- -
- 100%
- +
»Ob es einen Kampf gegeben hat, lässt sich nicht mehr feststellen. Hier sind unzählige Leute herumgetrampelt. Bei so einem Fest will man ja auch mal ungestört sein.« Kolanski deutete auf ein benutztes Kondom, das mehrere Meter weiter vorne neben der Burgmauer lag, und einige Zigarettenstummel. »Die Spurensicherung soll alles eintüten.«
Stern blickte durch das Gitter auf jene Stelle, wo die Braut gerade vom Baum geholt wurde. Sehr tief ging es da hinab, und er konnte sich kaum vorstellen, dass eine junge Frau am schönsten Tag ihres Lebens – wie man es ja oft zu hören bekam, dass die Hochzeit dies sein sollte – in den Freitod sprang. Was war vorgefallen, dass Selbstmord der letzte Ausweg für sie gewesen war? Oder was war geschehen, dass jemand sie dort hinuntergestoßen hatte?
»Seht mal!«, rief Mara Grünbrecht. Sie stand vor einem Fragment der Burgmauer, das zum Teil in die Hochburg ragte.
»Was ist?« Stern, Kolanski und Mirscher traten näher.
»Da ist Blut.« Grünbrecht deutete auf die Überreste der Mauer. Daran befand sich eine eingetrocknete braune Masse.
»Sie könnte sich den Kopf gestoßen haben und war daraufhin vielleicht bewusstlos. Dann wäre es für den Täter ein Leichtes gewesen, sie über das Gitter zu heben und in die Tiefe zu stoßen«, spekulierte Mirscher.
»Oder sie hat sich das Genick gebrochen und war schon tot, bevor man sie hinuntergeworfen hat«, zeigte Kolanski eine weitere Variante auf, wie es abgelaufen sein könnte.
»Oder das Blut stammt von jemand anderem, der in diese Sache verwickelt ist«, ergänzte Grünbrecht die Liste der möglichen Szenarien, was passiert sein könnte.
»Okay. Hiermit erkläre ich den Todesfall offiziell zu einem Mord oder den Versuch, einen Unfall zu vertuschen, warum auch immer. Selbstmord war es mit größter Wahrscheinlichkeit nicht«, kam Stern zu dem Schluss. »Wir müssen die Gäste befragen, die bei der Hochzeit anwesend waren. Wir fangen mit dem Bräutigam an. Mich interessiert, warum er seine Frau nicht als vermisst gemeldet hat. Oder vielleicht hat er es getan und wir wissen nur noch nichts davon. Klärt das bitte ab! Anschließend nehmen wir uns die Brauteltern, die Schwiegereltern, die Zubraut und den Zubräutigam vor. Ich hoffe, dass wir dadurch ein Bild davon erhalten, was gestern hier vorgefallen ist. Gebt der Spurensicherung Bescheid, dass sie alles gründlich absuchen soll.« Stern warf wieder einen Blick durch das vergitterte Fenster hinab auf die Baumwipfel. Die Tote war bereits aus dem Geäst geholt worden und lag auf einer Plastikplane am Boden neben der Straße, die für den Verkehr wegen des Einsatzes vorübergehend gesperrt worden war. Weber kniete neben ihr und begutachtete den Leichnam.
»Wer nimmt sich wen vor?«, wollte Grünbrecht wissen.
»Du und ich, wir beide befragen den Bräutigam«, antwortete Stern.
»Damit bleiben für uns entweder die Brauteltern oder die Eltern des Bräutigams«, sagte Kolanski. »Die Zubraut und den Zubräutigam erledigen wir später.«
»Wir übernehmen die Schwiegereltern der Toten«, entschied Mirscher. »Eltern zu sagen, dass ihr Kind tot ist, ist eindeutig Chefsache.«
Stern seufzte. Todesnachrichten zu überbringen war etwas, an das sich kein Ermittler gewöhnen konnte, auch er nicht. Dennoch musste es erledigt werden.
»Haben wir schon eine Adresse?«, wandte er sich Grünbrecht zu.
»In fünf Minuten«, antwortete die Gruppeninspektorin, die ihr Handy zückte, um die gewünschte Information in Erfahrung zu bringen.
»Ich rede einstweilen noch mal mit Weber, vielleicht weiß er inzwischen ein wenig mehr über den Todeszeitpunkt oder die Todesursache.« Stern drehte dem vergitterten Fenster den Rücken zu und verließ die Hochburg.
Auf dem Weg nach unten musste er das Burgmuseum passieren. Dort stand ein Herr neben einer Schautafel, der jedoch nicht diese, sondern den herbeieilenden Chefinspektor auffallend musterte. Stern beschloss herauszufinden, ob ihm der Mann etwas sagen wollte, und blieb stehen.
»Chefinspektor Oskar Stern vom Landeskriminalamt Oberösterreich«, stellte er sich vor.
»Nikolaus Brandtner.« Der Mann streckte Stern die Hand zum Gruß entgegen, was wegen der Corona-Pandemie zu einer seltenen Geste geworden war. Dann fügte er erklärend hinzu: »Ich bin der Museumsführer.«
»Waren Sie gestern auch bei der Hochzeit?«, wollte Stern von ihm wissen.
Der Mann um die 50 schüttelte den Kopf. »Nein, war ich net. Da war’n nur die Familie und die Verwandten eing’laden. Ich gehör ja quasi zum Burgpersonal.«
»Wie läuft das eigentlich ab? Wenn jemand auf der Burg heiraten will, was muss er da tun?«
»Sie meld’n sich bei mir und wir such’n einen freien Termin. Wenn der für Sie passt, können S’ hier heiraten«, erwiderte Nikolaus Brandtner. »So einfach geht das.«
»Ist in diesem Offert die ganze Burg inbegriffen?«, hakte Stern nach.
»Wir haben verschiedene Angebote. Die reichen von der kirchlichen Trauung in der Burgkapelle mit anschließender Agape im Burghof bis hin zur kompletten Hochzeitsfeier in der Burg. Da dürfen S’ natürlich sämtliche Räume benutzen. Wie es das Geldbörserl halt zulässt oder die Wünsche der Brautleute es verlangen.« Nikolaus Brandtner verschränkte zufrieden die Arme von der Brust. Er war sichtlich stolz auf die unterschiedlichen Möglichkeiten, die er den Heiratswilligen bieten konnte. Trüge er statt des legeren Anzuges eine Ritterrüstung, käme sich Stern in die Zeit des Mittelalters zurückversetzt vor. Der Mann war unrasiert und seine Haare waren zu lang, ähnlich wie die von Kolanski. Vielleicht war das aber auch die heutige Mode für Männer mittleren Alters, was wusste Stern schon.
»Und die Hochzeit gestern? Welches Arrangement war dafür gebucht?«
»Äh … Sie wiss’n, Datenschutz und so …«, stammelte der Mann herum, weil es ihm sichtlich schwerfiel, dem Chefinspektor diese Frage nicht zu beantworten.
»Wir haben eine Tote, Herr Brandtner. Mit großer Wahrscheinlichkeit war es kein Selbstmord. Also, wenn Sie mir die Auskunft nicht geben, kehre ich mit einem Gerichtsbeschluss zurück und nehme Ihre Burg auseinander«, stellte Stern klar.
»Natürlich.« Brandtner räusperte sich. »Die Gesellschaft gestern hat die Burg im Gesamten g’mietet. Das sind keine einfachen Leut’, wenn S’ versteh’n, was ich mein.«
»Nein, das tue ich nicht. Also könnten Sie das …«
»Die hab’n Geld wie Heu, Geschäftsleute mit Beziehungen bis ganz nach oben«, erläuterte Nikolaus Brandtner, noch bevor Stern zu Ende geredet hatte. »Und er, der alte Hallsteiner, der das alles bezahlt hat, ist ein ziemlich schwieriger Mann, mit dem man sich besser net anlegt.«
»Und wenn er der Kaiser von China wäre, ist mir das egal. Für mich ist er wie jeder andere, dessen Hintergrund ich durchleuchten muss. Wir untersuchen hier einen Mordfall«, erwiderte Stern energisch. Diese Obrigkeitshörigkeit ging ihm auf die Nerven. Gerade er mit seinem Job wusste, dass Reichtum und Ansehen niemanden davon abhielt, ein Verbrechen zu begehen.
»Ja, das ist schlimm. Wirklich schlimm.« Brandtner schüttelte den Kopf. »Hoffentlich wirft das kein schlechtes Licht auf unsere Burg und das Museum. Kommen S’! Ich zeig Ihnen was.« Brandtner steuerte auf eine alte Mauer zu, die in den Ausstellungsraum hereinragte. »Sehen S’ das? Das sind die Reste einer für diese Gegend ungewöhnlich großen Renaissanceanlage, die man bei archäologischen Ausgrabungen g’funden hat. Außerdem hat man diese Badegrotte entdeckt.« Brandtner führte Stern zu einer weiteren Anhäufung von Steinen. »Man weiß es net genau, aber man vermutet, dass diese Badegrotte in der Barockzeit dazugebaut worden ist. Aber eines weiß man …« Brandtner beugte sich ein wenig nach vorne und machte eine Pause, die der folgenden Information genügend Raum zum Wirken verschaffen sollte. »So, wie sie jetzt von uns präsentiert wird, ist die Badegrotte einzigartig in Österreich. Ein richtiges Unikat!« Der Museumsführer strahlte Stern an. Anscheinend hatte er längst vergessen, weswegen der Chefinspektor bei ihm war und dass auf seiner geliebten Burg womöglich ein Mord passiert war, deshalb wollte Stern ihn daran erinnern.
»Danke, Herr Brandtner, für diese Informationen, allerdings …«
»Und noch was ist ganz wichtig«, unterbrach Brandtner den Chefinspektor.
»Ja?« Stern horchte auf. Wenn etwas wichtig war, wollte er es natürlich schon erfahren.
»Das Museum steht quasi auf den Überresten der alten Burg, und wir hab’n die Mauerreste und die Badegrotte voll schön ins Museum integriert, damit alle was davon hab’n. Wie finden S’ das?« Erwartungsvoll blickte Brandtner den Chefinspektor an.
»Ist eigentlich eh ganz toll geworden«, druckste Stern herum, da er einerseits nicht unhöflich sein wollte, andererseits diese Information als nicht so wichtig erachtete. Zumindest nicht für die Aufklärung des Falls. Das enttäuschte Gesicht des Mannes ließ ihn aber hinzufügen: »Wenn ich mal etwas mehr Zeit hab, schau ich mir das Museum an, versprochen!«
Der Mann lächelte wieder. »Sie dürf’n kostenlos rein, das versprech ich Ihnen.«
»Dann … auf Wiedersehen«, verabschiedete sich Stern von dem diensteifrigen Museumsführer.
»Auf Wiederseh’n!«, rief Nikolaus Brandtner ihm hinterher.
Draußen vor dem Museum und den Weg hinab zur Straße dachte Stern über das eben geführte Gespräch nach. Der Museumsführer war ein komischer Kauz, doch er hatte eine große Leidenschaft für die Überreste der Burg an den Tag gelegt, die Stern beeindruckend fand. Der Chefinspektor war sich sicher, dass es nichts über die Burgruine Reichenstein gab, was Nikolaus Brandtner ihm nicht hätte beantworten können. Menschen mit einer derartigen Begeisterung für eine Sache trugen dazu bei, dass Kulturschätze wie die Burgruine erhalten blieben. Sollte er diesbezüglich noch Fragen haben, würde er sich direkt an ihn wenden.
»Kannst du uns schon etwas zu Todesursache und Zeitpunkt sagen?«, fragte er Weber, als er unten neben der Straße anlangte, wo dieser neben der toten Braut kniete und deren Haut massierte. Stern wusste, dass der Gerichtsmediziner daraus unter anderem schließen konnte, wann das Opfer gestorben war.
»Die Totenflecken lassen sich noch wegdrücken, das deutet darauf hin, dass die Frau nicht länger als zehn bis zwölf Stunden tot ist. Aber die Augen kann ich ihr nicht mehr schließen, und die Gelenke sind steif. Das wiederum heißt, dass der Tod vor mindestens acht Stunden eingetreten sein muss. Genügt dir das als Zeitfenster für die Tat?«
Stern brummte und blickte auf sein Handgelenk. Es war jetzt 11 Uhr vormittags, demnach musste das Opfer zwischen 23 Uhr gestern Abend und 3 Uhr morgens gestorben sein, also während oder unmittelbar nach der Hochzeitsfeier. Ein genauerer Todeszeitpunkt würde sich erst durch die Befragungen der Gäste ergeben, wann die Braut zuletzt gesehen worden war.
»Ja, das reicht vorerst. Was ist mit der Todesursache? Hast du da schon etwas für mich?«
»Ich tippe auf Genickbruch«, antwortete Weber. Mit beiden Händen bewegte er den Kopf der Leiche hin und her, um seine Vermutung zu untermauern. »Ja, ich bin mir ziemlich sicher.«
»Hat sie sich bei dem Sturz das Genick gebrochen?« Stern sah wieder nach oben zum Burgfenster, aus dem die Braut gefallen war.
»Das kann ich dir nicht sagen, aber möglich wäre es. Außerdem hat sie jede Menge Abschürfungen, die von den Ästen herrühren könnten, in denen sie gelandet ist. Um das endgültig zu bestätigen, muss ich noch ein paar Untersuchungen anstellen.« Der Gerichtsmediziner packte seine Utensilien in den Koffer zurück und ließ ihn geräuschvoll zuschnappen. Seine Arbeit vor Ort war getan. Weitere Informationen würde er der Leiche entlocken, wenn er sie obduzierte.
»Danke dir, Weber«, antwortete Stern und wandte sich von dem Gerichtsmediziner und der Toten ab. In dem Getümmel von Einsatzkräften und Schaulustigen, die sich mittlerweile eingefunden hatten und die den Ort wie bei einer öffentlichen Kundgebung bevölkerten, suchte er nach Mara Grünbrecht. Er kniff die Augen zusammen und erinnerte sich, dass er nach dem letzten Mordfall zu einem Augenarzt hatte gehen wollen. Seine Sehkraft ließ zunehmend zu wünschen übrig. In die Ferne und in der Nähe. Er brauchte unbedingt eine Brille.
Als er gerade zurück zur Burg gehen wollte, um dort nach Grünbrecht zu suchen, sah er sie den schmalen Weg zur Straße herunterkommen. Hoffentlich würde ihre und Edwin Mirschers Hochzeit keinen Polizeieinsatz wie diesen nach sich ziehen, schoss es ihm durch den Kopf. Diesen grauenvollen Gedanken schob er sofort beiseite.
Der Termin für die Vermählung stand längst fest, es war der 21. Juni, die Sommersonnenwende. Stern hatte bereits eine Einladung erhalten und sollte außerdem Mirschers Trauzeuge sein. Mit Monatsende würde der Kollege dann aus dem Team der Mordgruppe im Landeskriminalamt Oberösterreich ausscheiden, er hatte sich zum Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung versetzen lassen. Bormann, der Dienststellenleiter, hatte darauf gedrängt. Er hieß es nicht gut, wenn Eheleute in einer Abteilung zusammenarbeiteten. Das sorge für Komplikationen und Unstimmigkeiten, war er der Meinung und hatte damit nicht ganz unrecht. Dennoch schmerzte es Stern, Edwin Mirscher ziehen lassen zu müssen. Schließlich arbeiteten sie seit vielen Jahren zusammen, und auch wenn er nicht immer auf einer Linie mit ihm lag, schätzte er ihn. Vor allem Mirschers Menschlichkeit und sein kindliches Wesen, das er sich trotz des oft harten Jobs erhalten hatte, waren eine Bereicherung für das Team.
Ein Kollege vom Landeskriminalamt Wien würde Mirscher ersetzen. Dieser hatte in Wien noch einen Fall abzuschließen und würde anschließend zu ihnen stoßen, hatte Bormann Stern kürzlich mitgeteilt.
»Und? Haben wir die Adresse vom Bräutigam?«, fragte er Mara Grünbrecht, als sie bei ihm anlangte. Die Gruppeninspektorin hatte dieses Mal ungewöhnlich lange für das Herausfinden der Information benötigt.
»Ja, die habe ich auch«, antwortete die Gruppeninspektorin mystisch.
»Was heißt hier auch? Welche hast du denn noch?«, hakte Stern nach.
»Die der Schwiegereltern.«
Stern sah seine Kollegin irritiert an. »Dort wollten doch Mirscher und Kolanski hinfahren«, glaubte er sich zu erinnern, was sie vorhin ausgemacht hatten. »Die beiden sollen sich die Informationen, die sie brauchen, selber beschaffen. Ich hab gehört, dass es da für ältere Leute so einen Kurs gibt, in dem man lernt, wie man das macht. Wie man treffsicher im Internet surft und was weiß ich dort alles recherchieren kann.«
Grünbrecht lachte. »Du kannst das den beiden ja mal vorschlagen. Ich bin mir sicher, sie werden es begeistert aufnehmen.«
»Ich meine es ernst«, erwiderte Stern.
»Ich auch.«
»Dann sag mir, warum du die Adresse der Schwiegereltern recherchiert hast, wenn doch Kolanski und Mirscher dort hinfahren sollen.«
Grünbrecht räusperte sich und antwortete: »Jetzt nicht mehr. Der Ehemann unserer Toten wohnt nämlich noch zu Hause bei den Eltern.«
»Okay, in diesem Fall übernehmen wir das natürlich«, erwiderte Stern, der nicht wusste, was er davon halten sollte. Er hatte als Jugendlicher so schnell wie möglich von zu Hause ausziehen wollen, kaum dass er die Polizeischule abgeschlossen gehabt hatte. »Jetzt bin ich aber gespannt, was uns erwartet.«
4. KAPITEL
»Wow!«, entfuhr es Grünbrecht, als sie in Gutau vor einer imposanten Villa aus Sterns Audi A6 stiegen. Der Anblick des Gebäudes entschädigte die Gruppeninspektorin für die langsame Fahrt hierher.
Für die zugegeben kurvenreiche Strecke – aber dennoch lediglich elf Kilometer – hatten sie beinahe 25 Minuten gebraucht, und das nur, weil Stern hinterm Steuer gesessen hatte. Grünbrecht hätte die Entfernung in der Hälfte der Zeit zurückgelegt und dabei noch eine Pause einlegen können. Nun standen sie jedoch endlich vor dem Sitz der Familie Hallsteiner und bestaunten die alte Villa, die mit modernen Glas- und Metallelementen auf sich aufmerksam machte.
»Ja, wow«, wiederholte Stern Grünbrechts begeisterten Ausruf, allerdings mit weitaus weniger Euphorie. Menschen, die in solchen Häusern wohnten, kannte er nur zu gut. Seiner Erfahrung nach glaubten sie, sie könnten mit der Exekutive machen, was sie wollten, bloß weil sie genügend Geld besaßen. Und die Polizisten hätten ihnen zu dienen, als wären sie ihre Leibeigenen, weil die ach so wichtigen Leute ebenso wichtige Kontakte zu Wirtschaft und Politik pflegten. In Stern breitete sich Unbehagen aus.
»Was wissen wir über die Hallsteiners?«, fragte er, während er den Wagen versperrte. Angesichts des Fuhrparks, der vor der Villa abgestellt war, würde sich ein Dieb jedoch niemals für seinen schon ein paar Jahre alten Audi interessieren. Dennoch drückte er ein zweites Mal auf die Fernbedienung, um den Wagen ganz sicher abzuschließen.
»Den Hallsteiners gehören riesige Waldflächen im Mühlviertel, angefangen bei Linz bis hinauf zur tschechischen Grenze. Der Besitz des alten Hallsteiner war ursprünglich allerdings noch größer gewesen, aber er hatte in seinem Testament veranlasst, dass sein Vermögen auf seine zwei Söhne aufgeteilt wurde, um Streitigkeiten zu vermeiden. Der andere Bruder, er heißt Sebastian, lebt in Tschechien und hat die Wälder und Grundstücke dort vererbt bekommen, und Viktor Hallsteiner die Ländereien hier in Österreich. Danach hat er zwei Sägewerke gekauft und saniert, diese zählen heute zu den größten im Land. Ihm gehören außerdem ein Bauunternehmen und je eine Spielhalle in Freistadt und Linz. In Kitzbühel hat er in mehrere Luxuswohnungen investiert, die er um ein kleines Vermögen an Gäste vermietet, hauptsächlich an Russen. Er selbst ist Jurist und Betriebswirt. Anscheinend hat er ein Händchen für marode Unternehmen. Er kauft und saniert sie, bis sie wieder Gewinne abwerfen. Dann verkauft er sie großteils weiter«, spulte Grünbrecht herunter, was sie während der Herfahrt in Erfahrung gebracht hatte. Da Stern so langsam gefahren war, hatte sie ja genügend Zeit gehabt.
»Wissen wir schon, ob man das Opfer als vermisst gemeldet hat?«
»Nein, keine Vermisstenanzeige.« Grünbrecht schüttelte den Kopf.
»Na, dann mal los«, brummte der Chefinspektor und schritt auf den Eingang zu.
Das prächtige Gebäude wurde von einem noch prächtigeren Garten übertroffen. Allein die Zufahrt zur Villa war an die 80 Meter lang und von niedrig geschnittenen Buchsbäumen gesäumt. Im hinteren Bereich des Gartens wuchsen Weiden und Buchen und verliehen dem Gebäude den passenden Rahmen.
Sterns Finger senkte sich auf die goldene Klingel neben der massiven hölzernen Eingangstür. Eine Tonabfolge wie bei einem Klavierkonzert erklang.
»Beethoven«, sagte Grünbrecht.
Weder wunderte es Stern, dass Grünbrecht dieses Musikstück kannte, noch dass die Hallsteiners für ihre Türglocke eine Klaviersonate ausgewählt hatten.
Die Tür wurde geöffnet und eine schwarz gekleidete Frau stand vor ihnen. Offenbar hatte sich der Tod von Marion Balduin schneller herumgesprochen, als Stern angenommen hatte. Bestimmt war der Eintrag auf Facebook daran schuld.
»Ja bitte?« Fragend sah die Dame die Inspektoren an.
»Frau Hallsteiner?«
»Nein, Frau Hallsteiner empfängt im Augenblick keine Besucher.«
»Wer sind Sie?«, fragte Stern, zog seinen Ausweis aus der Tasche und hielt ihn der Frau hin.
»Fiona Mühlböck, die Haushälterin«, antwortete sie gefasst. Dass die Kriminalpolizei vor der Tür stand, schien sie nicht zu überraschen.
»Chefinspektor Oskar Stern, das ist meine Kollegin Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht. Wir sind vom Landeskriminalamt in Linz und müssen Herrn und Frau Hallsteiner sprechen sowie deren Sohn … äh …«
»Fabian«, half Grünbrecht ihm.
Stern erkannte, dass ihr Gegenüber zögerte. »Es geht um Marion«, schob er deshalb nach, was der Haushälterin nun doch eine Reaktion entlockte. Die Augenbrauen wanderten nach oben, wenn auch nur für einen kurzen Moment, dann trat sie zurück und ließ die Tür aufschwingen, als hätte Stern ein Codewort genannt.
Die Inspektoren betraten eine pompöse Empfangshalle, wie Stern sie in einem Herrenhaus erwartet hätte, nicht aber in einer alten Landvilla, die zugegeben äußerst großzügig gestaltet war. Der Boden war mit schwarzem Marmor ausgelegt, die Wände waren in Weiß und Beige gehalten und die dunklen Möbel mit goldenen Elementen an Ecken und Füßen verziert. Hinter ihnen schloss die Frau die ebenso eindrucksvolle Pforte.
»Wir hab’n es gerade erfahr’n«, flüsterte sie den Beamten zu. Dabei hielt sie beide Arme gegen die Brust gedrückt und senkte den Blick für einen Moment, als spräche sie ein stummes Gebet. »Es war ein großer Schock für uns. Herr Hallsteiner ist sogar die Treppe herunterg’fallen, als er davon g’hört hat. Er hat sich den Kopf verletzt, aber er will net, dass ich einen Arzt oder die Rettung ruf.«
»Das tut uns leid«, sagte Stern.
Die Haushälterin nickte. »Wenn S’ mir bitte folgen woll’n.« Sie geleitete die Kriminalbeamten durch den Eingangsbereich, von dem aus mittig eine breite Stiege nach oben führte, wo sich vermutlich die Schlafräume befanden. Das Wohnzimmer war im rechten Flügel der Villa untergebracht, dort saß die Familie beisammen und unterhielt sich. Wahrscheinlich redeten sie über Marions Tod. Als Fiona Mühlböck klopfte, verstummte das Gespräch.
»Ja?«, war eine männliche Stimme zu hören.
Die Haushälterin öffnete die Tür und trat halb ein. »Zwei Polizisten sind da und woll’n Sie sprechen.«
»Sie sollen hereinkommen«, ertönte es von drinnen.
Fiona Mühlböck trat zur Seite und ließ Stern und Grünbrecht passieren.
Das Wohnzimmer entpuppte sich als Wohnsalon. Ein offener Kamin war das Herzstück des riesigen Raumes, davor standen mehrere moderne Ledersofas in einem Halbkreis aneinandergereiht. Heuer war der Mai bereits angenehm warm, weshalb kein Feuer im Kamin brannte. Kostbare Teppiche lagen auf dem Boden und moderne, in unterschiedlichen Techniken gefertigte Gemälde zierten die Wände. So mancher Linzer Galerist würde vor Neid erblassen, sähe er die hier aufgehängte Bandbreite an moderner Kunst.
»Grüß Gott!«, begrüßte Stern die Anwesenden, sofort nahm er die Betroffenheit wahr, die in dem Raum herrschte. »Mein Name ist Oskar Stern, ich bin Chefinspektor am Landeskriminalamt Oberösterreich, das ist meine Kollegin Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht …«
»Sie kommen gewiss wegen Marion«, unterbrach der Hausherr Sterns Vorstellung. Er hielt sich ein Tuch an den Kopf, bestimmt wegen des Sturzes. Wahrscheinlich wollte er verhindern, dass sein Hemd und die Ledercouch mit Blut besudelt wurden, weil er sich eine Verletzung zugezogen hatte. »Das ganze Internet ist voll mit diesem Foto, das so ein sensationslüsterner Trottel von Marion gemacht hat, wie sie tot in den Bäumen hängt. Sie müssen umgehend Sorge dafür tragen, dass es verschwindet! Sofort!«, forderte er echauffiert und wollte aufstehen, doch die Bewegung verursachte ihm offensichtlich Schmerzen. Sein Gesicht verzerrte sich und er stöhnte.
»Wir werden unser Bestes tun. Außerdem möchten wir Ihnen unser aufrichtiges Beileid aussprechen«, sagte Stern und trat näher. »Sollen wir einen Arzt rufen?« Er deutete auf Viktor Hallsteiner, der umständlich mit der rechten Hand das Tuch in Position hielt und sich in die Couch zurückfallen ließ. Dadurch konnte Stern nicht sehen, wie schwer die Verletzung war, die er sich bei dem Sturz zugezogen hatte.
»Das mit Marion war ein schrecklicher Unfall, oder? Es kann nur ein Unfall gewesen sein«, sagte der Hausherr und bot den Beamten an, sich zu setzen. Die Frage nach dem Arzt ignorierte er.
Sowohl Fabian als auch seine Mutter und Schwester schwiegen. Sie sahen betroffen aus, wenn auch nicht auf die Weise, die Stern kannte, wenn ein nahestehender Mensch von einem gegangen war. Der Chefinspektor war schon oftmals zu Familien heimgekommen, die einen geliebten Menschen durch eine Gewalttat verloren hatten, hatte die Verzweiflung und Fassungslosigkeit, die Wut und Trauer erlebt. Hier aber war es anders.
»Das wissen wir noch nicht«, erwiderte er.
»Wie meinen Sie das?« Viktor Hallsteiner richtete sich auf, und die Gesichter der übrigen Familienmitglieder schwenkten ebenfalls in Sterns Richtung.
»Wie ich sagte: Wir wissen nicht, ob es tatsächlich ein Unfall war oder nicht. Zum jetzigen Zeitpunkt gehen wir von Mord aus. Die Indizien sprechen dafür.« Gespannt blickte Stern die Anwesenden der Reihe nach an. Die Schwester fing an zu weinen, die Mutter reichte ihr ein Taschentuch. Fabian wurde kreidebleich. Stern konnte erkennen, dass er das Gehörte erst verarbeiten musste.


