- -
- 100%
- +
Die Zeit verging wie im Flug und schließlich lichteten sich die Bäume und gaben den Blick über flache Hügel frei hin zum Dorf, welches irgendwo dahinter lag. An einem alten Einsiedlerhof, etwa sechs Kilometer vom Waisenhaus entfernt, hielten sie an einem Brunnen. Es war ein sehr alter Dreiseitenhof mit weitem Dachüberstand. Den u-förmigen Hof bildete ein einfaches Fachwerkhaus, mit zwei fast genauso hohen Scheunen als Anbauten. Nur das Wohnhaus hatte ein Obergeschoss, dass zur Hälfte bereits die Dachschräge war. Die Dächer waren allesamt mit Reet eingedeckt. Alles sah recht heruntergekommen aus. Der weiße Putz im Fachwerk war abgeblättert, die Dächer hatten Flicken und Trümmer oder Unrat lagen im Hof aus nackter Erde verstreut. Viele der dunklen Sprossenfenster des Wohnhauses verbargen sich hinter ihren olivfarbenen Läden. Bei den Offenen hing meist der Fensterladen krumm in der Angel. Die Scheunen bestanden aus langen, dunkelbraunen Dielen, bei denen helle Bretter die Nachbesserungen verrieten, welche nach oben stetig abnahmen. Der Hof war geschäftig. Etwa zehn Männer und Frauen verrichteten gerade ihre Arbeiten.
Als Vigor und Volker näher kamen, erkannten sie, dass der Hof nicht vergammelt war, sondern die Schäden alles recht frische Kampfspuren waren. Die in der Gegend hausenden Kreaturen ließen den Bewohnern nicht viel Frieden.
In der Mitte des Innenhofs war ein Steinbrunnen gemauert. Er hatte keine Seilwinde, sondern nur ein Strick lag daneben. Einkerbungen im Stein verrieten, dass auch dieser Brunnen einst ein Trägergerüst für eine Seilwinde gehabt hatte. Doch das war wohl schon lange verschwunden. Die beiden Jungen gingen an die Wasserstelle. Volker streckte auffordernd die Hand zu Vigor aus. »Darf ich bitten.«
»Es ist mir eine Freude.« Vigor ließ den Henkel des Eimers in Volkers Handfläche fallen. Volker knotete den Eimer an den Strick, doch der Hanf war sehr dick und widerspenstig. Volker musste mehrfach festzurren. Ein Mann kam von einem der Ställe herüber, nachdem drei andere ihn auf die beiden Jungen aufmerksam gemacht hatten. Das konnte Vigor daran erkennen, dass ein Knecht mit seiner Mistgabel in ihre Richtung deutete.
Der Mann war etwa fünfzig und kam von der anderen Seite, sodass er neben Vigor nur Volkers Oberkörper sehen konnte. Der große Junge ließ einen Eimer in den Schacht hinab. Obsidan hielt der Mann für eines seiner Pferde. Obwohl ihm hätte auffallen müssen, dass er einen Hengst von derartiger Zucht nicht besitzen konnte. Schließlich war er soviel wert, wie der ganze Hof. Doch der Mann war mehr auf die fremden Jungen bedacht und Obsidan hatte sich die Freiheit genommen, sich an einem ausgehöhlten, alten Baustamm zu erfrischen, der als Pferdetrog diente.
»Und Jungs, was macht ihr hier?«, rief der Mann schließlich. Seine leicht blau gefärbte Kleidung verriet Vigor, dass er ein hoher Angestellter auf dem Gut war. Vermutlich war die Farbe aus Holunderbeeren gewonnen, denn die färbten sogar, was sie gar nicht färben sollten.
»Wasser holen, Herr«, antwortete Vigor ehrlich. Er sah sich zu Volker um und flüsterte: »Was für eine Frage.«
Volker grinste und schwieg. Der schwere Holzeimer klatschte ins Wasser.
»Ihr seid nicht von hier«, schimpfte der Mann. »Ihr habt kein Recht.«
»Äh, es ist nur ein Eimer voll«, beschwichtigte Vigor. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Mann so knausrig war. Eine Wasserknappheit war im Großherzogtum schließlich unbekannt.
»Waisenhaus, was?« Der Mann schien nun noch aufgebrachter. »Macht das ihr weiterkommt!«
»Lass mich mal machen«, meinte Volker nun und drückte Vigor den Strick für den Eimer in die Hand. Vigor zog den schweren Eimer nach oben. Volker faltete die Hände auf dem Rücken zusammen.
»Ich denke, ich darf Wasser aus diesem Brunnen holen«, stellte Volker fest, während er den Brunnenstein umrundete. »Denkt Ihr nicht auch?«
»Ganz und gar ni...« Dann sah der Mann den Reiterstiefel, den Volker demonstrativ auf den Brunnensims stellte, um sich die festen Schnüre zu binden. Währenddessen blickte Volker den Mann erwartungsvoll an. Dieser stockte, dann fiel bei ihm der Groschen. Vigor konnte es förmlich in seinem Gesicht lesen, wie es sich von einer zornigen Strenge zu einer gütlichen Miene wandelte. »Königliche Hoheit, ich hatte Euch nicht erkannt. Verzeiht mir.«
Volker zuckte die Achseln. »Nichts passiert.«
»Es ist uns eine Ehre, dass Ihr unser Wasser zu nutzen gedenkt. Erlaubt mir mich vorzustellen«, sprach der Mann und als Volker keine ablehnende Geste machte, tat er auch so. »Ich bin Matthias Heuer, der Haushofmeister des Torfgründer Hofs und Euer ergebener Diener. Soll ich Euch einen Träger schicken?«
»Nein danke, wir sind bestens versorgt.« Volker kramte in seinem Lederbeutel, den er am Gürtel trug. Es musste sehr viel Inhalt darin sein, denn Volker kramte eine ganze Weile. Dann warf er eine kleine Geldmünze zum Haushofmeister. Doch Heuer konnte sie nicht fangen und sie fiel auf den Lehmboden vor dem Brunnen. Sie war so klein wie ein Daumennagel, aber glänzte golden. Heuer hob sie auf und sah Volker vor sich ungläubig an.
»Für Eure Mühen«, brummte Volker. »Und wir waren nicht hier.«
»Selbstverständlich nicht, Königliche Hoheit.« Der Haushofmeister verbeugte sich so tief, bis seine Nase den Erdboden berührte. Vigor sah, dass er dabei die Münze unauffällig zwischen die Zähne steckte, um zu überprüfen, ob sie beim Biss nachgab. Die Münze war weich, es war also Gold. Der Haushofmeister kam wieder nach oben.
»Wie Ihr wünscht«, sagte er schließlich und wandte sich ab. Dann scheuchte er die anderen Hofangestellten an ihre Arbeit.
Vigor hatte mittlerweile den Eimer über den Brunnenstein gehoben und grinste. »Was war das jetzt?«
»Bestechungsgeld«, antwortete Volker. »Der oberste Heimtrottel, muss ja nicht unbedingt wissen, woher sein Eimer leckeres Seewasser kommt.«
»Wenn ich wüsste, dass er das trinken würde«, sagte Vigor. »Dann würde ich jetzt hinein pinkeln.«
»Gute Idee«, lachte Volker. »Aber wahrscheinlich kriegt es doch eines der Pferde.«
»Darum macht es auch keinen Sinn.«
»Obsidan!« Das Pferd verließ die Tränke und trabte zu Volker. Dann stieß der Rappe mit der Nase an seine Hand.
»Ach so, du hattest heute noch nichts Süßes«, brummte Volker und kramte im gleichen Lederbeutel. Er holte ein Sammelsurium hervor. Darunter waren ein nachtblauer Feuerstein, ein goldener Pyrit, ein langes Stück Schnur, ein platter, runder Haferkeks, einen dunkelbraunen, unförmigen Klumpen, ein Stück Holz und mehrere Gold- und Silbermünzen, von denen einige dem Keks in Größe um nichts nachstanden. Volker pickte den Keks heraus und hielt ihn dem Pferd auf seiner Handfläche hin. Obsidan holte das Gebäck mit den Lippen von der Hand und kaute. Volker stopfte den Rest zurück. Vigor starrte Volker ungläubig an. »Sag mal, war das Zucker?«
»Ja, was sonst?«
Vigor sah nur fassungslos drein. Zucker gab es im Waisenhaus nur sehr wenig. Lediglich beim Frühstück gab es eine staubdünne Portion für die Haferflocken.
»Moment.« Volker kramte im Beutel und holte den Klumpen wieder hervor. »Willst du einen?« Er hielt Vigor das Stück Zucker hin. »Die bleiben bei mir öfter mal übrig.«
»Äh, das kostet ein Vermögen.«
»Du sollst ihn ja nicht bezahlen.«
»Ist schon in Ordnung«, wimmelte Vigor ab. Der Hengst beobachtete die Jungen interessiert.
»Jetzt iss ihn halt«, beharrte Volker. »Sonst kriegt Obsidan den und dann wird er noch fett.«
Vigor steckte das Stück Zucker in den Mund und lutschte es. Es war furchtbar süß. Vigor schüttelte sich.
»Noch nie Zucker gehabt, oder?« Volker lachte und erwartete ein Nein von seinem Freund. Doch der schlanke Junge zuckte die Achseln. Er hatte ein merkwürdiges Gefühl. Den verboten süßen Geschmack auf den Lippen kannte er irgendwo her.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er schließlich. Vigor dachte eine Weile darüber nach. Das Zusüß verband er mit einer Flüssigkeit, vielleicht Tee oder dergleichen. Dann legte Volker ihm die Hand um die Schultern. »Sei es drum.«
Vigor nickte.
Die Hügel wurden noch ein wenig flacher und die Waldausläufer bedeckten sie von Süden her. Lichtung und Forst wechselten sich ab. Dann gaben die Bäume erneut die Hügel frei. Der Weg, dem die Jungen folgten, war ein ausgewaschener Trampelpfad. Hausrotschwanz, Nachtschwalbe und Nachtigall sangen bereits ihre Lieder. Die Sonne stand schon tief am roten Himmel als Volker ihm den Eimer reichte. »Hier trennen sich unsere Wege.«
»Danke für alles«, sagte Vigor.
»Keine Ursache«, entgegnete Volker. »Erzähl mir auf jeden Fall vom dummen Gesicht des obersten Hansels.«
»Ja, der Aufseher wird nicht damit rechnen, dass ich ihm den Eimer bringe.«
»Denke ich auch, insbesondere weil du echten Mörderschlamm am Körper hast.« Volker bestieg den Hengst ohne Mühe. »Und das orange-beigefarbene Zeug gibt es sonst nirgends. Bis die Tage.«
»Bis die Tage«, verabschiedete sich Vigor. »Sehen wir uns dann?«
»Ja, wir treffen uns bei Gelegenheit im Dorf«, erklärte Volker. »Der Hof ist momentan im Jagdschloss. Es ist unsere Sommerresidenz.«
»Ach so.« Vigor winkte Volker nach, der davon ritt um die Hügel in Richtung des Dorfs.
Dann stieg Vigor den Hügel hinauf. Er würde sich die verschlammte Kleidung erst am nächsten Tag im Fluss waschen. Nicht nur weil er den Beweis brauchte, dass er am See ohne Boden gewesen war. Für heute hatte er einfach genug.
3. Kapitel: Leidige Diskussionen
Die Abendsonne verschwand hinter den spitzen, baumlosen Gipfeln der Heros Rocks. Der Gebirgszug warf lange Schatten auf die roten Ziegeldächer und den Innenhof des Schlosses, um den sich das Palais, einige Türme, Kasernen und Wirtschaftsgebäude aus gelbem und rotem Sandstein quetschten. Eine Garde in türkisfarbenen Gewändern verließ gerade den Burghof, als sich mitten über den gelben Sandsteinplatten ein magisches Portal als roter Lichtpunkt öffnete. Mit einem leisen Surren wuchs es in die Form eines ovalen Kreises und wurde immer gelblicher. Das Portal schwebte kurz über dem Boden und wechselte ständig die Farbnuancen zwischen Hellgelb, Goldgelb und Orange. Ein Gefolge erschien darin und trat heraus. Es waren Ritter in den Uniformen von Starkenberg. Ihre Schilder verrieten durch ein Symbol, das wie ein Haken aussah, dass die Männer zur Neunten Armee, dem größten Infanterieverband des Großherzogtums, gehörten. Siegmund trat hindurch. Er trug wie so oft die traditionelle Herrscherkluft der Herren von Starkenberg: der dunkelrote Mantel mit dem gelbem Innenfutter auf der königsblauen Weste, darunter das weiße Hemd und die pechschwarzen Hosen. An seinem schwarzen Ledergürtel prangten Schwert und Dolch, deren Griffe mit schwarzem Leder umwickelt war. Knauf und Stange waren wenig verzierter, aber elegant geschwungener Stahl. Passend dazu trug er schwarze, geschnürte Reiterstiefel. Die Männer standen stramm mit dem Schild an der linken Seite und der Schwerthand flach am Oberschenkel. Lady Margaret ging an seiner Seite. Sie war eine ältere Dame von um die Siebzig, doch ihre Bewegungen waren flink und anmutig. Sie trug ein langes orangefarbenes Seidenkleid mit gleichfarbigem Umhang. In der rechten Hand hatte sie einen langen Zauberstab aus Buche, mit einem leuchtend orangefarbigen, quadratischen Turmalin an der Spitze, welcher von ihrem königsblauen Haar überragt wurde. Siegmund und Lady Margaret waren in ein Gespräch vertieft.
»Sobald Ihre Bediensteten hindurch sind, werde ich das Portal wieder schließen, damit ich nach Hause zurückreisen kann.«
»Ihr bleibt nicht über Nacht?«, fragte der Großherzog.
»Nein, Mike und ich haben genug um die Ohren.«
»Also keine Fortschritte.«
»Leider immer noch nicht.« Lady Margaret schüttelte den Kopf. »Die Ermittlungen stocken, als ob er vom Erdboden verschluckt wäre. Es ist zum verzweifeln.«
Siegmund nickte ernst. »Das tut mir Leid.«
»Danke. Diese Ungewissheit ist das Schlimmste.« Lady Margaret seufzte. Sie schwiegen und sahen am Schlossgebäudes vor sich empor bis zur Baustelle des unfertigen Dachstuhls. Die Geräusche der großherzoglichen Diener durchbrach die Stille zwischen den beiden.
Nach einer ganzen Weile kam Volker vorbei mit Vigor im Schlepptau, der sich sehr unsicher fühlte. Der kleinere Junge sah sich ständig um, nicht wissend wo er war, was man von ihm erwartete und was er hier eigentlich sollte. Volker trat von hinten an seinen Vater heran, um zu verkünden, dass sie alle durch waren. Volker hatte die Zeit verbummelt und war daher der letzte.
»Es ist hart jemanden zu verlieren«, meinte Lady Margaret schließlich. Volker stockte und hielt Vigor mit der Hand vor der Brust zurück. Vigor sah ihn fragend an.
»Ihr habt mein vollstes Mitgefühl«, erwiderte der Großherzog.
»Wenn jemand das versteht, dann Ihr.«
Volker hatte es befürchtet: das Thema. Er zog den sich widerstrebenden Vigor schleunigst fort.
»Ein verlorenes junges Leben«, seufzte Lady Margaret.
Vigor schüttelte den Kopf. Er wollte gar nicht weg. Erst Volkers alarmierender Blick überzeugte ihn. Vielleicht half auch, dass der große Junge zog, als würde Vigor wieder im Schlamm stecken.
»Es ist das Kreuz, wenn man sich einem Kind annimmt«, erzählte Lady Margaret. »Man öffnet ihm sein Herz. Und wenn dann etwas schief geht, dann ist man verwundbar.«
Siegmund schüttelte den Kopf. »Es konnte ja keiner ahnen, dass man dem Bub etwas antun wollte.«
»Wie könnte man auch. Er war doch so ein netter Junge.«
Volker zog Vigor außer Hörweite in einen Seiteneingang. Vigor riss sich los. »Sag mal, was ist mit dir denn los?«
»Was bleibst du da stehen?«, erwiderte Volker.
Vigor zuckte mit den Achseln. Volker verschränkte die Arme. »Ich will nicht von traurigen Eltern gehätschelt werden.«
Vigor grinste, das war es also. Er versuchte eine besonders tiefe Stimme. »Aber wenigstens haben wir noch unseren Volker. Er ist unser ganzer Stolz.«
Er stellte sich auf die Zehenspitzen und tätschelte dem großen Jungen den Kopf. Volker sah ihn an. »Und seinen netten Vigor-Freund. Der ist so klein und süß.«
Volker kniff Vigor in die zarte Wange. Vigor zog den Kopf weg. »Lass mal stecken.«
»Sag ich doch, dass will doch wirklich keiner.«
»Hast du dich deswegen im Schloss so herumgedrückt? Von wegen Schlüssel suchen und so.«
Volker deutete auf die Tür. »Los, lass uns was zwischen die Zähne kriegen.«
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.