungspsychologen und Neurowissenschaftler dazu zu sagen haben, doch das wichtigste ist wohl, dass wir unseren Kindern zuhören. Unsere Kinder sind das schwächste Glied in dieser Kette, sie sind die verletzlichsten Mitglieder unserer Gesellschaft, sie reagieren auf die Stressoren unserer Welt. Was in unserer Erwachsenenwelt unter den Teppich gekehrt wird, tritt in den Sandkastenspielen unserer Kinder wieder zu Tage. Wenn ich in meiner Praxis mit kleinen Kindern arbeite, dann fordere ich sie auf, in einem kleinen Sandkasten mit meiner Figurensammlung zu spielen. Die Szenarien, die die Kinder darstellen, repräsentieren ihre ungelösten emotionalen Erfahrungen. Ein Kind, das häusliche Gewalt erlebt hat, legt ein Baby in eine Krippe, die von Wölfen umzingelt ist; ein Kind dessen Eltern sich scheiden lassen, nimmt zwei Häuser und stellt dazwischen eine Wand auf. Die Kinder stellen ihre emotionale Verfassung mit Symbolen dar und versuchen sie dann spielerisch zu lösen. Die Stressoren, mit denen Kinder aufwachsen, beeinflussen die Struktur ihres Gehirns und ihres Körpers und somit auch, wer sie für den Rest ihres Lebens sein werden.
Während Kinder die täglichen Nachrichten von Schulmassakern, Kriegen und steigendem Meeresspiegel mitanhören, entwickelt sich ihr Körper und Geist inmitten dieser Unzahl an Stressoren. Wenn das Stresslevel zu hoch wird, reagieren die Kinder mit Dysregulation. Es ist ein Alarmsignal. Ich erkenne dieses Alarmsignal in den ernsten Depressionen und Ängsten meiner jungen Psychotherapiepatienten. Und ich sehe es laut und deutlich, wenn 150 Gymnasiasten mit tosendem Applaus auf ein von mir abgehaltenes Achtsamkeits-Treffen reagieren.
Was hat es mit dieser Achtsamkeit auf sich, werden Sie sich fragen, dass man damit Standing Ovations von Teenagern ernten kann?
Nach einer stillen 10-minütigen Atemübung, stellte eine junge Frau im Publikum eine wichtige Frage: „Ich bin fast eingeschlafen. Was soll ich dagegen tun?“ „Sind Sie müde?“, fragte ich. „Sobald ich aufhöre, etwas zu tun, breche ich zusammen“, sagte sie. Auf meine Frage, was sie denn die ganze Zeit zu tun hätte, verwies sie genervt auf eine lange Liste von Klassenarbeiten, Freizeitaktivitäten und familiären und sozialen Verpflichtungen. Ich antwortete: „Wir alle tun so viel für die Schule, für unsere Eltern oder um vor unseren Freunden cool dazustehen, dass wir tief in unserem Innersten todmüde sind. Nicht die Achtsamkeit macht uns müde, sie zeigt uns nur, wie müde wir eigentlich sind.“ Der ganz Raum schien unisono zu nicken. „Vielleicht sollten wir den Mittagsschlaf aus der Kindergartenzeit in allen Klassen wieder einführen“, schlug ich vor.
Breites Grinsen auf den Gesichtern der Schüler, dann Applaus, Gejohle und schließlich Standing Ovations. Standing Ovations für einen Mittagsschlaf? Diese Schüler und viele andere Schüler in der ganzen Welt sind zutiefst gestresst. Sei es in den Schulen im verarmten Oakland, in denen ich arbeite, oder in progressiven Privatschulen, die Schüler schreien förmlich nach Ruhe. Sie brauchen eine Umgebung, in der ihr Nervensystem, sich entspannen und erholen kann. In meiner Psychotherapiepraxis und auf meinen Reisen zu Schulen auf der ganzen Welt frage ich die Kinder immer, ob sie gerne zur Schule gehen. Traurigerweise blicken mich die meisten verdattert an, so als ob ihnen der Gedanke, man könne gerne zur Schule zu gehen, völlig absurd erscheinen würde.
Selbst heute schrecke ich noch manchmal aus Träumen auf, in denen ich wieder zur Schule gehe und für einen Test nicht vorbereitet bin. Wenn unser Nervensystem in Alarmbereitschaft steht, oder wir von selbstkritischen Gedanken überschwemmt werden, dann funktioniert unser Arbeitsgedächtnis nur mangelhaft und unsere Kreativität und unsere Fähigkeit zur Zusammenarbeit sind eingeschränkt. Bei der achtsamen Erziehung setzen wir voraus, dass uns allen der Keim der besten menschlichen Eigenschaften, wie Mitgefühl, Kreativität, Integrität und Weisheit, innewohnt. Unter diesem Gesichtspunkt bedeutet Erziehung idealer Weise, die Kinder auch im Unterricht so zu behandeln, dass diese wunderbaren schlummernden Eigenschaften erblühen können. Statt einer Atmosphäre von Stress, Konkurrenz und Strafe bemühen wir uns um Akzeptanz, Zuwendung und Ermutigung. Wir beginnen damit, das Kind genau so zu akzeptieren, wie es ist; Diese Art von Aufmerksamkeit unterstützt die Kinder dabei, ihr volles Potential zu erschließen. Wie jeder Lehrer weiß, fällt Lernen leicht, wenn die Schüler sich sicher fühlen und entspannt und aufmerksam sind.
Als die Jugendlichen für einen Mittagsschlaf applaudierten, dachte ich an die Bemühungen, den morgendlichen Schulbeginn im Gymnasium nach hinten zu verschieben. Es scheint für Teenager biologisch gesünder zu sein, etwas später aufzuwachen. Das hat nichts damit zu tun, dass sie faul oder stur sind, sondern entspricht einfach ihrer biologischen Uhr. In diesem Sinne beschlossen zwei Schulen in Minnesota einen späteren Schulbeginn, was zu einer deutlich niedrigeren Schul-Ausfallsrate, weniger Depressionen und besseren Noten führte (Wahlstrom, K., 2002). Jeder Teenager auf der ganzen Welt würde uns sagen, dass es für ihn besser ist, später schlafen zu gehen und später aufzustehen. Wir hätten bloß fragen müssen.
Wenn wir unseren Schülern nicht zuhören, führen wir einen ständigen Kampf gegen sie. Wenn wir auf ihren natürlichen Bewegungsdrang nicht eingehen, müssen wir entweder ständig dagegen ankämpfen oder sie durch Medikamente ruhig stellen, damit sie den ganzen Tag ruhig sitzen bleiben. Wenn wir unseren Schülern keine gesunden Wege zeigen, um schwierige Gefühle auszudrücken, dann werden sie uns letztlich dauernd durch ihr Verhalten frustrieren. Wenn wir ihnen nicht beibringen, wie man aufmerksam ist, bleibt uns nichts übrig, als sie anzuschreien, wenn sie unaufmerksam sind. Unzählige Lehrer haben mir ihr Leid geklagt, weil sie das Gefühl haben, sich in einem Kriegszustand zu befinden, in dem genau die Kinder ihre Gegner sind, denen sie eigentlich helfen wollen.
Jahr für Jahr beobachte ich, wie Lehrer an ihrem ersten Unterrichtstag motiviert und hoffnungsvoll wie ein kleines Kind das Klassenzimmer betreten. Doch traurigerweise sind sie bereits gegen Ende des ersten Schuljahrs vollkommen überlastet und sehnen den letzten Schultag herbei. Die National Commission on Teaching and America’s Future berichtet, dass 46 Prozent aller neuen Lehrer in den Vereinigten Staaten ihrem Beruf innerhalb von fünf Jahren wieder den Rücken kehren. „In den Jahren 1987–88 hatte der durchschnittliche Lehrer 15 Jahre Erfahrung, bereits im Jahre 2007–08 waren es nur mehr 1–2 Jahre“ (Black, L. u. a., 2008). Die Ausfallrate der Lehrer ist höher als die der Kinder. Bevor guter Unterricht und effektives Lernen stattfinden kann, müssen wir ein Umfeld schaffen, in dem Lehrer und Schüler nicht nach dem Notausgang suchen müssen. Wir müssen uns um das Innenleben von Lehrern und Schülern kümmern.
Die Geschichte der achtsamen Erziehung
Nach dem Zweiten Weltkrieg beauftragte die Weltgesundheitsorganisation den Psychologen John Bowlby die psychische Gesundheit der Kinder in Europa zu untersuchen. In seinem Fachgutachten lesen wir: „Wenn der Säugling und das Kleinkind seine warme, intime und dauerhafte Beziehung zu seiner Mutter (oder einem Mutterersatz) hat, erleben beide Befriedigung und Freude“ (Bowlby, J., 1951). Das mag Ihnen nicht besonders bemerkenswert erscheinen; das Schockierende an dieser Aussage ist, dass sie für die Eltern und Lehrer dieser Zeit durchaus revolutionär war. Bowlbys Meinung, dass Kinder Wärme und Zuwendung brauchen, um zu gesunden Erwachsenen heranzuwachsen, wurde heftig angegriffen. Viele waren der Ansicht, solange ein Kind genügend Nahrung und ein Dach über dem Kopf hätte, würde es dem Kind gut gehen. Wenn ein Kind emotional- oder verhaltensauffällig war, wurde das nicht mit möglicher Vernachlässigung oder Missbrauch in Verbindung gebracht. Je mehr auf diesem Gebiet geforscht wird, desto offensichtlicher ist der Zusammenhang zwischen dem emotionalen Umfeld eines Kindes und seiner geistigen und körperlichen Entwicklung, ja selbst seinem beruflichen und privaten Erfolg als Erwachsener.
Natürlich war die Vorstellung einer emphatischen Präsenz beim Unterricht nicht vollkommen neu. Pädagogische Visionäre wie Maria Montessori und Rudolf Steiner traten schon lange vor Bowlbys Studie für sinnlich und emotional zugängliches Unterrichten ein. Wenn wir die Ursprünge unserer Sprache zurückverfolgen, sehen wir, dass das Wort Lernen denselben etymologischen Wurzeln entstammt, wie die Begriffe Spur und Erforschen. Einstmals fand Lernen nicht an rechteckigen Schreibtischen statt, sondern unter freiem Himmel, unter dem unsere Vorfahren ihren Eltern über Stock und Stein folgten und lernten, die Fährten von Reh, Fuchs und Bär zu erkennen. Man lernte nicht über Sterne, Tiere und die vier Elemente sondern von ihnen. Sein Kind mit zur Arbeit zu nehmen war eine Selbstverständlichkeit. Ursprünglich war Lernen eine ganzheitliche, beziehungsbezogene und rein sinnliche Erfahrung.
Obwohl einigen Lehrern, die Bedeutung ganzheitlichen Lernens schon immer bewusst war, haben die Lehrpläne der öffentlichen Schulen bis jetzt sehr wenig dazu beigetragen, um das volle Spektrum emotionaler, sozialer, physischer und anderer Facetten des „ganzen Kindes“ zu berücksichtigen. In den frühen 80-er Jahren stellte Howard Gardner seine Theorie der „multiplen Intelligenzen“ auf (Gardner, H., 1983). In dieser Theorie beschreibt Gardner neun relativ unabhängige Bereiche der menschlichen Intelligenz, die allesamt gefördert und trainiert werden müssen. Sie sind: die sprachliche, die logisch-mathematische, die musikalische, die bildlich-räumliche, die körperliche, die interpersonale, die intrapersonale, die naturalistische und die existentielle Intelligenz. Wenn wir uns die Bedeutung all dieser meist vernachlässigten Aspekte vor Augen führen, entdecken wir möglicherweise auch in uns selbst Aspekte, die von Eltern und Schule unbeachtet geblieben sind.
Als ein eher interpersonal, intrapersonal, naturalistisch und existentiell denkender Mensch, hatte ich in der Schule immer das Gefühl, nicht klug genug zu sein. Aufgrund des logisch-mathematisch orientierten Schulsystems, in dem ich aufwuchs, dachte ich oft, dass „irgendetwas mit mir nicht stimmt“. Wie viele Kinder, denen – genau wie mir – Auswendiglernen und mathematisches Denken nicht liegen, fühlen sich hilflos, kommen mit dem Stoff nicht zurecht und leben dann jahrelang in dem Gefühl, hinterherzuhinken. Ich empfand es als zutiefst befreiend, als ich bei meinem späteren Studium der Philosophie, Psychologie und Meditation – zu meinem großen Erstaunen – feststellen durfte, dass mir diese Art des Lernens überdurchschnittlich leicht fiel.
Seit Daniel Goleman den Begriff „emotionale Intelligenz“ prägte, steht neben dem reinen IQ auch der EQ („Emotionaler Quotient“) im Blickpunkt pädagogischer Diskurse. Golemans Arbeit unterstützte die Befürworter des „Sozialen Emotionalen Lernens“ (SEL), die schon in den späten 60-er Jahren die wertorientierte Bildungsarbeit in die Schulen brachten. Ausgehend von dem medizinischen Fachbereich des Yale Child Study Center verbreiteten sich die Programme für SEL in den größten amerikanischen Schulbezirken und auf der ganzen Welt. Es stellte sich heraus, dass sie nachgewiesenermaßen Emotionsregulation, Sozialkompetenz und Resilienz fördern und die akademischen Leistungen um 13 Prozent verbessern konnten (Durlak, J. u. a., 2011).
SEL-Programme unterstützen Schüler bei der Entwicklung folgender fünf sozial-emotionaler Kompetenzen:
• Selbstmanagement
• Eigenwahrnehmung
• soziales Bewusstsein
• Beziehungsfähigkeit
• verantwortliches Handeln.
Eine der führenden Visionäre des SEL ist Linda Lantieri, die Direktorin des „Inner-Resilience-Program“ und Gründungsmitglied der „Collaborative for Academic, Social and Emotional Learning“ (CASEL). Bei einer Konferenz über Achtsamkeit in der Schule am Omega-Institut leitete ich eine Diskussion mit Lantieri, Goleman und dem Neurowissenschaftler, Autor und Professor für Psychiatrie Daniel Siegel. Lantieri und Goleman berichteten ausführlich von ihren ersten Gesprächen 20 Jahre zuvor, aus denen schließlich CASEL hervorgehen sollte. Ich fragte diese beiden Visionäre, die einen grundlegenden Beitrag zum Wandel unseres Verständnisses von Erziehung leisteten, welche Rolle Achtsamkeit in der Zukunft unseres Schulsystems spielen könnte.
Die Antwort war eindeutig. Sie sprachen über die Kernkompetenzen des SEL und erklärten, dass Achtsamkeitsübungen der geeignetste Weg seien, um diese Kompetenzen auszubilden. Siegel fasste alles bisher über SEL und Achtsamkeit gesagte in einem Wort zusammen: Integration.
Er erklärte Lantieris und Golemans Aussagen über die Auswirkungen von Achtsamkeit auf Verhalten, Gefühle und Aufmerksamkeit aus dem Blickwinkel der Neurowissenschaft. Er beschrieb, wie Achtsamkeitsübungen die Integration unterschiedlicher Hirnareale fördert und sie durch synaptische Verbindungen vernetzt. Wenn das Gehirn durch Achtsamkeit auf diese Weise vernetzt wird, dann entwickeln sich die fünf Kompetenzen Selbstmanagement, Selbstwahrnehmung, Sozialbewusstsein, Beziehungsfähigkeit und verantwortliches Handeln von alleine.
Statt die Kinder zu ermahnen, doch freundlich, aufmerksam und ausgeglichen zu sein, fördert eine Achtsamkeitspraxis diese Eigenschaften aktiv. Deswegen bezieht der auf Ethik und Wertschätzung basierende Lehrplan vieler SEL-Programme auch Achtsamkeitsübungen mit ein. Deswegen ist Achtsamkeit eine große Bereicherung und Ergänzung für die Weisheit des sozial emotionalen Lernens, der Theorie der multiplen Intelligenzen und anderer bewusster Erziehungsphilosophien. Statt bestehende pädagogische Paradigmen einfach beiseite zu schieben, unterstützt Achtsamkeit die kognitiven, physischen und zwischenmenschlichen Aspekte des Lernens.
Die verschiedenen Ansätze
Viele Jahre lang fragten wir uns als aktive Befürworter von Achtsamkeit in der Schule, wie ein auf Achtsamkeit basierendes Curriculum eigentlich aussehen sollte. Dabei haben sich drei wichtige Herangehensweisen herauskristallisiert, um Kinder und Jugendliche an Achtsamkeit heranzuführen. Viele Schulen, Organisationen, Horte, Jugendstrafanstalten, therapeutische Einrichtungen und andere Institutionen sind dabei, sich diese überaus wertvollen Praktiken zunutze zu machen. Wenn wir uns damit beschäftigen, wie wir ein achtsames Klassenzimmer schaffen können, ist es hilfreich, zu schauen, wie andere an diese Aufgabe herangegangen sind. Die drei wichtigsten Faktoren sind:
• Training und Selbstfürsorge für Lehrer
• direkte Anleitung der Schüler
• Integration in den Lehrplan
Training und Selbstfürsorge für Lehrer
Viele Organisationen konzentrieren sich ausschließlich auf die Entwicklung von Achtsamkeit bei den Lehrern selbst. Diese Ausbildungen unterstützen Lehrer dabei, für sich selbst zu sorgen. Die Idee dahinter ist, dass das Wohlbefinden des Lehrers unmittelbare Auswirkungen auf das Klassenklima und die Schüler hat. Die Programme, die in erster Linie mit den Lehrern arbeiten, gehen davon aus, dass Achtsamkeit eigentlich nur von einem erfahrenen Praktizierenden gelehrt werden kann. Lehrer in diesen Ausbildungen blicken oft frustriert auf andere Achtsamkeitsanbieter, deren Absolventen die Übungen, die sie unterrichten, womöglich nie selbst praktiziert haben. Stellen Sie sich einen Lehrer vor, der auf einen Gong einschlägt und die Kinder anschnauzt, endlich still zu sein und sich zu entspannen. Statt den Kindern ein Weg zu innerer Freiheit zu zeigen, wäre das Gehorsam und Kontrolle unter dem Deckmantel der Achtsamkeit.






