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»Das ist doch ein ausgemachter Schwachsinn!«, erwiderte Viktor Hallsteiner aufgebracht. Er wollte aufstehen, doch sichtlich hinderten ihn seine Kopfschmerzen daran. »Stefanie, bring mir eine Schmerztablette!«, forderte er von seiner Frau.
Stefanie Hallsteiner stand auf und verschwand aus dem Raum. Jetzt war für die Kriminalbeamten klar, wer hier das Kommando führte.
»Herr Hallsteiner«, richtete Stern das Wort an Fabian. »Warum haben Sie Ihre Frau nicht als vermisst gemeldet? Hätten Sie nicht bemerken müssen, dass sie nach Ihrer Hochzeit nicht neben Ihnen im Bett liegt?«
»Nein, hat er nicht«, antwortete Viktor Hallsteiner anstelle seines Sohnes. »Und zwar wegen …«
»Ich rede nicht mit Ihnen, sondern mit Ihrem Sohn«, ließ Stern ihn nicht ausreden. »Wenn Sie sich bitte zurückhalten!«
»Was denken Sie, wen Sie vor sich haben?«, brauste der Vater auf und erhob sich. Wieder verzog er vor Schmerzen das Gesicht, blieb aber stehen.
»Ich weiß, wen ich vor mir habe. Und Sie halten sich jetzt aus der Befragung raus, sonst …«
»Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten über Sie beschweren!«
»Tun Sie das, aber draußen. Mara, würdest du bitte Herrn Hallsteiner vor die Tür begleiten und einen Arzt rufen? Ich glaube, dass er sich bei dem Sturz eine Gehirnerschütterung zugezogen hat«, sagte Stern und wandte sich Fabian zu. Ein klares Zeichen, dass er nicht beabsichtigte, mit dem Oberhaupt der Familie weiterzureden, solange das sich nicht unter Kontrolle hatte und Sterns Anweisungen Folge leistete.
Die Gruppeninspektorin stellte sich vor Viktor Hallsteiner und sah ihn auffordernd an.
»Das werden Sie bereuen!«, zischte er und schritt Grünbrecht voran. In diesem Augenblick kehrte Stefanie Hallsteiner zurück, in der einen Hand ein Glas Wasser und in der anderen zwei Schmerztabletten.
»Was ist hier los?«, fragte sie verwundert und blickte ihrem entschwindenden Gatten hinterher. Anschließend wandte sie sich Stern zu und hoffte auf Aufklärung.
»Ihr Mann hat sich entschieden, der Befragung nicht beizuwohnen«, erläuterte Stern knapp. Im Eingangsbereich konnte er den Hausherren zetern hören. Wahrscheinlich rief der jetzt den Landespolizeidirektor an und dieser daraufhin Bormann, Sterns Chef. Doch ein paar Minuten blieben Stern noch, bis Bormann versuchen würde, ihn zu erreichen.
»Herr Hallsteiner, bitte beantworten Sie meine Frage«, kam er auf das ursprüngliche Thema zurück. »Warum haben Sie Ihre Frau nicht als vermisst gemeldet? Oder haben Sie etwa gar nicht gewusst, dass sie nicht zu Hause war?«
Fabian Hallsteiner rückte nervös auf dem Sofa hin und her. Er rieb sich die Hände und sah zu Boden. Es war unschwer zu erkennen, dass ihm die Situation stark zusetzte.
»Ich war letzte Nacht ziemlich weggetreten, ich weiß nicht einmal, wie ich nach Hause gekommen bin«, sagte er leise.
»Heißt das, Sie haben auf Ihrer Hochzeit so viel Alkohol getrunken, dass Sie sich an nichts erinnern?«, hakte Stern nach.
»Ich hab nicht alles vergessen, was gestern passiert ist, aber es gibt schon ein paar Lücken. Vor allem, was zum Schluss passiert ist, liegt unter einem dicken Nebel verborgen«, stellte Fabian klar.
»Dann erzählen Sie mir von der Hochzeit, soweit Sie es noch wissen«, forderte Stern den jungen Witwer auf.
»Von der ganzen Hochzeit?« Fabians Stimme klang unsicher.
Stern nickte.
»Ja, wo fange ich da an? Also, wir haben auf der Burg Reichenstein geheiratet, anschließend fand dort die Hochzeitsfeier statt. Es waren viele Gäste da, Verwandte, Bekannte, Freunde, Geschäftspartner meines Vaters. Marion war unglücklich …« Fabian brach ab und schien sich mit Augenkontakt beim Chefinspektor rückversichern zu wollen, ob seine Erzählung dessen Erwartungen entsprach.
»Weshalb war sie unglücklich? Es war doch ihre Hochzeit?«, fragte Stern. War eine Hochzeit nicht der Traum der meisten Frauen? Warum also war Marion an diesem Tag nicht überglücklich gewesen?
Fabian warf einen Blick zu seiner Mutter hinüber, die sich mittlerweile gesetzt hatte, nach wie vor das Glas Wasser und die Tabletten in Händen. Sie nickte ihrem Sohn aufmunternd zu.
»Sie müssen wissen, dass wir nicht aus Liebe geheiratet haben«, erzählte Fabian stockend.
»Weswegen dann?« Stern konnte sich nicht vorstellen, dass es heutzutage für junge Leute noch andere Gründe gab, den Bund der Ehe einzugehen. Die Zeiten der arrangierten Verehelichungen von Kindern waren längst vorüber. Natürlich wusste er, dass es in anderen Kulturen und auf anderen Kontinenten durchaus bis heute üblich war, junge Mädchen mit Männern zu vermählen, aus den unterschiedlichsten Gründen. Oder weil es schlicht und einfach Tradition war. Aber in Österreich dürfte das seiner Meinung nach eigentlich nicht mehr vorkommen.
»Unsere Eltern haben uns verkauft!«, stieß Fabian verächtlich aus. Sein Gesicht verzog sich zu einer leidenden Fratze.
Stern glaubte sich verhört zu haben, doch Stefanie Hallsteiner liefen plötzlich Tränen über die Wangen. Die Worte ihres Sohnes schmerzten sie, das sah Stern deutlich. Der Vorwurf war schwerwiegend, und Stern wollte ihn näher erklärt haben, was für die Mutter bedeutete, den verletzenden Worten des Sohnes weiterhin ausgesetzt sein zu müssen.
»Was heißt verkauft?«, hakte er nach.
»Weil ich Marion geheiratet habe, bekommt ihr Vater einen Haufen Geld von meiner Familie, um seine Firma zu retten. Dadurch steht Marions Vater für immer und ewig in unserer Schuld. So ist es doch, oder, Mutter?« Fabians Lippen bebten, als er sie um Bestätigung bat.
Die Angesprochene schluchzte laut auf. »Ich hab es nicht verhindern können«, gestand sie unter Tränen. »Ich hab Viktor angefleht, es nicht zu tun. Dass er unseren Sohn nicht an diesen Gewürzhändler verkauft wie eine Ladung frischer Senfkörner. Aber er hat nicht auf mich gehört. Er hat gemeint, dass Fabian etwas dafür tun müsse, wenn er irgendwann einmal unser Vermögen erben will. Und Fabians Beitrag ist eben, jemanden zu heiraten, der in Viktors Pläne passt.« Die Mutter ließ erschöpft die Schultern hängen. Das Versagen, dass sie ihren Sohn nicht vor dieser Heirat hatte beschützen können und dies dann auch noch zugeben musste, kostete sie ihre ganze Kraft.
»Was hat Marion zu diesem Plan gesagt?«, wollte Stern wissen.
»Sie war nicht begeistert«, erwiderte Fabian. »Und sie hat mich dafür gehasst.«
»Und ich hasse deswegen meinen Mann. Soll er doch verrecken!« Stefanie Hallsteiner stand auf und schüttete das Wasser in den Topf einer Zimmerpflanze, die Schmerztabletten steckte sie in die Schublade einer Kommode. Das war ihre kleine Revolte, wenngleich sich Stern sicher war, dass sie ihrem Mann wieder gehorchen würde, sobald dieser zur Tür hereinmarschierte.
»Wie war das gestern Abend? An was können Sie sich erinnern und wann haben Sie Marion das letzte Mal gesehen?«, machte Stern mit der Befragung des Bräutigams weiter.
»Nach dem Brautstehlen. Wir haben zusammen getanzt, und Marion war eigentlich nicht so schlecht drauf. Sie hat sogar gemeint, dass das, was ich zu ihr gesagt habe, und zwar, dass die Liebe noch kommen könne, wenn wir erst mal eine Zeitlang verheiratet seien und uns besser kennengelernt hätten, dass sie das ein wenig hoffnungsvoller gestimmt hat. Ich hatte den Eindruck, als wenn sie mich nicht mehr ganz so verabscheuen würde. Aber vielleicht habe ich mich geirrt.« Fabian starrte traurig auf seine Hände.
»Marion hat gestern mit vielen Männern geflirtet«, meldete sich Fabians Schwester Christine zu Wort. »Es war offensichtlich, dass sie nicht mit dir verheiratet sein wollte.« Bislang hatte die junge Frau geschwiegen und dem Gespräch aufmerksam gelauscht. Stern konnte nicht einschätzen, auf welcher Seite sie stand. Auf Marions? Oder auf der ihrer Familie, die ja erst das Leid über Marion gebracht hatte? Stern würde es herausfinden, ebenso, warum Marion und Fabian der Heirat überhaupt zugestimmt hatten.
»Ich hab’s gesehen«, antwortete Fabian, den Blick zu Boden gerichtet, als schämte er sich für das Verhalten seiner nun toten Ehefrau.
»Die Leute werden sich über uns das Maul zerreißen«, redete Christine weiter. Sie hatte die Beine angezogen und hielt einen kuscheligen Fell-Polster von der Couch dicht an ihren Bauch.
Stern beobachtete sie und ihm fiel auf, dass sie lächelte. »Und das freut Sie?«
»Das ist voll cool!«, sagte Christine. »Endlich kriegt Papa das, was er verdient. Sonst kuschen immer alle vor ihm. Ich finde es übrigens toll, dass Sie ihn rausgeworfen haben. Sie haben echt Eier, Mann! Aber Sie wissen, was jetzt auf Sie zukommt?«
»Ich kann es mir vorstellen …«
»Verdoppeln Sie Ihre Vorstellung! Er wird Ihnen den Arsch aufreißen, bis Sie vor ihm in die Knie gehen, genau wie wir.« Christine deutete in die Runde und drückte mit der anderen Hand den Fell-Polster noch fester an sich, als könnte der sie vor den zukünftigen Angriffen des Vaters schützen.
»Das wäre ja noch schöner«, murmelte Stern. »Also, Sie haben Marion das letzte Mal nach dem Brautstehlen beim Tanzen gesehen. Wie spät war es da?«, richtete er die nächste Frage an den jungen Witwer.
»So gegen halb eins, würde ich meinen.« Fabian versuchte sich zu erinnern. »Ich hatte so viel intus, dass ich nicht länger tanzen konnte. Beim Brautstehlen haben wir Schnaps getrunken, immer wieder. Die Wirkung setzte aber erst später ein, und danach … Ich glaub, ich hab auf Marions Kleid gekotzt.«
Christine kicherte. »Ja, das hast du. Und das hat sie wirklich sauer gemacht!«
»Dann weiß ich nichts mehr. Ich hab auch nicht den blassesten Schimmer, wie ich nach Hause gekommen bin.«
»Mit uns«, sagte die Mutter, die sich mittlerweile gefangen hatte. Die Tränen waren versiegt, die Nase geputzt, und das verschmierte Make-up unter den Augen mit einem Taschentuch weggewischt. Sie saß aufrecht auf der Ledercouch und massierte ihre Hände. »Viktor hat dich aufgelesen und von ein paar kräftigen Männern auf die Rücksitzbank seines Wagens verfrachten lassen. Die Reinigung wird deinen Vater eine Stange Geld kosten.«
»Ja, du hast nämlich auch in Papas BMW gekotzt«, sagte Christine mit sichtlicher Genugtuung.
»Wann haben Sie Marion das letzte Mal gesehen?«, wollte Stern von Frau Hallsteiner wissen.
»Ich hab Marion gefragt, ob sie mit uns nach Hause fahren will, aber sie hat gemeint, da mit Fabian heute ohnehin nichts mehr ginge, weil der so viel getrunken habe, könne sie noch bleiben und ein wenig Spaß haben. Ich hab ihr den Spaß gegönnt.« Stefanie Hallsteiner betrachtete den Chefinspektor unsicher. Sie schien sich zu fragen, ob der verstünde, was sie damit ausdrücken wollte. »Ich hatte irgendwie Mitleid mit ihr, obwohl mir nicht gefallen hat, wie sie sich bei der Hochzeit aufgeführt und unsere Familie bloßgestellt hat«, erklärte sie.
»Das hört sich an, als wären Sie selbst nicht glücklich in Ihrer Ehe«, schloss Stern aus ihrer Antwort.
»Ich habe zwei wundervolle Kinder. Das ist mehr, als ich mir jemals zu erträumen gewagt habe.« Sie lächelte Fabian und Christine an. »Doch gegen meinen Mann habe ich keine Chance. Der bekommt immer, was er will. Ohne Rücksicht auf andere. Ohne Rücksicht auf mich.« Ihre Stimme war leise geworden, und während sie das sagte, hatte sie wieder begonnen, ihre Hände zu massieren.
»Und wann haben Sie Marion das letzte Mal gesehen?«, stellte Stern erneut diese Frage, nun an Fabians Schwester gerichtet.
»Als sie mit dem Sänger der Band gevögelt hat«, antwortete Christine.
5. KAPITEL
Die Gruppeninspektoren Hermann Kolanski und Edwin Mirscher fuhren zu den Eltern der Braut. Durch den Umstand, dass Stern und Grünbrecht neben dem Bräutigam auch dessen Eltern befragten, fiel Kolanski und Mirscher nun doch eine der schwierigsten Aufgaben der Mordermittlung zu: den Eltern sagen zu müssen, dass ihr Kind tot war.
»Wenn ich mir denke, dass Mara und ich auch bald heiraten, wird mir ganz flau im Magen«, ließ Mirscher während der Fahrt seinen Kollegen wissen.
»Du bekommst doch nicht etwa kalte Füße?«, fragte Kolanski überrascht.
»Ich? Nein! Im Gegenteil! Ich kann es kaum erwarten, dass Mara meine Frau wird.« Mirscher strahlte bei dem Gedanken, was ihn wie einen kleinen Jungen aussehen ließ. Er fuhr sich mit der Hand mehrmals durch seine Stoppelhaare und lachte. An die kurze Pracht musste er sich erst gewöhnen, genau wie Kolanski, der seinem Kollegen, seit dieser eine neue Frisur hatte, bei jeder passenden Gelegenheit wie einem Lausbuben durch die Haare rubbelte. Die Neckerei würde Kolanski vermissen, wenn Mirscher nicht mehr bei der Mordgruppe, sondern beim Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung arbeitete. Schon bald sollte der Wechsel vollzogen werden. Wahrscheinlich war dies Mirschers letzter Fall im Team, was Kolanski betrübte. Er mochte den Kollegen, arbeitete gerne mit ihm zusammen. Doch irgendwie vermieden sie es alle, dieses Thema anzusprechen. Es ließ sie sentimental werden, obwohl der eigentliche Grund für Mirschers Wechsel ein durchaus schöner war.
»Wie geht’s mit den Hochzeitsvorbereitungen voran?«, wollte Kolanski wissen. »Recht viel Zeit habt ihr ja nicht mehr, der 21. Juni ist bald da.«
»Das Aufgebot ist bestellt, der Priester informiert, und die Familie und die engsten Freunde sind eingeladen.«
»Was? Keine Tante Pepi und kein Onkel Horst?« Kolanski wusste, dass die Gästeliste bei Maras und Edwins Hochzeit ein besonders heikles Thema war. Mirscher wollte eine große Hochzeit – Kolanski vermutete allerdings, dass hinter diesem Wunsch wohl eher Mirschers Mutter steckte –, aber Grünbrecht zog es vor, im kleinen Kreis zu heiraten. Die selbstbewusste Gruppeninspektorin hatte sich durchgesetzt. Kolanski schmunzelte.
»Du weißt ja, wie überzeugend Mara sein kann«, erwiderte Mirscher.
»Und deine Mutter? Was sagt sie dazu?«
»Sie ist nicht begeistert, wie du dir vorstellen kannst. Sie hat gemeint, dass ich das meinen Tanten und Onkeln selber erklären muss. Sie will damit nichts zu tun haben.« Mirscher ahmte die Stimme seiner Mutter nach.
Kolanski lachte.
»Das ist nicht lustig!«, fuhr Mirscher ihn an. »Du kennst Tante Pepi nicht.«
»Nein, da hast du recht. Und so, wie du von ihr sprichst, will ich sie auch nicht kennenlernen«, erwiderte Kolanski immer noch amüsiert.
Nach weiteren zehn Minuten erreichten sie das im Zentrum von Pregarten liegende Haus der Balduins. Die Gruppeninspektoren stiegen aus und sahen sich um. Der Stadtplatz mit der etwa fünf Meter hohen Mariensäule wirkte wie ausgestorben, nur ein paar Jugendliche saßen in dem Grünflächenoval in der Sonne und blickten auf die Displays ihrer Handys, anstatt sich zu unterhalten. Ein mittlerweile gewohntes Bild, nicht nur in dieser Altersgruppe.
»Sind wir hier richtig?«, fragte Kolanski, der die Adresse prüfte. Ein Großteil der Pregartner Bevölkerung befand sich zu dieser Zeit wahrscheinlich in der Stadtpfarrkirche St. Anna zur heiligen Messe. Immerhin war Sonntag, der Tag des Herrn. Wie zur Bestätigung läuteten die Glocken der Kirche.
»Ja, sind wir«, war sich Mirscher nach einem Blick auf sein Smartphone sicher und schritt auf das Stadthaus zu. Auf dem Türschild stand kein Name, dennoch betätigte er die Klingel.
Nach einigen Augenblicken knackte es in der Sprechanlage und eine weibliche Stimme meldete sich. »Ja?«
»Frau Balduin?«
»Wer will das wissen?«
»Gruppeninspektor Edwin Mirscher vom Landeskriminalamt Oberösterreich. Wir müssen Sie sprechen.«
»Ich bin noch im Morgenmantel«, drang es blechern aus der Sprechanlage.
»Es ist dringend!«, ergänzte Mirscher.
Es knackte wieder, dann herrschte Stille.
»Frau Balduin?« Mirscher starrte die Sprechanlage entgeistert an.
»Was hast du erwartet? Dass sie am Sonntag Fremde mit offenen Armen empfängt? Wir könnten ja auch Zeugen Jehovas sein.« Kolanski trat näher und drückte selbst auf die Klingel, deutlich länger als Mirscher. Und gleich ein zweites Mal.
»Ist ja schon gut!«, drang es aus dem Lautsprecher.
»Siehst du, so macht man das.« Kolanski grinste Mirscher an.
»Ich bin mir sicher, dass sie mir auch aufgemacht hätte. Ich hätte halt nur gewartet, bis sie sich etwas Ordentliches angezogen gehabt hätte und …« Mirscher verstummte. Jemand hantierte innen mit einem Schlüssel, und angesichts der Nachricht, die sie der Familie mitteilen mussten, war eine angemessene Haltung angebracht. Mirscher streckte den Rücken durch, Kolanski nahm die Sonnenbrille ab und schob sie in die Brusttasche seines Hemdes. Schließlich ging die Tür auf und eine Frau um die 50 stand vor ihnen. Sie trug einen blauen Morgenmantel, war jedoch schon geschminkt. Die braunen glatten Haare hatte sie mit einer Spange hochgesteckt.
»Gruppeninspektor Edwin Mirscher, das ist mein Kollege Gruppeninspektor Hermann Kolanski. Wir müssen mit Ihnen und Ihrem Mann sprechen, Frau Balduin.« Mirscher hielt ihr seinen Dienstausweis hin, und sie warf einen flüchtigen Blick darauf.
»Um was geht’s denn?« Die Frau klammerte mit einer Hand den Morgenmantel vor ihrer Brust zusammen.
»Das sollten wir lieber drinnen bereden«, sagte Kolanski ausweichend. »Dürfen wir reinkommen?«
Die Frau trat nach kurzem Zögern beiseite und ließ die Kriminalbeamten ein. Dann führte sie sie die Treppe nach oben in das Esszimmer, wo ihr Ehemann gerade Kaffee trank und die Sonntagszeitung studierte. Als sie eintraten, sah er hoch und ließ die Zeitung in den Schoß sinken.
»Die Herren sind von der Polizei«, stellte Frau Balduin die Besucher vor.
»Polizei? Sie müss’n unseren Aufzug verzeih’n. Wir sind spät zu Bett g’gangen, weil unsere Tochter gestern g’heiratet hat. Und da heute Sonntag ist, dachten wir, wir könnten ausschlafen. Ich bin Gustav Balduin, meine Frau Anna kennen Sie ja bereits.« Der Hausherr faltete die Zeitung und legte sie beiseite. »Wollen S’ einen Kaffee?«
»Nein, danke«, lehnte Kolanski ab.
»Bitte setzen Sie sich«, bot ihnen Anna Balduin einen Stuhl an. »Was ist denn passiert, dass Sie uns unbedingt an einem Sonntag sprechen müssen?«
Auf dem Tisch standen neben zwei Kaffeetassen mehrere Stücke des Hochzeitskuchens, wie Kolanski und Mirscher vermuteten. Diese waren offensichtlich vom Fest übrig geblieben, und die Gäste hatten sie sich mit nach Hause nehmen dürfen, wie es bei Hochzeiten üblich war. Das Vorhandensein des Kuchens machte das Überbringen der Todesnachricht noch schwerer. Mirscher zögerte, deshalb übernahm Kolanski das Reden.
»Wir haben Ihnen leider eine traurige Mitteilung zu machen. Ihre Tochter Marion wurde heute Morgen tot aufgefunden. Unser aufrichtiges Beileid.«
Für einen Augenblick herrschte Schweigen. Offenbar waren die Balduins heute noch nicht im Internet gewesen, sonst hätten sie das Foto ihrer toten Tochter – wie sie mit ausgestreckten Armen wie ein Kreuz in den Bäumen hing – schon gesehen. Oder sie nutzten prinzipiell keine sozialen Medien. Ihre Überraschung schien echt zu sein.
»Sind S’ sicher, dass es Marion ist?«, fragte der Vater. Er war kreidebleich und starrte die Beamten ungläubig an.
Die Mutter stand abrupt vom Tisch auf und griff nach ihrem Handy, das auf einer Kommode lag. Sie wischte und tippte und hielt es sich ans Ohr. Bestimmt rief sie Marion an. Die würde jedoch nicht rangehen, wussten die Kriminalbeamten.
»Sie hebt net ab«, sagte die Mutter, während die Gewissheit, dass die Männer die Wahrheit sprachen, in ihr Gehirn vordrang. Sie ließ den Arm mit dem Smartphone sinken, jedwede Energie wich aus ihrem Körper. Sie torkelte und kippte zur Seite.
Mirscher sprang ihr sofort zur Hilfe und fing sie gerade noch auf, bevor ihr Kopf gegen den Schrank prallte. Kolanski half ihm, die Frau auf den Boden zu legen und die Füße hochzulagern. Sanft tätschelte er ihr Gesicht. »Frau Balduin? Hören Sie mich?«
Gustav Balduin saß noch immer auf dem Stuhl und rührte sich nicht. Er bekam vom Ohnmachtsanfall seiner Frau nichts mit. Er starrte auf einen Fleck und murmelte ein paar Worte vor sich hin, die sich wie »Was habe ich nur getan?« anhörten, aber auch etwas ganz anderes hätten heißen können.
»Wir brauchen einen Arzt«, erkannte Mirscher und wählte den Notruf.
Inzwischen erlangte Anna Balduin ihr Bewusstsein wieder. Als sie realisierte, dass alles kein Traum gewesen war und in ihrem Esszimmer tatsächlich zwei Kriminalbeamte waren – der eine über sie gebeugt und der andere telefonierend –, schrie sie sich die Seele aus dem Leib. Es waren die Schreie einer verzweifelten Frau, die den Tod ihres Kindes nicht wahrhaben wollte. Ihn nicht akzeptieren konnte. Lieber selber sterben wollte, als weiterzuleben mit dem Wissen, die eigene Tochter nie mehr in den Arm nehmen zu können. Kolanski wollte sie berühren, doch sie schlug nach ihm, als wäre er schuld am Tod ihres Kindes. Er ließ nicht locker, zog sie an sich, bis sie ihn gewähren ließ. Schreiend und weinend. Wütend und traurig. Eine Weile saßen sie so da, bis endlich in der Ferne die Sirene des Rettungswagens ertönte.
*
»Scheiße!«, raunte Mirscher Kolanski zu, nachdem der Notarzt und das Kriseninterventionsteam gleichzeitig eingetroffen waren und die Versorgung der Balduins übernommen hatten. »Eltern sagen zu müssen, dass ihr Kind tot ist, ist echte Scheiße, das mach ich nie wieder!«
»Das wirst du auch nicht mehr müssen«, erwiderte Kolanski. »Schließlich wechselst du bald ins Landesamt für Verfassungsschutz und darfst Terroristen bekämpfen.«
»Wie kannst du dabei nur so ruhig bleiben?«, fragte Mirscher irritiert.
»Was bringt es mir, wenn ich nicht ruhig bin?«, stellte Kolanski eine Gegenfrage.
»Klugscheißer!«, fauchte Mirscher ihn an.
»Auf alle Fälle können wir die beiden als Täter ausschließen. Niemand reagiert so, wenn er vom Tod des geliebten Menschen gewusst hat«, resümierte Kolanski.
»Außer er ist ein guter Schauspieler«, warf Mirscher ein.
»Dann muss er aber ein sehr guter Schauspieler sein«, antwortete Kolanski und deutete auf den Vater, der wie betäubt auf dem Stuhl saß und regungslos geschehen ließ, was die Sanitäter mit ihm anstellten. Als die Spritze mit dem Beruhigungsmittel in seine Vene eindrang, verzog er nicht einmal das Gesicht.
Während die Mutter im Wohnzimmer auf der Couch lag und dort medizinisch versorgt wurde, setzte sich Kolanski Gustav Balduin gegenüber und fragte: »Herr Balduin, können Sie uns ein paar Fragen beantworten?«
Der Vater richtete den Blick auf den Gruppeninspektor, doch es war, als sähe er durch ihn hindurch. Als nähme er ihn nur am Rande wahr. Dennoch nickte er.
»Was ist gestern auf der Hochzeit passiert, das nicht hätte passieren sollen?« Kolanski wählte seine Worte mit Bedacht.
»Nichts. Alles war so, wie es hat sein soll’n«, antwortete Balduin.
Die Kriminalbeamten wussten nicht, ob sich der Vater das jetzt einredete, um mit der Situation klarzukommen, oder ob es tatsächlich so gewesen war. Die Menschen neigten dazu, die Dinge im Nachhinein schönzufärben, um sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen.
»Gab es Streit?«
Gustav Balduin überlegte. »Nein.«
»Wann haben Sie Ihre Tochter das letzte Mal gesehen?«
»Nach Mitternacht, als wir nach Hause g’fahren sind.«
»Wann war das?«
»So um 1 Uhr, vielleicht ein wenig später.«
»Was hat Marion da gerade gemacht?«
»Mich ang’schrien.«
»Sie hat Sie angeschrien?« Die Gruppeninspektoren waren überrascht, dass der Vater dies so offen zugab. Immerhin konnte man daraus ein Motiv ableiten. »Weshalb hat Marion Sie angeschrien?«
Der Vater räusperte sich. Anscheinend wusste er nicht, wie er das, was ihm auf der Zunge lag, sagen sollte. »Weil ich sie mit dem jungen Hallsteiner verheiratet hab und sie das plötzlich für keine so gute Idee mehr g’halten hat«, sagte er dann.
»Sie haben was?«, entfuhr es Mirscher, der inzwischen ebenfalls an den Tisch herangetreten war und sich mit beiden Armen dort abstützte.
»Sie mit ihm verheiratet«, beantwortete Balduin die Frage, als wäre es das Natürlichste, was es gab.
»Wie dürfen wir das verstehen? Haben sich die beiden denn nicht geliebt?« Kolanski war nicht klar, was sie mit Balduins Aussage anfangen sollten. Ob sie dadurch tatsächlich auf ein Motiv schließen konnten oder ob sie den Vater möglicherweise missverstanden.


