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Links ließen sie das Landeskrankenhaus der Stadt hinter sich und erreichten endlich die als Kultur- und Braustadt bekannte Mühlviertler Provinzmetropole. Jetzt mussten sie noch den Tatort finden.
In Freistadt bog Stern auf die Leonfeldner Straße ein und erblickte kurz darauf auf der linken Seite den Bahnhof. Hier waren sie richtig. Er folgte der Straße und behielt die dazu parallel verlaufenden Gleise im Auge.
»Gleich verschwinden sie unter der Straße«, machte Tobias wenig später seinen Großvater aufmerksam, dass sie auf eine Brücke zusteuerten. »Vielleicht ist er ja gesprungen, der Tote … Ich meine, als er noch nicht tot gewesen ist.«
»Tobias!«, fuhr Melanie ihren Bruder an, da ihr schon allein bei der Vorstellung, was sie dort vorfänden, wenn ihr Bruder recht hatte, übel wurde.
»Das wissen wir noch nicht«, versuchte Stern, die Kinder zu beruhigen. Er verringerte die Geschwindigkeit. Auf der Brücke hielt er an, schaltete Blaulicht und Warnblinkanlage ein und stieg aus. Über das Geländer warf er einen Blick auf die Bahntrasse hinab.
»Also, gesprungen ist er schon mal nicht«, sagte Tobias, der plötzlich neben ihm auftauchte und auf ein Meer aus blau blinkenden Lichtern, etwa einen halben Kilometer entfernt auf der Bahntrasse, starrte.
»Nein, gewiss nicht. Aber du darfst deiner Mutter auf gar keinen Fall etwas davon erzählen«, verlangte Stern.
»Ist doch klar, Opa. Die macht dich sonst zur Sau.« Tobias grinste.
Und Stern seufzte. »Ab in den Wagen mit dir.«
Er startete den Motor und ließ den Audi von der Brücke rollen. Wenige Meter danach zweigte rechts ein Weg ab. Davor hatte sich allerdings ein Stau gebildet, da das blau blinkende Lichtgewitter am Ende des Weges die Aufmerksamkeit aller Autofahrer auf sich zog. Viele Köpfe wurden aus den Fenstern gereckt, um zu ergründen, was bei den Gleisen vor sich ging. Immer wieder sah Stern Handys, die aus den Autos gehalten wurden, um Fotos vom Geschehen zu machen. Ein schnelles Vorankommen war unmöglich. Ein Polizist versuchte, die Schaulustigen zum Weiterfahren zu bewegen – mit mäßigem Erfolg, wie Stern feststellte. Er drückte auf die Hupe. Dann noch einmal. Das wiederum veranlasste einen SUV-Fahrer zu einer nicht jugendfreien Geste. Im Schritttempo näherte sich Sterns Audi der Abzweigung. Als er sie endlich erreichte, nickte Stern dem Polizisten zu, dem der Schweiß auf der Stirn stand, deutete auf das Blaulicht auf seinem Wagen und drückte seinen Dienstausweis gegen die Seitenscheibe. Der Uniformierte warf einen flüchtigen Blick darauf und gab den Weg zu der Bahntrasse für ihn frei.
»Wow!«, kommentierte Melanie den Tumult nahe dem Wald und machte Fotos mit ihrem Smartphone. Mehrere Polizeiwagen, ein Rettungsauto, der Kleinbus der Spurensicherung, ein Leichenwagen, dazwischen jede Menge Menschen in Uniform und Zivilkleidung. Sie alle waren hier versammelt, um ein Verbrechen aufzuklären. Also war es doch kein Selbstmord, dachte Stern und auch, dass die Sache wohl länger dauern würde.
»Ist ja voll geil!«, rief Tobias, der sich mit seinem Oberkörper zwischen die Vordersitze schob, um besser sehen zu können.
»Dieses Wort sagt man nicht«, ermahnte Stern seinen Enkel. »Außerdem ist jemand gestorben. So etwas ist nie geil. Schreib dir das hinter die Ohren.«
»Das hab ich nicht gemeint, Opa, sondern die vielen Polizeiautos!« Tobias deutete durch die Windschutzscheibe, in der sich das blau blinkende Licht brach und zuckend ins Wageninnere fiel.
»Schon klar«, brummte Stern und parkte den Audi gleich hinter Webers Wagen.
»Was sollen wir jetzt tun?« Melanie hatte aufgehört, Fotos zu knipsen, und drückte ihre Nase am Seitenfenster platt.
»Ihr könnt euch die Beine ein wenig vertreten, dort drüben.« Stern deutete auf den Waldrand gleich neben dem Weg, der weit genug von den Einsatzkräften entfernt zu sein schien und nahe genug, um ein Auge auf die Kinder zu haben. »Ihr geht auf gar keinen Fall da runter!« Sein ausgestreckter Finger wies nun auf die Gleise, wo die Kollegen der Spurensicherung in ihren weißen Overalls geschäftig hantierten. Stern machte unter ihnen Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht und Gruppeninspektor Hermann Kolanski aus. Wie zu erwarten, waren sie vor ihm eingetroffen. Vor ihnen kniete Dominik Weber, der Gerichtsmediziner. Der Raser von der S10. »Ihr dürft die ganze Zeit mit euren Handys spielen. Ich werde es eurer Mutter nicht verraten«, sagte Stern, führte den Zeigefinger an seinen Mund und gab vor, diesen mit einem imaginären Schlüssel zu versperren.
»Du meinst, wir verraten dich nicht bei Mama, weil du uns hierher mitgenommen hast«, stellte Tobias richtig. Er hielt seiner Schwester grinsend die Hand hin und die schlug ein.
Stern seufzte. Wie hatte er sich nur in die Gewalt von zwei Kindern begeben können? Auch wenn sie sein eigenes Fleisch und Blut waren, jetzt quetschten sie ihn aus wie eine reife Zitrone. »Ist schon recht. Hauptsache, ihr stellt keinen Unsinn an.« Stern stieg aus dem Wagen und nahm den schmalen Trampelpfad, welcher von den Einsatzkräften bereits ausgetreten worden war, durch das Gestrüpp hinab zu den Bahngleisen. Er warf noch einen Blick zurück zu seinen Enkelkindern, ob sie seinen Anweisungen Folge leisteten, denn wenn nicht, würde er sie von einer Polizistin bewachen lassen müssen, Staatsressourcen hin oder her. Doch Tobias und Melanie winkten ihm brav wie Lämmer zu.
Als Stern die Trasse erreichte, sah er den rötlichen Schimmer auf den Schienen und der Schüttung. Das Opfer musste viel Blut verloren haben, das sich auf dem kurzen Stück der Bahnstrecke verteilt hatte. Irgendwo dort lag der Leichnam.
»Grüß Gott, Chef!«, hieß Mara Grünbrecht ihren Vorgesetzten am Tatort willkommen und strich auf einer Seite ihre schulterlangen dunkelbraunen Locken hinter das Ohr. Kolanski, wie immer mit schwarzer Lederjacke und Sonnenbrille unterwegs, deutete mit der Hand einen Gruß an, sagte aber nichts, da er konzentriert Webers Tun verfolgte. Er hatte die Sonnenbrille auf den Kopf hochgeschoben, um alles genau sehen zu können.
Der Gerichtsmediziner kniete neben den menschlichen Überresten, beugte sich über sie und sagte, ohne aufzublicken: »Auch schon da?«
»Was haben wir?«, fragte Stern, ohne auf Webers Neckerei einzugehen.
»Nicht viel, nur den Torso und einen Teil der Gliedmaßen. Kopf, Hände und Füße fehlen«, antwortete Grünbrecht. Stern folgte ihrem Fingerzeig die Gleise entlang. Eine Blutspur zog sich von jener Stelle, an der die kopflose, an Armen und Beinen an den Schienen mit Seilen festgebundene Leiche lag, mehrere Meter weit den Bahndamm entlang. Dann verlor sich das Blut, wurde weniger. Wahrscheinlich hingen die übrigen Leichenteile irgendwo unten am Zug fest, der hundert Meter weiter vorn zum Stillstand gekommen war. Oder sie lagen in den Büschen, die seitwärts des Bahndammes wucherten.
»So wird es schwer, das Opfer zu identifizieren. Und einen Aufruf mit Foto können wir vergessen.« Weber blickte auf und überprüfte, ob alle mitbekommen hatten, was er mit dem Foto hatte ausdrücken wollen, gluckste und redete weiter. »Wir haben keine Fingerabdrücke. Das Opfer hatte ebenso keinen Ausweis eingesteckt. Wenn wir Glück haben, ist seine DNA in unserer Datenbank. Sonst sehe ich schwarz für unseren Kopflosen.«
»Vielleicht hat er ein anderes Merkmal, aufgrund dessen wir ihn identifizieren können«, warf Grünbrecht ein. »Ein auffälliges Muttermal zum Beispiel. Eine Tätowierung oder eine charakteristische Narbe.«
»Das wissen wir erst, wenn ich ihn auf dem Tisch hab. Hier ziehe ich ihn gewiss nicht aus. Sonst glaubt der Stern noch, in meinem Kopf ist ein IC entgleist.« Weber lachte abermals. Dann untersuchte er den Torso auf augenscheinliche andere Wunden, die nicht vom Überrollen des Zuges stammen konnten.
»Wo sind die Passagiere?«, fragte Stern knapp. Neben Webers schrägem Humor würde ihm noch fehlen, dass eine Horde hysterischer Zuggäste über den Tatort herfiel und alle Spuren niedertrampelte.
»Die ÖBB hat sie mit einem Bus abgeholt. Waren eh nicht mehr viele«, erklärte Grünbrecht ihm.
Stern begutachtete die Leiche genauer. Aufgrund des vielen Blutes wusste er auch ohne Webers Analyse, dass das Opfer durch das Überrollen des Zuges ums Leben gekommen war und nicht vorher das Zeitliche gesegnet hatte. Der Täter hatte es demnach psychisch leiden lassen wollen, es wahrscheinlich bis zum Schluss in dem Glauben gelassen, dass es möglicherweise eine Chance gab, nicht an diesem Ort zu sterben. Ob der Täter dabei zugesehen hatte, wie der Zug den Mann schlussendlich in Stücke gerissen hatte, konnte Stern nicht sagen. Die Wahrscheinlichkeit war aber hoch. Jemand, der sein Opfer so leiden ließ, wollte sehen, wie es starb.
»Was kannst du mir bisher sagen, Weber?«, wandte sich Stern an den Gerichtsmediziner.
»Dass ich vor dir am Tatort gewesen bin«, grunzte der.
»Ich meine etwas, das von Bedeutung ist«, antwortete Stern gespielt gelassen, obwohl es ihn natürlich ärgerte, dass Weber vor ihm eingetroffen war.
»Die Leiche ist männlich, wahrscheinlich so zwischen 30 und 50 Jahre alt. Der Tod ist, unmittelbar nachdem ihn der Zug überfahren hat, eingetreten. Kopf, Hände und Füße wurden abgetrennt und fehlen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie von Tieren gefressen oder davongetragen wurden, dafür hat die Zeit nicht gereicht. Außerdem gibt es im Mühlviertel keine so großen Raubtiere.«
»Doch, mittlerweile schon«, warf Grünbrecht ein.
»Ein Rudel Wölfe streift durch die Mühlviertler Wälder oben in Liebenau«, wusste auch Weber. »Aber bis hierher sind sie noch nie gekommen. Es ist viel wahrscheinlicher, dass die Gliedmaßen irgendwo in der Nähe herumliegen. Durch die Wucht der Durchtrennung könnten sie durch die Luft geschleudert worden und im Gebüsch gelandet sein. Kein schöner Tod, wenn ihr mich fragt, auch wenn er sofort eingetreten ist«, beendetet Weber seine Kurzanalyse.
»Ja, grauenvoll, wenn man darauf wartet, dass ein Zug kommt und einen erledigt«, resümierte Stern und blickte die Gleise entlang, die nach hundert Metern in einer Kurve zwischen Sträuchern und Bäumen verschwanden. In der anderen Richtung sah er ein gutes Stück entfernt die Brücke, von der er und Tobias zuvor hinabgesehen hatten. Der Tatort war klug gewählt. Durch den Wald war man entlang des Bahndammes vor neugierigen Blicken geschützt, und die Brücke war zu weit weg, als dass man von dort etwas hätte genau erkennen können. »Wann ist er gestorben?«
»Der Todeszeitpunkt ist der Zugfahrplan«, meinte Weber und streifte seine Handschuhe ab. »Genauer kann ich es dir nicht sagen.«
»In welchen Abständen fahren hier Züge?«, wollte Stern wissen.
»Bin ich die Fahrplanauskunft?«, witzelte Weber und stand auf. Er packte seine Sachen in die Tasche, ließ sie zuschnappen und machte sich zum Gehen bereit. »Wenn du mit ihm fertig bist, schick ihn mir bitte in die Gerichtsmedizin – aber mit der Bahn!« Weber grunzte wieder.
Stern, der Webers Humor nur selten teilte, erwiderte: »Einen Fahrschein wird der ja wohl nicht mehr brauchen.« Dass der Gerichtsmediziner jedes Mal an einem Tatort so gute Laune versprühte, nervte ihn.
Doch Weber lachte aufgrund Sterns vermeintlichen Scherzes nur noch lauter und verließ pfeifend den Tatort. Stern sah ihm kopfschüttelnd hinterher. Danach wandte er sich wieder der Leiche zu. Die Kollegen der Spurensicherung durchkämmten indessen Zug und Bahndamm auf der Suche nach den fehlenden Körperteilen.
»Vielleicht hat der Täter Kopf und Hände mitgenommen, damit wir das Opfer nicht identifizieren können«, spekulierte er laut.
»Kein Kopf, keine Identifizierung durch Angehörige. Keine Hände, keine Fingerabdrücke und keine Identifizierung durch unsere Datenbank«, fasste Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht zusammen.
»Wer packt denn einen blutigen Kopf ein?«, fragte indessen Gruppeninspektor Hermann Kolanski angewidert. »Und schleppt ihn, vielleicht sogar in einem Plastiksackerl vom Supermarkt um die Ecke, durch die Gegend?«
»Jeder könnte das tun«, brummte Stern.
»Die Züge fahren auf dieser Strecke in Abständen von etwa 30 Minuten. So lange hatte der Täter Zeit, das Opfer an den Gleisen festzubinden. Wahrscheinlich hat er es vorher betäubt oder bewusstlos geschlagen.« Grünbrecht deutete mit den Armen einen Hieb gegen den Kopf ihres Kollegen an.
»Sonst hätte sich das Opfer gewehrt, und es hätte wohl länger gedauert, es hier festzubinden«, ergänzte Kolanski Grünbrechts Ausführungen zum Tathergang.
»Als das geschafft war, hat der Täter nur noch darauf warten müssen, bis der Zug den Rest erledigt.« Grünbrecht stützte die Hände in die Hüften und betrachtete das Blutbad zu ihren Füßen.
»Zum Denken blieb dem Täter genügend Zeit. Er hat nicht im Affekt gehandelt, sondern wohlüberlegt und geplant. Schließlich hat er auch das Seil mit hierherbringen müssen«, schlussfolgerte Stern.
»Ein Täter, der einem Menschen so etwas antut, scheut nicht davor zurück, den Kopf als Trophäe mitzunehmen. Vielleicht montiert er ihn zu Hause auf eine Holzplatte, wie das die Jäger mit den Schädeln von Rehen so machen«, sagte Kolanski und erntete dafür sowohl von Grünbrecht als auch von Stern einen entsetzten Blick. »Ihr werdet schon sehen. Es gibt nichts, was es nicht gibt!«
»Welche Botschaft will der Täter uns damit vermitteln?«, überlegte Stern laut.
»Dass er gestört ist«, antwortete Gruppeninspektor Edwin Mirscher, der mit einer Plastiktüte in der Hand aus der Richtung des abgestellten Zuges kam und diese hochhielt.
»Was hast du da drinnen?«, wollte Stern wissen, obwohl er sich denken konnte, was das rötliche Fleischige in dem Beutel war.
»Zwei Füße und eine Hand«, antwortete Mirscher. Er legte den Plastiksack neben die enthauptete Leiche. »Jetzt fehlen nur noch der Kopf und die zweite Hand.«
Stern sah zu, wie die Männer der Spurensicherung das Seil durchschnitten, mit dem das Opfer an den Schienen festgebunden war und das bis jetzt den Körper an Ort und Stelle gehalten hatte. Der Leichnam entspannte sich daraufhin, als entwiche aus ihm Luft wie aus einer löchrigen Luftmatratze. Zwei Männer hievten den Toten in einen Sarg. Der Anblick erinnerte Stern an eine Puppe aus seiner Kindheit, der er den Kopf abgerissen hatte. Die Puppe hatte seiner Schwester gehört. Stern hatte den Kopf später mit einem Knödel aus Plastilin ersetzt – mit mehr oder weniger gutem Erfolg. Doch Plastilin würde hier nicht helfen. Die Männer verschlossen den Sarg und brachten ihn weg.
Stern schritt hinter ihnen her wie ein Trauergast bei einem Leichenzug, fehlte nur, dass er die Hände faltete und einen Rosenkranz betete. Und natürlich gab es keine örtliche Musikkapelle, die den Trauermarsch blies, wie es im Mühlviertel üblich war. An der Stelle, wo die Einsatzkräfte ihre Fahrzeuge abgestellt hatten, verließ er den Trauerzug und bog in Richtung Rettungswagen ab. Dort maß man dem Lockführer gerade den Blutdruck und versorgte ihn mit Kaffee. Nur zu gern tränke Stern jetzt auch Kaffee. Im Gegensatz zu dem unglücklich dreinblickenden Lockführer würde ihm das schwarze Gebräu sogar schmecken. Er unterließ es jedoch, danach zu fragen, und zückte seinen Dienstausweis. Sofort versteifte sich die Haltung des Mannes, der noch immer weiß im Gesicht war, als hätte er sich für einen Clownauftritt geschminkt. Bestimmt hatte er einen Schock erlitten. Stern lehnte sich neben ihm an die Trage.
»Ich bin Chefinspektor Oskar Stern vom Landeskriminalamt Oberösterreich. Können Sie schon darüber reden, was geschehen ist?«
Der Mann nickte. »Es ist kein Unfall gewesen«, stieß er heiser aus. »Das war Mord!« Der Mann sah Stern mit geweiteten Augen an, als sähe er einen Geist.
»Ich weiß. Erzählen Sie mir, was passiert ist.«
»Ich bin in Freistadt losgefahren. Durch die lang gezogene Kurve verliert man nicht viel an Geschwindigkeit, obwohl die Strecke nur bedingt einsehbar ist. Aber das ist im Normalfall kein Problem, wissen Sie, ist ja nicht wie im Straßenverkehr. Hätte ich gewusst, dass da einer liegt, wäre ich natürlich nicht so schnell gefahren.«
»Schon gut, es macht Ihnen keiner einen Vorwurf, Herr …«
»Meier. Manuel Meier.«
»Gut, Herr Meier. Was ist dann passiert?«
»Ich komme also dort um die Kurve und sehe ihn da liegen. Sie können sich nicht vorstellen, wie der mich angestarrt hat. Ich hab sofort eine Notbremsung eingeleitet, aber mit 70 Sachen ist das nicht einfach. Sie sehen ja selber, wo der Zug stehen geblieben ist.«
»Er hat also noch gelebt, bevor …«
»Ganz sicher! Diesen Blick werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen!«, rief Manuel Meier und richtete seine Augen gen Himmel, als könnte der Allmächtige seine Erinnerungen löschen.
Stern hingegen registrierte, dass der Mann demnach nicht bewusstlos gewesen war, wie sie zuvor spekuliert hatten, damit der Mörder ihn bequem an den Schienen hatte festbinden können. Er hatte dem heranrasenden Tod regelrecht ins Auge geblickt.
»Haben Sie an der Bahntrasse, am Rand der Strecke oder im Wald jemanden gesehen?«, hakte Stern nach.
»Sie meinen, außer den Toten?«
Stern nickte.
»Nein.«
»Sind Sie sicher?«
Manuel Meier überlegte kurz, bevor er antwortete: »Ich denke schon.«
In diesem Augenblick hörte Stern seinen Enkel rufen. »Opa!«
Nicht jetzt, dachte er und blickte sich nach Melanie und Tobias um. Während die Zwölfjährige vor Sterns Audi am Boden hockte und mit eingestöpselten Kopfhörern auf ihrem Smartphone herumwischte, war von Tobias nichts zu sehen.
»Opa!«, drang es erneut an Sterns Ohr, dieses Mal lauter.
»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte der Chefinspektor zu Manuel Meier und stieß sich eine Spur zu heftig von der Rettungstrage ab, sodass diese ins Wanken geriet. Meier hielt sich mit einer Hand fest, damit er nicht herunterfiel, und verschüttete dabei den Kaffee, den er mit der anderen umklammerte.
»Entschuldigung«, brummte Stern, während sein Blick bereits die Umgebung nach seinem Enkel absuchte. Um das Kaffeemalheur mussten sich andere kümmern, denn von Tobias war nichts zu sehen. Weder entdeckte Stern ihn in der Nähe seiner Schwester noch am Waldrand oder in der Zufahrt zu dem kleinen Wäldchen. Wo steckte der Bengel bloß?, schoss es ihm durch den Kopf und auch, dass er für diesen Kinderkram eigentlich zu alt war. Er war der Großvater und nicht der Vater, der ganz andere Fürsorgepflichten hatte! Nur noch wenige Jahre trennten ihn von seinem wohlverdienten Ruhestand und einem Leben ohne Stress, Mord und Totschlag. Obwohl so ein Fall wie dieser seine hin und wieder aufkommenden Pensionierungsängste zu verdrängen vermochte, musste er zugeben: Auf eine ganz bestimmte Weise fühlte er sich dann wieder jung und fit. Und gebraucht.
»Opa!«
Stern folgte den Rufen seines Enkels. Sie führten ihn zur Bahntrasse hinunter. Als Stern klar wurde, was das bedeutete, beschleunigte er den Schritt.
»Tobias?«, rief er.
»Ich bin hier«, kam es zwischen Unmengen an Brennnesseln und Gestrüpp hervor. Stern blinzelte und trat noch ein paar Schritte näher. Dann entdeckte er das blaue T-Shirt seines Enkels inmitten des meterhohen Grüns.
»Tobias, was machst du da?«, fragte er erleichtert, als er den Jungen am Boden hocken sah. Gott sei Dank ein gutes Stück vom Tatort entfernt.
»Er sieht mich an«, sagte Tobias, die Augen starr nach vorn gerichtet.
»Wer sieht dich an?«, wollte Stern wissen und blickte auf seine Armbanduhr. Er musste schnell zurück und die Befragung des Lockführers fortsetzen.
»Der Waldgeist.«
»Es gibt keine Geister, Tobias. Du bist für diesen Schei… äh … für diese Märchen zu alt. Komm jetzt! Ich muss noch …«
»Warum macht er die Augen nicht zu?«, fragte Tobias weiter, ohne sich von der Stelle zu rühren.
»Dann könnte er dich ja nicht ansehen«, antwortete Stern gereizt, wandte sich ab und machte sich ohne seinen Enkel auf den Weg zurück zum Rettungswagen. Wenn Tobias Geisterjäger spielen wollte, dann sollte er das seinetwegen tun. Dort bei den Brennnesseln konnte ihm nichts passieren, außer er fiel in sie hinein. Das wäre zwar unangenehm und zöge bestimmt viele Fragen von Barbara nach sich, doch die wären schnell beantwortet. Irgendwie. Vielleicht sollte er den Sanitäter doch um einen Becher Kaffee bitten …
»Aber er ist doch tot.«
Abrupt blieb Stern stehen. »Wie? Tot?«
»Der Waldgeist. Er ist tot, oder etwa nicht?« Tobias starrte in die Brennnesseln, die hier eindeutig über all das andere Grünzeug die Oberhand gewonnen hatten und die ganze Gegend mit einem unangenehm juckenden Teppich überzogen. Stern machte kehrt und kam zu seinem Enkel zurück. Wegen der Brennnesseln blieb er mehrere Meter hinter ihm stehen und spähte von dort über dessen Schulter. Außer einem Dickicht aus Urticapflanzen sah er nichts weiter.
»Wo ist er?«, fragte er Böses ahnend.
»Dort!« Tobias wies mit dem ausgestreckten Arm in das Unterholz. Stern, der sich schon gefragt hatte, wie der Junge überhaupt dorthin gelangt war, ohne unzählige Male gebrennnesselt worden zu sein, trat vorsichtig die Urticas zur Seite und näherte sich Tobias. Als er ihn erreichte, bückte er sich zu ihm hinab, um denselben Blickwinkel zu haben wie er … Und dann sah er ihn! Er sah den Waldgeist seines Enkels! Und den Kopf des Opfers! Die Augen weit aufgerissen und den Mund zu einem Schrei geformt, der wahrscheinlich in der letzten Sekunde seiner Kehle entrissen worden war, bevor ihn der Zug überrollt hatte. Ein Schrei von allen ungehört. Außer vielleicht vom Täter.
Sofort legte Stern die Hand auf Tobias’ Augen.
»Aber Opa, ich hab ihn doch schon gesehen, bevor du gekommen bist«, rief Tobias entrüstet und befreite sich von seinem Großvater.
»Das ist nichts für dich«, brummte Stern. Er zog seinen Enkel hoch, weg von der Stelle, wo der vermeintliche Waldgeist unaufhörlich Löcher ins Gestrüpp starrte. Das würde er so lange tun, bis ihn jemand davon erlöste. Dieser Jemand sollte Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht sein, beschloss Stern.
»Grünbrecht!«, rief er nach der Kollegin, die sofort herbeieilte und sich dorthin wandte, wohin Stern kommentarlos mit dem Finger zeigte. Dass ihr Chef seinen Enkel von der Stelle wegzerrte, war Erklärung genug.
»Hab ich dir und deinen Kollegen helfen können?«, fragte Tobias, während Stern ihn neben den Lokführer auf die Trage des Rettungswagens hob und einen Becher Tee für den Jungen und für sich selbst einen gefüllt mit Kaffee orderte. Der Sanitäter verdrehte die Augen und meinte, dass dies keine Cafeteria sei. Doch als Stern eine Erklärung folgen ließ, die beinhaltete, dass der Junge möglicherweise einen schweren Schock erlitten habe, weil er den Kopf der Leiche gefunden hatte, waren Tee und Kaffee umgehend im Anmarsch.
»Du hast uns sehr geholfen«, antwortete Stern und packte Tobias beidseitig an den Schultern. Er sah ihm tief in die Augen, um herauszufinden, wie es dem Jungen ging. Anscheinend hatte er den Anblick des abgetrennten Kopfes gut überstanden. »Jetzt können wir die Lei… äh, den Waldgeist wahrscheinlich identifizieren.«
»Toll!« Tobias strahlte übers ganze Gesicht. Das wunderte Stern. So ein Anblick müsste doch Spuren im Gemüt des Neunjährigen hinterlassen haben, ihn zum Weinen bringen, ihn sich übergeben oder zumindest sich fürchten lassen.
»Untersuchen Sie ihn!«, befahl Stern dem Sanitäter. »Herz, Kreislauf, alles, was dazugehört. Ich will, dass Sie alles an ihm checken. Sogar den kleinen Zeh!«
»Aber Opa, mir fehlt gar nichts«, widersetzte sich Tobias den Anweisungen des Großvaters und sprang von der Trage herunter.
»Das weißt du doch gar nicht«, erwiderte Stern und verfrachtete seinen Enkel zurück in den Rettungswagen. Zumindest war er dort für die nächsten Minuten sicher und es war gewährleistet, dass er nicht auch noch die fehlende abgetrennte Hand fand. »Du lässt dich jetzt von dem netten Herrn untersuchen und danach fahren wir auf ein Eis.«
»Versprochen?«, quiekte Tobias aufgeregt. Zuerst eine Leiche und dann ein Eis – das war der Jackpot für den Neunjährigen! Freudig streckte er seinem Großvater die Hand entgegen.
Der schlug ein und sagte: »Versprochen!« Danach wandte er sich ab und überließ Tobias dem Sanitäter, der sich sofort um den Jungen kümmerte.
Stern ging zurück zu Mara Grünbrecht und jener Stelle, an der Tobias den Kopf des Opfers gefunden hatte. Nun steckte er in einem Plastikbeutel und sah aus wie ein Dekorationsstück aus der Geisterbahn des Wiener Praters.


