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Der Fuhrmann zog die Reiterpeitsche. Sie knallte durch die Luft und der Reisewagen fegte davon. Die Männer folgten ihm als Rückendeckung. Der Esel scheute und warf den Burschen ab, der kein besonderer Reiter war. Der Bursche sprang auf und der braune Drache folgte ihm. Der Bursche rannte so schnell er konnte, doch der Drache war schneller und packte den jungen Mann mit der riesigen Pranke, die etwa so groß war, wie der ganze Körper des Zwanzigjährigen. Der braune Drache verschlang ihn.
Der grüne Drache sah den Braunen an.
»Mit einem Schnapp sind sie im Mund«, brummte er in seiner lauten, tiefen Stimme. Dann stampfte er schnellen Schrittes den fliehenden Reitern nach. Der Drache war sehr jung, denn seine Bewegungen waren schnell und wendig. Er holte spürbar auf die Reiter auf, die gezwungen waren, dem langsamen Gespann Vorrang zu geben. Der Drache holte tief Luft und beugte sich wie für einen Weitsprung nach vorne. Dann spuckte er Feuer so weit es seine Lungen trugen. Der Flammenstoß fegte über die Köpfe der Reiter hinweg, traf den Waldweg und die umstehenden Bäume direkt vor dem Wagen. Die Straße war versperrt und die Pferde scheuten. Sie bäumten vor der Feuerwand auf.
In seiner Verzweiflung, die Tiere unter Kontrolle zu bringen, gab der Fuhrmann seiner Leitstute nach und versuchte seitlich ins Unterholz zu kommen. Die Zugpferde galoppierten direkt von der Straße, doch der Reisewagen zog einen weiten Bogen durch den Brandherd. Die Räder fingen Feuer. Das Fuhrwerk verließ die offene Straße. Aber der Fuhrmann hatte den Straßengraben übersehen. Das rechte Vorderrad sackte hinein und der Wagen kippte um. Er fiel krachend auf die Erde und wurde von den Pferden weitergezogen, bis das Gespann an einer Erle mit dem Wagenbock hängen blieb. Der Fuhrmann schlug mit dem Kopf gegen den harten Stamm und verhedderte sich in den Zügeln. Die beschädigte Deichsel hielt dem Zug der Pferde nicht mehr stand und die Tiere verschwanden mit dem Fuhrmann in den Bäumen.
Die Reiter stellten sich nun mutig dem Kampf. Ihre Aufgabe war es schließlich die Insassen des Wagens zu schützen. Und das würde vor Ort solange geschehen, bis hoffentlich Hilfe eintreffen würde oder sich eine Möglichkeit zur Flucht eröffnen würde. Bei dem grünen Drachen war die Unterseite nicht vollkommen mit gelben Schuppen bedeckt, sondern er hatte einen großen weißen Fleck auf der Brust. Der Drache rannte auf sie zu. Sie holten die Armbrüste und Bögen hervor und schossen nach ihm. Der Drache verbrannte die Bolzen und Pfeile in der Luft. Er riss mit beiden Händen zwei Soldaten aus ihren Sätteln und zerbiss den Ersten im Maul, während der Zweite versuchte sein Schwert dem Drachen in den Unterarm zu rammen. Der Drache spannte die Armmuskeln an. Man konnte die Rippen brechen hören, als sich die Finger um den Oberkörper des Mannes schlossen. Er schrie auf, sein Schwert fiel zu Boden und traf beinahe einen der Reiter, die versuchten ihm zu helfen. Der Mann am Boden griff das Bein des Drachen an und rammte das Schwert gegen dessen Schienbein. Der Drache zuckte zurück. Dann holte er aus und kickte den Reiter gekonnt von seinem Pferd. Der braune Hengst galoppierte davon. Der getretene Reiter war von einer der drei großen Drachenklauen durchbohrt worden und fühlte nichts mehr, als er zwischen zwei Eichen hindurch auf der Tür des Reisewagens landete. Der Arzt konnte gerade noch rechtzeitig den Kopf einziehen, als die Tür über den Passagieren wieder zuschlug, unter dem Gewicht des Toten.
Isabelle, Volker, drei Ärzte und eine Magd waren noch im Wagen eingesperrt, obwohl dessen Dach und Räder brannten. Rufe und Husten klangen aus dem Inneren des Fuhrwerks. Jedoch der Kampflärm übertönte sie.
Die Männer versuchten die Einkreistaktik, aber der grüne Drache schlug drei mit seinem dicken Schwanz aus dem Sattel. Einen Soldaten tötete es sofort, den nächsten beim Prall gegen einen Baum. Der Dritte wurde Opfer des braunen Drachens, der den Mann auffing und einfach den Kopf abbiss. Dann verschlang sie den Rest. Sie war ein Drachenweibchen. Der grüne Drache fraß eines der verletzten Pferde. Zwischenzeitlich sendete er den Soldaten einen Feuerstoß entgegen. Die Männer wichen davor zurück.
Der Großherzog erreichte den Waldrand, als ihm vier Pferde mit einer abgebrochenen Deichsel entgegenkamen und an ihm vorbei galoppierten. Sie verschwanden hinter den Hügeln in Richtung der Stadtfeste Großbergen. Die Pferde kannten den Weg zu ihrem Stall und würden vorher wohl auch nicht zum Anhalten zu bewegen sein. Siegmund preschte kommentarlos auf seinem Hengst durch das Unterholz. Seine Männer folgten ihm schweigend. Siegmund konnte das Feuer riechen, lange bevor sie die ersten brennenden Bäume zu Gesicht bekamen.
Dann sahen sie das Schlachtfeld auf dem ein brauner Drache den Soldaten nachstellte, immer wieder Einen erwischte und fraß.
»Angriff!«, brüllte Siegmund voller Zorn.
Das Regiment brach aus dem Wald auf den Pfad. Die Reiter hatten Schwert oder Armbrust in der Hand und galoppierten auf den braunen Drachen zu. Diese spuckte Feuer.
»Ausschwärmen!«
Die Reiter wichen ihrem Feueratem aus. Die Armbrustschützen eröffneten das Feuer, sodass der braune Drache mit der Bolzenabwehr beschäftigt war. Die Soldaten kreisten sie ein und Siegmund landete einen ersten Treffer mit seinem Zweihänder gegen die Beine des braunen Drachens. Eine Gruppe versuchte den grünen Drachen, der etwas oberhalb der Straße stand, zum Kampf zu bewegen. Der Drache sah aber eher gelangweilt aus und lehnte an einer dicken Eiche, die etwa genauso groß wie er selber war. Nachdem einer der Männer ihm einen Bolzen in den Oberschenkel geschossen hatte, spuckte der grüne Drache einen mächtigen Feuerstoß über die Kampfgruppe und verbrannte Reiter und Pferd mit Haut und Haar. Die anderen Männer wichen zurück, denn der Feuerstoß des grünen Drachen schien anders zu sein, im Vergleich zum Feueratem des Braunen. Er zielte seinen Feuerstoß anscheinend genauer und wusste ganz genau wo und wie er die Soldaten treffen konnte. Der braune Drache schien dagegen mit den Reitern nicht klar zu kommen. Sie war bereits an beiden Beinen verletzt und ihr Schwanz blutete stark. Nicht zuletzt hatte sie auch das Problem direkt gegen Männer wie Siegmund kämpfen zu müssen. Dessen Schild wurde mit dem Feueratem des Drachen sehr gut fertig.
»Bist du fertig mit spielen?«, fragte der grüne Drache schließlich, in einem leicht genervten Unterton.
»Wenn du mir mal Feuerschutz gibst«, antwortete die Braune, sie klang vorwurfsvoll.
Der grüne Drache seufzte und spuckte seiner Drachengefährtin zwischen die Beine. Sie sprang einen Satz nach vorne in die Mitte des Feuerstoßes. Das Feuer traf die Erde in einem Winkel, sodass die Flammen den Männern in die Gesichter züngelten. Die Soldaten wichen vor der Hitze zurück. Der braune Drache verschwand in den Bäumen auf der anderen Seite, während der grüne Drache noch immer am Baum lehnte. Die Reiter formierten sich, um den Drachen nachzusetzen und trabten los. Die Brust des grünen Drachen wölbte sich bereits, weil er tief Luft holte, wohl um seiner Gefährtin mit einer Feuerwand den Rückzug zu decken.
»Halt!«, rief Siegmund. Er war bereits abgestiegen und eilte zum Reisewagen. Das Feuer hatte sich über das Holz ausgebreitet. Die Räder brannten und das Lederdach war bereits bis auf die Bretter verbrannt, während sich die Flammen ihren Weg nach Innen suchten. Dachdielen und Bodenbretter schmorten. Im Laufen warf er dennoch einen verwunderten Blick zu dem Drachen hinüber, der sich so ungewöhnlich verhielt. Aber Siegmund hatte dringlichere Sorgen.
Der Großherzog sprang auf das Fuhrwerk und hob den schweren Toten mit einem raschen Armzug von der Tür und ließ ihn nach unten. Zwei Männer waren nötig, um Siegmund den Mann abzunehmen, den dieser mühelos herum wuchtete. Der Rauch hatte den ganzen Wagen ausgefüllt und zog augenblicklich ab. Siegmund wartete nicht lange mit steinerner Miene, sondern kletterte hinein. Draußen begannen die Soldaten zu löschen. Mit ihren Helmen schafften sie Wasser aus dem nahen Fluss heran und reichten es in einer Kette weiter bis zum Reisewagen.
»Neeiin!!« Ein lauter Schrei erfüllte die Luft: voller Schmerz, voller Wut und voller Hass. Jeder fühlte was geschehen war, die Reiter sahen sich in betroffenem Schweigen an. Andere starrten auf das schmutzige Pflaster. Selbst der grüne Drache senkte den Kopf.
»Es tut mir Leid«, brummte er in seiner tiefen, lauten Stimme. Dann verschwand er zwischen den Bäumen.
Im Wagen hob Siegmund den Kopf von Isabelle an, begutachtete ihn kurz und strich ihr das schweißnasse, schwarze Haar aus der Stirn. Dann drückte er ihren schlaffen Körper an sich und weinte, während er an die schmutzigen Bodenbretter des Wagens vor sich starrte.
Nach vielleicht einer Minute riss sich Siegmund zusammen. Er hob Isabelles toten Körper über seinen Kopf nach draußen auf die Wagenwand. Reiter kletterten hinauf, um ihm die tote Großherzogin abzunehmen. Das Neugeborene lag zwischen ihr und einem der Ärzte. Erschlagen von einem der Gegenstände. Die Ärzte waren ebenfalls tot, erstickt an den Gasen. Das konnte Siegmund in ihren gequälten Gesichtern sehen, während er die Toten nach oben reichte, um Platz zu schaffen. Er wagte nicht sich auszumalen auf was er gerade stehen könnte. Die Magd lag quer über einer Truhe und rührte sich nicht. Sie war blutüberströmt. Der Großherzog reichte sie nach oben. Die Soldaten auf dem Fuhrwerk schüttelten traurig den Kopf, auch die Magd war tot.
Im Fenster auf der unteren Seite lag zwischen einer Truhe und einem Durcheinander aus medizinischem Besteck und verschiedener Schreibwaren der letzte Passagier des Reisewagens. Der kleine Volker lag geschunden und regungslos da. Die Büchertruhe hatte ihn nur knapp verfehlt, doch das Skalpell des Hofarztes seinen Oberarm durchbohrt. Das fröhliche Grinsen war von seinem Gesicht verschwunden und die einst rosigen Wangen leichenblass. Siegmund schüttelte sich, während er um Beherrschung kämpfte. Still rannen die Tränen über seine Wangen während er sich zu Volker hinunter beugte. Vier Jahre hatte er mit dem Jungen verbringen können, viel zu viel davon hatte er mit Maßregelungen oder gar auf Feldzügen verbracht. Er griff den kleinen Körper mit seinen großen Händen. Der Junge wimmerte und hustete. Siegmund fing an zu lachen, dann zu weinen. Er drückte den kleinen Volker an sich und musste sich zurückhalten, ihn vor lauter Freude nicht in seinen massigen Armen zu zerdrücken.
»Er lebt«, rief er heiser, doch er brachte nur ein ersticktes Flüstern heraus. »Er lebt!«, brüllte er schließlich.
Die Männer auf dem Wagen verstanden und riefen nun ebenfalls: »Volker lebt!«
Vom Bann der Trauer entfesselt, toste ein Hurra-Geschrei los, das klang, als ob die Drachen erneut angriffen. Die schmerzlichen Verluste waren für einen Augenblick vergessen. Siegmund begann nach oben zu klettern.
Die Männer boten ihre Hände an, um Siegmund den Jungen abzunehmen. Doch dieser wiegelte ab. Er wollte seinen Sohn so bald nicht wieder loslassen. Mit einer Hand an der Wagenwand und Volker in der Anderen zog sich der Großherzog aus dem Wrack.
»Sanitäter«, brüllte er dann, während er von dem Fuhrwerk kletterte. Die Sanitäter begannen, unter Siegmunds wachsamen Augen, den hustenden Volker zu versorgen. Sie wagten jedoch nicht das Skalpell zu entfernen, sondern fixierten es an Ort und Stelle mit so vielen Verbänden wie ihnen möglich war.
»Wir müssen schleunigst nach Großbergen zurück«, sagte der Sanitäter. »Die Ärzte müssen sich um den jungen Herrn kümmern.«
»Die Ärzte sind tot«, bemerkte der Großherzog.
Siegmund knotete mehrere Dreieckstücher zusammen und legte den kleinen Jungen hinein. Anschließend band der Großherzog die Tücher um seinen eigenen Hals zusammen und stieg auf sein Pferd. Siegmund hatte seinen Sohn nun wie ein riesiges Medaillon an einer Kette um den Hals.
»Alles Aufsitzen«, befahl er im ruhigen Ton. Die Männer stiegen in die Sattel.
»Im Galopp nach Südosten. Auf nach Keeper’s Town!«, rief Siegmund. »Jetzt erst recht!«
Das Regiment galoppierte los, der Nacht entgegen.
2. Kapitel: Alles im Eimer
»So, das ist meine Geschichte«, schloss Volker. »Oder zumindest hat man es mir so zugetragen.«
Er war für einen noch Dreizehnjährigen recht groß und muskulös gebaut. Das war auffallend, weil an dem warmen Frühlingstag beide Jungen die Ärmel hochgekrempelt hatten. Volker hatte schwarzes Haar und ein für einen Jungen markantes Gesicht mit Hakennase. Seine Augen blitzten aufmerksam und klug, trotzdem huschte ihm immer wieder der Schalk durchs Gesicht. Er trug ein halb offenes, hellgraues Leinenhemd, das bis vor nicht allzu langer Zeit weiß gewesen war; pechschwarze Hosen, deren Farbe wohl für eine ganze Familie zum Eindunkeln der Wäsche gereicht hätte, und schwarze Reiterstiefel mit fester Sohle, die ein Vermögen kosteten.
»Und wie hast du Deine verloren?«
Vigor zuckte die Achseln. »Ganz ehrlich, ich habe keinen blassen Schimmer.«
Volker musterte den schlanken Jungen vor sich. Vigor war deutlich kleiner als Volker, aber vor allem sehr mager. Unterernährt, vermutete Volker. Vigor hatte rotbraunes bis dunkelblondes Haar, das ihm ins Gesicht fiel und ein schmales, kindliches Lausbubengesicht. Er war etwa Volkers Alter, sah allerdings doch sehr jung aus. In seinen Augen leuchtete ein Feuer, das ihn für den Sohn des Großherzogs interessant machte. Er schien gebildet und wirkte überhaupt nicht wie einer der Bauernjungen oder Knechte, die Volker bei seinen Streifzügen so über den Weg liefen. Nein, selbst nun nicht, wo er hüfttief im Schlamm steckte. Vigor sah müde, schäbig und dreckig aus. Das graue Leinenhemd, welches er trug, war ausgewaschen, geflickt und ihm deutlich zu weit. Wahrscheinlich konnte er aus dem Hemd auch durch den offenen Kragen schlüpfen, statt es über den Kopf zu ziehen. Kein Wunder, dass es ihm von der Schulter rutschte. Alles in allem ein sehr schmuddeliges Bild. Trotzdem wirkte Vigor stolz und erhaben, mächtig wollte man sagen.
»Was heißt, du kannst dich nicht erinnern?«, fragte Volker.
»Das mir die Erinnerung an das Ereignis fehlt?«, antwortete Vigor. »Dafür würde ich es begrüßen, wenn seine Königliche Hoheit mir helfen könnten.«
»Oh, ja.«
Volker sprang von seinem Ross ab, auf dem er die ganze Zeit über gesessen hatte. Der schwarze Hengst war gesattelt, doch es fehlte jedes Zaumzeug. Volker näherte sich Vigor ein Stück durch das hohe Gras und Schilf, welches auf dem baumüberdachten Schlammufer eines seichten Sees wuchs. Bäume und Gras wurzelten in den See hinein. Die glasklaren Wasserfläche schien auf einen halben Meter nur wenige Zentimeter Tiefe zu gewinnen. Dies war sehr trügerisch, schließlich steckte Vigor in etwa knöcheltiefem Wasser bis zur Hüfte im Schlamm. Volker ging nur so weit bis er Vigors ausgestreckte Arme greifen konnte. Er packte ihn an beiden Arme und begann zu ziehen.
»Fester«, ermunterte ihn Vigor.
Volker zog wie ein Stier.
»Au!«, rief Vigor. »Nicht so fest.«
»Mann, entscheide dich mal.«
»Kann ich wissen, dass du zu viel Kraft hast?«
Volker spannte seinen rechten Oberarm an und spielte mit dem dicken Bizeps hin und her, indem er die geballte Faust drehte. »Ich dachte, dass sei offensichtlich.«
»Ist doch bloß Pudding.« Vigor grinste frech.
»Na, warte.« Volker zog wie besessen an dessen Arme.
»Ist ja gut. Ich glaube es dir.«
»Los, strampeln!«, keuchte Volker. »Damit Bewegung in die Soße kommt.«
Vigor trat Morast, während Volker unablässig zog. Vigor bewunderte die Ausdauer, während seine Füße lahmten. Was natürlich auch daran lag, dass Vigor schon seit mehr als einer Stunde um seine Freiheit kämpfte. Jedes Mal wenn Vigor den Fuß nach oben riss, schien der Schlamm den Fuß mit ungeheurer Kraft wieder nach unten zu zerren. Langsam, ganz langsam bewegte Vigor sich aufwärts.
»Es geht. Es geht«, keuchte er vor Anstrengung.
»Verdammt, ich kann nicht mehr«, japste Volker, ohne das sein Zug nachließ.
»Noch ein Stück.« Vigor versuchte ihn wieder anzuspornen. »Du schaffst es. Nicht nachlassen!«
»Und weiter!« Volker zog als hinge sein eigenes Leben davon ab. Es schien eine Ewigkeit zu dauern und die Kräfte der Jungen schwanden schnell.
Vigors Oberschenkel waren frei, aber er konnte die Beine immer noch nicht aus dem elenden, beigefarbenen Morast heben. Als ob die oberste Schlammschicht harter Stein wäre. Doch es war der Sog der Hohlräume, die Vigor beim Weg nach oben hinterließ, welche ihn mit solcher Gewalt festhielten. Die zähe Masse füllte die Kammern nur sehr langsam nach.
»Obsidan.« Volker rief seinen Hengst zu sich. Vigor runzelte die Stirn. Den Rappen nach dem schwarzen Gestein zu benennen wäre treffend, aber das Zeug hieß Obsidian. Vielleicht war es aber auch ein Eigenname, Vigor wusste es nicht; war aber im Augenblick auch egal.
»Kopf runter«, sprach Volker zum Hengst. »Kopf runter.«
Währenddessen drückte er den Kopf des Pferdes nach unten. Der Hengst gehorchte und Volker konnte seinen rechten Arm um Obsidans Hals legen. Mit der linken Hand hatte er immer noch Vigor fest im Griff. Vigor konnte den Schweiß zwischen ihren Händen spüren. Die nassen Hände waren wohl der Grund, dass Volker ständig fester zupackte.
»Schritt zurück«, sagte er zu dem Pferd. »Zurück, Zurück.«
Der Rappe machte einen Schritt rückwärts.
»Ah, langsam!«, schrie Vigor. »Du brichst mir die Füße.«
Volker ließ Vigor los und der Druck ebbte ab. Der kleinere Junge atmete auf und beugte sich vor um seine Füße zu massieren. Dabei stieß er mit seinen Händen in den weichen Schlamm und zog sie schnell wieder nach oben. Der Schmerz in seinen Knöcheln musste warten.
Volker sah kurz ratlos drein. »Mist.«
»Du kannst mich nicht quer herausziehen, sonst brichst du mir Füße und Schienbeine«, erklärte Vigor. »Ich muss hoch, nicht vor.«
Volker nickte, dann sammelte er Äste auf und warf sie vor Vigor auf den Morast. Insbesondere die langen, legte er quer vor Vigor. Dazwischen trat er auf die Äste, um zu sehen ob sie im Morast verschwanden.
Es dauerte eine ganze Weile, bevor Volker zufrieden war. Er hatte insgesamt etwa ein ganzes Lagerfeuer voll Holz vor Vigor versenkt, in eigentlich tellertiefem Wasser. Dann tastete sich Volker vorsichtig über den Schlamm. Er ging in die Knie und packte Vigor im Bärengriff. Auf Vigors Rücken fasste Volker seine eigenen Ellenbogen. Schließlich ging der große Junge in die Hocke, die Arme glitten nach unten um Vigors Hüfte. Volker hatte ihn so eng, dass Vigor flach in der Brust atmen musste, den Volkers Kinn bohrte sich in Vigors Bauch.
»Auf Drei streckst du die Zehen weg«, wies Volker an und Vigor nickte. Die beiden Jungen zählten gemeinsam.
»Eins, Zwei...und Drei!«
Mit einer Art Brunftschrei streckte Volker die Beine durch und stemmte seinen eigenen Oberkörper so aufrecht wie möglich nach oben. Dabei riss er Vigor mit einem lauten „Blob“ aus dem Morast. Volker setzte ihn neben sich ab. Der Schlamm verschlang gerade die obersten Äste ihrer Unterlage und kroch langsam zu ihren Füßen. Vigor beugte sich hinunter und zog einen Holzring an dessen schmiedeeisernen Griff aus dem Schlamm. Der Junge zerrte den Holz -eimer heraus, während der Schlamm seine Zehen eroberte.
»Ja, rette den kostbaren Eimer«, lachte Volker. »Während dir das matschige Zeug die Füße hoch kriecht.«
Vigor streckte ihm scherzhaft die Zunge raus. Beide eilten zur Sicherheit des trockenen Ufers und ließen sich dort ins Gras fallen. Der schwere Eimer rollte scheppernd neben die nächste Buche.
Vigor und Volker atmeten schweigend nebeneinander durch. Zu sagen gab es nichts. Es war einfach irgendwie so wie es sein sollte. Der süße Geschmack des Sieges: die Aufgabe war bewältigt, sie außer Gefahr und der Morast bezwungen. Vigor sah sich um. Die Bäume des Waldes überschatteten den schmalen Rasenstreifen zu weiten Teilen. Es waren dicke Buchen und Eichen, hier und da stand auch etwas anderes dazwischen, wie Ahorn, Linde und Ulme oder eine Hasel. Am Wasser tummelten sich Erlen und ein paar Weiden. Die Sonne schien warm an diesem milden Nachmittag im Auroramond, dem vierten Monat des Jahres. Nur vereinzelte weiße Schönwetterwolken zogen gemächlich mit der Brise über den blauen Himmel. In diesem Teil des Forstes schienen nur wenige Insekten geschäftig zu sein. Es herrschte eine angenehme Stille, mit dem entfernten Plätschern von Wasser und dem Rauschen der Baumkronen im Hintergrund. So nah am See war die Luft angenehm frisch und kühl.
Vigor fühlte Volkers Blick und sah zu ihm hinüber. Der große Junge lag ausgestreckt auf dem Rücken, als würde ihm das Ufer gehören. Streng genommen, tat es das auch, irgendwie.
»Lustig«, meinte Volker, »machen wir gleich nochmal.«
»Ja«, stimmte Vigor zu, »aber diesmal gehst du rein und ich zieh dich raus.«
»Das will ich sehen«, lachte Volker. »Das schaffst du gar nicht mit den dünnen Ärmchen.«
»Klasse statt Masse«, konterte Vigor.
»Ah, und wie wäre es mit einem Ringkampf?«
»Sag mal, kriegst du eigentlich nie genug?«
»Ich? Nein, warum auch?«
»Weil wir uns erst aus dem Schlammloch gekämpft haben?«
»Ach so, das war heute«, erwiderte Volker, als hätte er das schon vergessen. »Wo wir gerade dabei sind, was machst du eigentlich hier?«
»Ich soll Wasser für das Waisenhaus holen«, erklärte Vigor. »Befehl vom Obersten Aufseher.«
»Bitte?« Volker sah ihn ungläubig an. »Das ist doch bescheuert. Es sind mindestens zwölf Kilometer bis ins Dorf.«
Dass es eine hirnrissige Idee war, stand auch für Vigor außer Frage. Doch schienen für ihn Idiotie und Oberster Aufseher irgendwie zusammen zu gehören.
»Zuerst sollte ich zehn Eimer vom Strom holen«, berichtete er. »Das passte dem Aufseher aber dann nicht mehr und er sagte, ich solle einen Eimer vom See im Norden holen. Er hat mir diesen Tümpel hier beschrieben.«
»Er mag dich nicht«, stellte Volker fest. »Um nicht von hassen zu reden.«
»Irgendwie hatte ich das Gefühl mittlerweile auch.«
»Vergiss dein Gefühl«, entgegnete Volker. »Wenn dich jemand an den See ohne Boden zum Wasserholen schickt. Dann dafür, dass du nicht wieder kommst.«
»Danke, sehr beruhigend«, brummte Vigor. »Warum ohne Boden?«
»Dreimal darfst du raten.«
»Schlamm oder Magie. Ich nehme an Ersteres.«
»Richtig«, antworte Volker. »Und du hattest Glück, das war eine der seichteren Stellen.«
»Wirklich? Das erklärt alles«, erwiderte Vigor. »Ich hatte versucht, eine feste Stelle zum Wasser zu finden und dachte ich hätte mich vertan.«
»Nein, Hut ab. Das ist so ziemlich die beste Stelle.«
»Die anderen gingen mir dann bis zum Hals?«
»Ja, wenn du auf meinem Pferd sitzt.«
Vigor machte große Augen. Volker schüttelte den Kopf. »Kein Wunder, dass er dir nur einen Eimer gab.«
»Klar, damit er nicht zwei verliert.« Vigor seufzte. »So ein Blödmann.«
»Hattest du Schuhe an?« Volker deutete auf Vigors nackte Füße.
»Nein, glücklicherweise nicht.«
»Schade«, bemerkte Volker beiläufig.
»Warum?«
»Das schließt aus, dass du von Adel bist.«
»Wenn du das sagst«, meinte Vigor. »Und was ist daran so wichtig?«
»Du könntest sonst mein bester Freund werden.«
»Oh, kann dir leider nichts versprechen«, erwiderte Vigor. »Die Schuhe hätte ich bis zum Waisenhaus ohnehin verloren, so wie alles andere auch. Ist trotzdem eher unwahrscheinlich.«
»Komm, wir gehen zurück«, sagte Volker grinsend, »du Bauer.«
»Vielleicht bin ich nicht einmal ein Bauer«, bemerkte Vigor. »Ich brauche auch noch einen Eimer Wasser.«
»Denn kriegen wir an jedem Brunnen voll.« Volker stand auf. Vigor sammelte seinen Eimer ein. „Es ist mir verboten, an einem Brunnen Wasser zu holen.“
„Das ist mir so was von Wurst.“
Die beiden Jungen schlenderten durch die Bäume. Obsidan folgte ihnen, ohne Volkers zu Tun, wie ein treuer Hund. Die Jungen erzählten sich gegenseitig alles mögliche, während sie durch den Wald schlenderten. Volker löcherte Vigor über dessen Alltag und Pläne im Waisenhaus, musste dafür im Gegenzug Vigor alles über das Großherzogtum und das Leben am Hof erklären.